Die Gewerbsmäßigkeit als Arme-Leute-Strafrecht
Ausweislich des Anfang November 2024 veröffentlichten Verteilungsberichts des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung hat die Quote der in Armut lebenden Menschen in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. Dabei wirkt sich Armut – neben vielen anderen Bereichen – auch im Strafrecht erheblich negativ auf die Betroffenen aus. Wer sich in Deutschland wegen einer Straftat vor Gericht verantworten muss, tritt Richtern gegenüber, die geschworen haben, „ohne Ansehen der Person“ zu urteilen. Dieser in § 38 DRiG vorgeschriebene Eid ist Ausdruck des zentralsten Grundsatzes des Rechtsstaates. In Art. 3 Abs. 1 GG heißt es ausdrücklich: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Nach dem Gleichheitsgrundsatz darf insbesondere die gesellschaftliche Stellung einer Person bei der Festsetzung ihrer Strafe weder Vor- noch Nachteil begründen. Dabei bestimmen im Wesentlichen die finanziellen Verhältnisse die gesellschaftliche Stellung. Mit Blick auf die finanziellen Verhältnisse der Personen bricht die Praxis der (Straf-)Rechtsanwendung jedoch regelmäßig mit diesem zentralen Versprechen des Rechtsstaates. Konkret geht es um die Frage, wann das Tatbestandsmerkmal der Gewerbsmäßigkeit bei ärmeren Menschen einschlägig ist.
Wie sich Vermögensverhältnisse in der Strafrechtspraxis auswirken
Gesetzgeber und Rechtsprechung bemühen sich, der angestrebten Gleichheit vor dem Gesetz in einer zutiefst vermögensungleichen Gesellschaft Rechnung zu tragen. So verhängen Gerichte Geldstrafen in Gestalt von Tagessätzen, wobei ein Tagessatz der Höhe des täglichen Einkommens entspricht. Auch Zahlungsauflagen bei Verfahrenseinstellungen werden unter Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse festgesetzt. Ratenzahlungen sollen den Umstand ausgleichen, dass Menschen mit geringem Einkommen nichts ansparen können. Strafe soll dadurch möglichst unabhängig vom Einkommen wirken. So berücksichtigt die konkrete Strafzumessung und -vollstreckung durchaus die Erkenntnis, dass die Gleichbehandlung von Ungleichem nicht immer zu der von der Verfassung erstrebten Gleichheit führt. Anders sieht es jedoch aus auf Ebene des Tatbestandes: Es gibt gesetzliche Bestimmungen, welche die erhöhte Strafbarkeit einiger Verhaltensweisen schon auf Tatbestandsebene an die Einkommensverhältnisse des Täters knüpfen. So sieht das Gesetz etwa beim Diebstahl oder dem Drogenhandel höhere Strafen vor, wenn ein „besonders schwerer Fall“ vorliegt. Dieser Fall soll u. a. dann vorliegen, wenn die Tat gewerbsmäßig begangen wird. Eine Tat begeht gewerbsmäßig, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen will. Der Umfang der Einnahmequelle wird dabei anhand des Verhältnisses zum sonstigen Einkommen des Täters bemessen. Das Einkommen kann daher erheblichen Einfluss darauf haben, ob ein besonders schwerer Fall vorliegt oder nicht. Denn mit der Höhe des Einkommens steigt auch der Tatertrag, der für die Annahme der Gewerbsmäßigkeit erforderlich ist. Bei niedrigem Einkommen hingegen kann bereits ein geringer Tatertrag die Annahme der Gewerbsmäßigkeit begründen. Selbst bei (legalen) monatlichen Einkünften i. H. v. 1.430 Euro und einem Gewinn i. H. v. 55 Euro aus Drogengeschäften kann sich die Rechtsprechung nicht dazu durchringen, eine Gewerbsmäßigkeit von vornherein auszuschließen (siehe OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 15.01.2016 – 1 Ss 364/15). Dies kann dazu führen, dass die Gewerbsmäßigkeit einer Tat bereits bei geringem Tatertrag angenommen wird, wenn der Täter ansonsten kein oder kaum Einkommen hat. Beim Diebstahl und einigen weiteren Delikten gilt für den Tatertrag über § 243 Abs. 2 StGB eine Mindestgrenze von ca. 25 Euro. Beim gewerbsmäßigen Handel mit Drogen hingegen besteht nicht einmal diese Grenze. Dabei wirkt sich gerade bei Drogenhandel eine Verurteilung wegen Gewerbsmäßigkeit drastisch aus: Bei einem solchen besonders schweren Fall nach § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtMG verschiebt sich der Strafrahmen erheblich. Statt der Geldstrafe sieht das Gesetz dann eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vor. Schon der Verkauf von Kleinstmengen an Drogen für zweistellige Geldbeträge kann nach der Rechtsprechung gewerbsmäßig sein. Dies gilt auch dann, wenn der Drogenverkauf in erster Linie den eigenen Drogenkonsum finanzieren soll.
Reale Ungleichheit in der Strafhöhe
Wer kaum oder kein Einkommen hat, kann also aus diesem Grund härter bestraft werden. Ein Täter, der sein Einkommen durch das Sammeln von Pfandflaschen bestreitet, kann beispielsweise bereits beim Diebstahl von Lebensmitteln im Wert von 40 Euro gewerbsmäßig handeln. Es genügt, dass sich der Täter damit das Geld für den käuflichen Erwerb spart. Dass die entwendeten Lebensmittel nur für den eigenen Verzehr bestimmt waren, ändert daran nichts. Entgegen der geläufigen Interpretation des Begriffes Gewerbsmäßigkeit setzt dieser juristisch nämlich nicht voraus, dass das Diebesgut weiterverkauft wird. Einem besserverdienenden Täter hingegen würde bei identischer Tat die Gewerbsmäßigkeit nicht zur Last fallen und kein besonders schwerer Fall genommen werden. Konkret kann dies bedeuten, dass ein Täter ohne Einkommen härter bestraft wird als derjenige, der die gleiche Tat begeht und über ein monatliches Einkommen i. H. v. 2000 Euro oder mehr verfügt. Bei Letzterem würde eine Gewerbsmäßigkeit wegen der Relation zu dem sonstigen Einkommen wohl ausscheiden. Es gilt also: je niedriger das Einkommen des Täters, desto eher wird Gewerbsmäßigkeit angenommen. Die in Art. 3 Abs. 1 GG statuierte Gleichheit vor dem Gesetz ist spätestens jetzt nicht mehr gewahrt.
Gerichte machen aus dieser Ungleichheit oft auch keinen Hehl. Gerne wird dann darauf verwiesen, dass besserverdienende Menschen derartige Taten nicht begehen würden. Jedoch entlarven gerade solche Hinweise, dass das Tatbestandsmerkmal der Gewerbsmäßigkeit insbesondere vor den Amtsgerichten häufig die ärmsten Täter ins Visier nimmt. Der Richterschaft ist also durchaus bewusst, dass sich eine wirtschaftliche Notlage hier in erster Linie strafschärfend und nicht etwa mildernd auswirkt. Die erwähnte Entscheidung des OLG Frankfurt bzgl. der Gewinne aus Drogenverkäufen i. H. v. 55 Euro zeigt auf, dass das Problem keineswegs bloß theoretischer Art ist.
Von Berufsverbrechern und grundlosen Taten
Historisch geht die erhöhte Strafe für gewerbsmäßiges Handeln auf das Ansinnen zurück, so die sogenannten Berufsverbrecher ins Visier zu nehmen. Die aktuelle Gesetzeslage und die diese umsetzende Rechtsprechung schießen über dieses Ziel weit hinaus. Insbesondere ist anerkannt, dass der Tatertrag gerade nicht die Haupteinnahmequelle des Täters zu sein braucht. Wer davon ausgeht, dass ein gewerbsmäßiger Täter nur sein könne, wer der ehrlichen Arbeit endgültig den Rücken gekehrt hat, der irrt. Die Gewerbsmäßigkeit setzt nicht voraus, dass der Täter den Entschluss getroffen hat, seinen Lebensunterhalt überwiegend aus Straftaten zu bestreiten. Wer aber überwiegend von – wenn auch geringen – legalen Einkünften lebt, sollte nicht als gewerbsmäßig handelnder Täter gelten. Zumal die Annahme der Gewerbsmäßigkeit auch keine wie auch immer geartete professionelle Tatbegehung verlangt.
Rechtspolitisch lässt sich nicht begründen, warum die erhöhte Strafbarkeit wegen Gewerbsmäßigkeit vom Einkommen abhängt. Es ließe sich sogar gegenteilig argumentieren: Wer einen anderen beklaut oder Drogen verkauft, obwohl er selbst aus anderen Einkommensquellen genug zum Leben hat, handelt verwerflicher als derjenige, dem ansonsten nichts zur Verfügung steht. Eine solche Wertung ist der Rechtsprechung in Deutschland grundsätzlich auch nicht fremd. Diese sieht schließlich regelmäßig „anlasslose“ oder „grundlose“ Tatbegehung als besonders verwerflich an. Ähnlich verhielte es sich doch mit einem Täter, der ohne wirtschaftliche Not zur eigenen Bereicherung das Recht bricht.
Armut abschrecken?
Die erhöhte Strafandrohung wird unter anderem damit begründet, dass bei gewerbsmäßiger Begehung der immanenten erhöhten Wiederholungsgefahr entgegengewirkt werden müsse. Gleiches gelte für die Rückfallgefahr, die ebenfalls erhöht sei. Dabei kann die aktuelle Rechtslage auch jene, die mit Strafe abschrecken und somit der Prävention dienen wollen, nicht zufriedenstellen. Wer aus Armut heraus Straftaten begeht, wird damit am ehesten aufhören, wenn er nicht mehr arm ist. Eine (höhere) Strafe hingegen wird bei andauernder materieller Notlage nur – wenn überhaupt – begrenzte Wirkung entfalten können. Was für Armut gilt, trifft erst recht auf die Abhängigkeit von Suchtmitteln zu. Wer etwa Lebensmittel stiehlt, weil er das wenige vorhandene Geld für Drogen benötigt, wird sich durch eine höhere Strafe nicht davon abhalten lassen. Ein Blick in die Haftanstalten zeigt, dass Abhängigkeit allein die Betroffenen keineswegs vor der Strafhaft bewahrt, etwa wegen Schuldunfähigkeit oder weil eine Therapie vorzuziehen ist. Wer hingegen nicht aus eigener Notlage wie Armut oder Abhängigkeit Straftaten begeht, dürfte schon eher nach eigener rationaler Abwägung der materiellen Vorteile einer Tat und der damit verbundenen Strafandrohung entscheiden, diese nicht zu begehen.
Mögliche Auswege
Bei Diebstahlsdelikten wäre es möglich, die Entwendung von Verbrauchsmitteln auch dann von der Anwendung des Regelbeispiels auszunehmen, wenn die Wertgrenze der Geringwertigkeit überschritten ist. Alternativ wäre auch zweckmäßig, dass die Rechtsprechung die Wertgrenze anhebt. Aufschlussreich ist außerdem ein Blick nach Österreich. Dort ist die Gewerbsmäßigkeit in § 70 ÖStGB legaldefiniert. Für die Annahme einer gewerbsmäßigen Tatbegehung ist hier „ein nicht bloß geringfügiges fortlaufendes Einkommen“. Dieses wird in Abs. 2 definiert: „Ein nicht bloß geringfügiges fortlaufendes Einkommen ist ein solches, das nach einer jährlichen Durchschnittsbetrachtung monatlich den Betrag von 400 Euro übersteigt.“ Eine solche Grenze würde immer noch „Minijobber-Verbrecher“ und nicht bloß Berufsverbrecher umfassen. Sie würde es aber immerhin ermöglichen, Straftaten aus dem Bagatellbereich von der Gewerbsmäßigkeit auszunehmen. Denkbar wäre auch, diejenigen Täter von der Anwendung auszuklammern, die nachweislich unter dem Existenzminimum leben. Denn wie gezeigt dürfte gerade bei solch gravierender Armut die individuelle Schuld niedriger wiegen. Konsequent wäre es, alternativ für eine gewerbsmäßige Begehung darauf abzustellen, dass die konkrete Straftat zu denen gehört, mit welchen der Täter mindestens die Hälfte seines Einkommens bestreitet. Es dürfte der Lobbylosigkeit der Betroffenen geschuldet sein, dass die Benachteiligung einkommensschwacher Täter durch die aktuelle Rechtslage bisher weitestgehend mit einem Schulterzucken hingenommen wird. Wer es aber mit der Gleichheit vor dem Gesetz ernst meint, sollte sich zumindest des Problems bewusst sein – unabhängig davon, wo man im Gerichtsaal Platz nimmt. Konkret liegt der Ball zunächst bei den Strafrichtern am Amtsgericht, unter Berücksichtigung der Lebenssituation der Angeklagten nicht vorschnell von einer – gesetzlich nicht näher definierten – Gewerbsmäßigkeit auszugehen. Wenn sich dazu schon nicht durchgerungen werden kann, sollte zumindest die Regelwirkung der Gewerbsmäßigkeit als besonders schwerer Fall nicht angenommen werden.