09 December 2018

Gleich meint gleich! Warum sich Sozial­leistungen (auch) für Geflüchtete nicht ohne Weiteres kürzen lassen

Das Projekt Mindestsicherungsreform scheint keinen guten Stern zu finden. Am 21.11.2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Bestimmungen des Oberösterreichischen Mindestsicherungsgesetzes (Oö MindestsicherungsG) für unionsrechtswidrig erklärt (Rechtssache Ayubi, C-713/17).  Bereits im März 2018 hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) seine Bedenken gegen das Niederösterreichische Mindestsicherungsgesetz (NÖ MSG) in eine teilweise Aufhebung des Gesetzes münden lassen.

Die beanstandeten Bestimmungen hatten eines gemeinsam: Sie sahen eine Kürzung der Mindestsicherungsansprüche für Asylberechtigte vor. Eine Stoßrichtung, die sich nicht nur in österreichischen Landesgesetzen findet, sondern auch für ein offenes Ziel der aktuellen Bundesregierung steht. Man* wolle ein einheitliches Bundesgesetz schaffen und, so die Rede, die (wohlfahrtsstaatliche) ‚Attraktivität Österreichs‘ und darüber die Immigration senken. Bei den bestehenden Kürzungsmodellen der Länder sollten dafür Anleihen genommen werden. Mit den beiden Entscheidungen des EuGH und des VfGH wurden dem politischen Handlungsspielraums allerdings gleichheitsrechtliche Schranken gesetzt.

EuGH, 21.11 .2018, C-713/17, Ayubi

In der Entscheidung geht es um zwei Rechtsbereiche, die dieser Tage gern politisch verknüpft werden: Asyl- und Sozialrecht. Zu wissen gilt, dass in Österreich mit der Novelle BGBl I 2016/24 das so genannte Asyl auf Zeit eingeführt wurde. Seither vermittelt die Asylberechtigung zunächst eine befristete Aufenthaltsberechtigung von 3 Jahren (§ 3 Abs 4 Asylgesetz 2005 (AsylG)). Liegen die Asylvoraussetzungen nach Ablauf dieses Zeitraums weiter vor, wandelt sie sich in eine unbefristete. Diese Asyl-auf-Zeit-Regelung hat die oberösterreichische Landesgesetzgebung als Anknüpfungspunkt genommen, um in den ersten drei Jahren den Bezug der Mindestsicherung nur in reduziertem Ausmaß zu gewähren (für eine Einzelperson zwischen € 405 und € 560/Monat statt € 921,30). Es wird auch von einer ‚Wartefrist‘ gesprochen.

Dem hat der EuGH eine relativ knappe Absage erteilt: Dazu verweist er auf Art 29 Abs 1 der RL 2011/95/EU (QualifikationsRL). Diese Bestimmung stehe nationalen Regelungen entgegen, die vorsehen, dass „Flüchtlinge, denen in einem Mitgliedstaat ein befristetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wurde, geringere Sozialhilfeleistungen erhalten als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats und als Flüchtlinge, denen dort ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuerkannt“ wurde. Als Ungleichheiten verbietende Vorschrift ist Art 29 Abs 1 QualifikationsRL darüber hinaus unmittelbar anwendbar, wie der EuGH feststellt. Betroffene können sich im nationalen Verfahren also unmittelbar auf die unionsrechtliche Unzulässigkeit berufen.

Wirft man* einen Blick auf auf Art 29 Abs 1 QualifikationsRL, erscheint diese Entscheidung vorerst wenig überraschend. Dort heißt es: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Personen, denen internationaler Schutz [Asyl- oder subsidiäre Schutzberechtigung] zuerkannt worden ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, die notwendige Sozialhilfe wie Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats erhalten“. Mit Gewährung der Asylberechtigung greift also das Gleichbehandlungsgebot und Österreich hat gleichberechtigten Zugang zur Mindestsicherung zu eröffnen.

Strittig war in der Rechtssache Ayubi die Höhe dieser Mindestsicherung beziehungsweise der Bedeutungsgehalt der Formulierung ‚notwendige Sozialhilfe‘: Wäre es denkbar, dass hier zwischen Pflicht und Kür unterschieden werden dürfe? Dass das Gleichbehandlungsgebot nur eine notwendige Mindestgröße beträfe und dass diese Mindestgröße mit € 405/Monat bereits erreicht wäre?

Die erste Frage – ob der Begriff notwendig Kürzungen per se zulässig macht – ist im systematischen Zusammenhang der gesamten Bestimmung des  Art 29 QualifikationsRL zu sehen: Abs 1 leg.cit. normiert den Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen international Schutzberechtigten und Staatsangehörigen, Abs 2 erklärt es für zulässig, Leistungen für subsidiär Schutzberechtigte auf  „Kernleistungen“ zu beschränken. Die oberösterreichische Landesgesetzgebung hat sich in diesem Zusammenhang – wie einem Ausschussbericht zu entnehmen ist – an einer „korrigierenden Auslegung“ versucht, die „Interpretationsspielräume in einer ausdehnenden Weise“ nutzen wollte. Dazu hat sie entlang der gedanklichen Trias notwendige Sozialleistungen – Kernleistungen – Asyl auf Zeit eine Gemeinsamkeit geschaffen: Sowohl Asylberechtigte als auch subsidiär Schutzberechtigte (gem § 8 Abs 4 AsylG) seien eine Personengruppe, der „nach einem Asylverfahren kein dauerndes Aufenthaltsrecht im Inland zukommt“ (siehe in diesem Sinn § 4 Abs 3 Öo Mindestsicherungsgesetz). Diese Gruppe sollte – mangels dauernden Aufenthaltsrechts – geringere (notwendige oder Kern-)Leistungen erhalten. Anders gesagt wurde hier eine ‚neue‘ Vergleichsgruppe eröffnet, worüber die drohende Diskriminierungskonstellation umschifft werden sollte.

Der EuGH hat diese Lesart zurückgewiesen: Wäre es schon nach Art 29 Abs1 QualifikationsRL möglich, sowohl für Asyl- als auch für subsidiär Schutzberechtigte Leistungen zu kürzen, wäre die Kernleistungsregelung des Art 29 Abs 2 QualifikationsRL „jeder praktischen Wirksamkeit“ (Rn 23) beraubt, wie er festhält. Bemerkenswert ist, dass der EuGH seine Beurteilung des Art 29 QualifikationsRL explizit auch im Kontext des Art 23 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) versteht (Rn 24). Als primärrechtliche Interpretationsgrundlage im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erfährt die Konvention damit an dieser Stelle eine Stärkung (siehe auch Art 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Art 23 GFK sieht vor, dass die „vertragschließenden Staaten […] den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen gewähren“. Damit lässt sich die oberösterreichische Regelung aus Sicht des EuGH nicht in Einklang bringen. Mit dieser Position befindet sich der Gerichtshof – wie sich bei James Hathaway nachlesen lässt – auf Linie mit den vertragsverhandelnden Staaten der GFK. Nach einer Auseinandersetzung mit den travaux préparatoires gelangt Hathaway zu folgendem Schluss:

„Not only are refugees entitled to access all of the same public relief and assistance benefits provided to citizens, but they may not be denied that relief or assistance on the grounds that under a particular country’s system such benefits are provided only to citizens with a close affiliation to a particular region or community. Indeed, the drafters formally recorded the view that ‚refugees should not be required to meet any conditions of local residence or affiliation which may be required of nationals‘’. (S 808-811)

Die zweite Frage – ob eine notwendige Sozialhilfe mit den angesprochenen € 405/Monat abgedeckt wäre – erübrigt sich vor diesem Hintergrund: Österreichische Staatsangehörige haben als Einzelpersonen einen Anspruch auf € 921,30 und in dieser Höhe steht auch auch Asylberechtigten Mindestsicherung zu. Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass die Armutsgefährdungsschwelle in Österreich nach der EU-Statistik EU-SILC 2017 für Einzelpersonen bei € 1.238/Monat liegt. € 405 liegen weit unter der Hälfte dieses Betrags; es ist also zumindest fragwürdig, ob die notwendige sozio-ökonomische Mindestsicherung in diesem Fall noch gewahrt ist. Aus österreichischer Verfassungsperspektive formuliert (VfGH 7.3.2018, G 135/17): „Ist in einem von Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung.“ Vereinfacht gesagt: Untergräbt sich ein Mindestsicherungsgesetz selbst, kann das verfassungsrechtlich problematisch sein.

VfGH, 7.3.2018, G 136/17

Ein wenig anders stellte sich die Ausgangslage in der zitierten Entscheidung des VfGH dar; er war nicht mit Oberösterreich befasst, sondern mit Niederösterreich (Näheres dazu bei Kevin Fredy Hinterberger).Verfahrensgegenständlich waren damals die § 11a und § 11b NÖ MSG. Ersterer sah für Personen, die sich in den letzten sechs Jahren vor Antragstellung weniger als fünf Jahre in Österreich aufgehalten hatten, einen geringeren Mindestsicherungsbezug vor. Gem § 11b NÖ MSG wurde die Mindestsicherung pro Haushalt mit € 1.500 gedeckelt, unabhängig von der Anzahl der dort wohnenden Personen.

§ 11a NÖ MSG normierte also, wie die oberösterreichische Regelung, eine ‚Wartefrist‘ und knüpfte sie an die Aufenthaltsdauer. Im Unterschied zu Oberösterreich wurde aber nicht zwischen österreichischen Staatsbürger*innen und Asylberechtigten differenziert. Adressat*innen waren überhaupt alle, entscheidend war einzig die Aufenthaltsdauer. Faktisch waren freilich auch hier in erster Linie Geflüchtete betroffen. Das lässt sich bereits anhand der gesetzlich vorgesehenen Verfahrensdauern illustrieren: Für das ordentliche Asylverfahren sieht die österreichische Rechtslage eine Dauer von maximal 21 Monaten vor (§ 22 Abs 1 AsylG, § 21 BFA-Verfahrensgesetz, § 34 Abs 1 VwGVG). Bei gesetzmäßiger ordentlicher Asylverfahrensführung ergibt sich für Asylberechtigte daraus ein Ausschluss vom regulären Mindestsicherungsbezug für mindestens 39 Monate, da sie sich erst seit maximal 21 Monaten in Österreich befinden. Der niederösterreichische Landesgesetzgeber ging mit dieser Intention auch relativ unverblümt um: „Damit soll einerseits das System vor Überlastungen geschützt werden, andererseits soll ein klares Zeichen nach außen gesetzt werden, um die Attraktivität Österreichs als Zielregion für Flüchtlinge einzudämmen“.

Der VfGH hob die niederösterreichische ‚Wartefrist‘ als nicht zu rechtfertigenden Verstoß gegen den Gleichheitssatz auf; sowohl mit Blick auf österreichische Staatsbürger*innen, als auch auf Asylberechtigte. Insbesondere wies der VfGH unter Verweis auf Art 23 GFK, Art 29 AufnahmeRL und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 27.9.2011, Bah, 56328/07 darauf hin, dass Asylberechtigte nicht ‚einfach‘ in ihren Herkunftsstaat zurückkehren könnten. Sie einer ‚Wartefrist‘ auf (vollumfängliche) Mindestsicherung zu unterwerfen, ist aus Sicht des VfGH daher unsachlich und verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen (die Argumentation erinnert an diesem Punkt an den Vulnerabilitätsbegriff des EGMR in M.S.S., 21.01.2011, 30696/09).

Auch die Deckelung der Mindestsicherung in § 11b NÖ MSG hob der VfGH im März 2018 auf. Er sah den Zweck der Mindestsicherung „ab einer bestimmten Haushaltsgröße“ unterwandert. Es liege eine „systemimmanente Unsachlichkeit“ vor und die Bestimmung sei daher verfassungswidrig.

Gleichklang von Verfassungs- und Unionsrecht?  Rückblick und Ausblick

Zusammengefasst zeigt sich, dass verfassungs- und unionsrechtliche Grundlagen hier einen ähnlichen Grundton treffen. Für Asylberechtigte ist hervorzuheben: (1) Ungleichbehandlungen gegenüber Staatsbürger*innen sind ebenso unzulässig wie (2) Ungleichbehandlungen, die ausschließlich auf die Aufenthaltsdauer abstellen. Aus Sicht ihrer Sicht hat das Jahr 2018 damit grundlegende Klarstellungen im Zugang zur Mindestsicherung gebracht. Die österreichische Bundesregierung ist nun gehalten, ihren legistischen Anlauf für eine bundesweite Regelung mit diesen Vorgaben in Einklang zu bringen; mit konkreten Vorschlägen kann für den Beginn des nächsten Jahres 2019 gerechnet werden.

Weniger harmonisch könnte sich das Verhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht im Bereich der subsidiär Schutzberechtigten entwickeln. Sie bilden mit den Asylberechtigten gemeinsam die Gruppe der international Schutzberechtigten (siehe Art 2 lit a QualifikationsRL). Wie angesprochen, eröffnet Art 29 Abs 2 QualifikationsRL die Möglichkeit, Leistungen für subsidiär Schutzberechtigte auf Kernleistungen zu beschränken, diese sind aber „im gleichen Umfang und unter denselben Voraussetzungen wie für eigene Staatsangehörige zu gewähren“. In Österreich zeichnet sich auf dieser Grundlage eine scharfe Trennung zwischen Asylberechtigten und subsidiär Schutzberechtigten ab. So haben letztere in Niederösterreich etwa nur Anspruch auf Zugang zur Grundversorgung (§ 5 Abs 2 Z 4 NÖ MSG). Es handelt sich dabei um das während des Asylverfahrens geltende – empfindlich niedriger angesetzte – Sozialleistungssystem. Für subsidiär Schutzberechtigte ändert sich nach positivem Asylverfahrensabschluss also in diesem Punkt – im Gegensatz zu Asylberechtigten – nichts. Der VfGH hat diese Gesetzesregelung im Juni 2017 für verfassungskonform befunden. Ein Spannungsfeld könnte sich aus unionsrechtlicher Sicht eröffnen: Art 29 Abs 2 QualifikationsRL macht die Differenzierung zwischen Asyl- und subsidiär Schutzberechtigten zwar grundsätzlich zulässig. Gleichzeitig ist die Bestimmung aber in eine Systematik eingelassen, die mit dem Begriff des internationalen Schutzes mehr auf eine Angleichung der Schutzformen abzielt, denn auf ein ‚Auseinanderdriften‘ (Siehe zuletzt Nula Frei zu