Globuli oder lebensrettende Behandlung? Zur Wirkung von Klimaklagen
Eine Replik auf Bernhard Wegener
Vorbildlich hat Bernhard Wegener seine Kinder auf deutschen Spielplätzen gegen Globuli bei Wehwehchen geschützt. Schließlich ist gerade das Glaubenwollen an oder von etwas, das so gar keine (wissenschaftlich erwiesene) Wirkung hat, ein gefährlicher Schritt Richtung Desinformation, die dann wiederum den Boden für Verschwörungsmythen, Fake News und Populismus bereiten kann. Auf der anderen Seite werden aber wohl die wenigsten Eltern einem todkranken Kind nicht alle Hilfe zukommen lassen wollen, die ihm helfen könnte – selbst, wenn ein einzelnes Medikament allein nicht für Heilung sorgt.
Mit dem Klima ist es so ähnlich. Diejenigen, die sich zu seiner Rettung berufen fühlen, versuchen verschiedene Strategien, um das 1.5°C-Ziel einzuhalten. Es ist sicher illusorisch zu glauben, dass Klimaklagen ein Allheilmittel zur Rettung des Planeten sind (was aber in der Regel weder die Kläger*innen noch NGOs tun). Illusorisch ist aber auch, zu glauben, dass das erkrankte Klima von allein wieder gesunden wird in einer Welt, die trotz aller Regierungsversprechungen derzeit auf eine Erwärmung von 2.7°C zusteuert.
Insofern ist der Gang vor Gericht naheliegend. Gerade Verfassungsgerichte wie das Bundesverfassungsgericht haben auch schon vor der Klimakrise in Fällen mit politischen Bezügen entschieden. Diese „judicalization of mega politics“ (Hirschl) hat auch damit zu tun, dass viele Menschen neutralen Gerichten, besetzt mit Richter*innen, die meist nicht um ihre Wiederwahl fürchten müssen, grundlegende Fragen des politischen und sozialen Zusammenlebens eher anvertrauen als machtorientierten und Kurzzeitinteressen verschriebenen Politiker*innen.
Papierne Planung oder Beachtung der Gewaltenteilung?
Wegener kritisiert zunächst, dass sowohl der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als auch das Urteil des EGMR bloße „papierne Planung“ seien, da aus ihnen keinerlei konkrete Klimaschutzplanung folge. Dies ist allerdings kein Schwachpunkt der Entscheidungen. Zunächst einmal ist der EGMR schon recht konkret geworden: demnach besteht die staatliche Hauptpflicht darin, „Regelungen und Maßnahmen zu beschließen [die geeignet sind, die bestehenden und potenziell unumkehrbaren künftigen Auswirkungen des Klimawandels abzumildern] und in der Praxis wirksam anzuwenden“ (Rn. 508). Diese Maßnahmen müssen zur wesentlichen und schrittweisen Verringerung der Treibhausgasemissionen führen, um grundsätzlich innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte Klimaneutralität zu erreichen (Rn. 548). Darüber hinaus ist es aber unter dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht Aufgabe der Gerichte, festzulegen, wie die anderen Gewalten dem Rechtsverstoß abhelfen sollen. Oft ist die Forderung laut geworden, dass Gerichte in klimapolitischen Prozessen nicht entscheiden sollen, da sie ihre Kompetenzen überschreiten und somit verbotene Klimapolitik machen würden. Einige Gerichte haben aus diesem Grund Klimaklagen abgewiesen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Klimawandel um ein polyzentrisches Problem – ähnlich wie bei einem Spinnennetz kann das Ziehen an einem Faden Auswirkungen auf das gesamte Netz haben. Diese Auswirkungen können die Gerichte nicht überblicken, sie müssen es aber auch nicht. Denn ihre Funktion – und das stellt der EGMR auch noch einmal explizit heraus – ist nur die Feststellung des Rechtsbruchs, das „Ob.“ Damit ist nur gesagt, dass ein Staat mehr gegen den Klimawandel tun muss – wie er das tut, bleibt grundsätzlich dem (demokratisch legitimierten) Gesetzgeber überlassen. Die Wahrung dieses Ermessenspielraums steht gerade bei den Schutzpflichten im Vordergrund (Rn. 541). Ein Blick in die Rechtsprechung des BVerfG zeigt aber, dass es für das Gericht durchaus Möglichkeiten gibt, eine konkrete Rechtsfolge herbeizuführen, wenn der Gesetzgeber eine Entscheidung nicht umsetzt.
Das Shell-Urteil ist gemäß Wegener zwar eine konkrete Klimaschutzplanung, aber auch „rechtlich und rechtspolitisch unvertretbar und hochgefährlich“, da das Unternehmen anschließend seinen Hauptsitz nach London verlegt habe und das Urteil somit wirkungslos sei. Emissionsverlagerung ist tatsächlich ein Problem, dem die EU etwa durch die Einführung des CO2-Grenzausgleichssystems zu begegnen versucht. Es gilt aber zu bedenken, dass Shell auch in Großbritannien nicht notwendigerweise „sicher“ vor Klimaklagen ist – und von Aktionär*innen aus Angst vor weiteren marktschädigenden Klagen sowie von klimaaktivistischen Minderheitsaktionär*innen Druck ausgeübt wird, um Emissionen zu senken. Darüber hinaus hat Shell sich selbst dahingehend geäußert, Maßnahmen zu ergreifen, um dem Urteil Folge leisten. Schon heute gilt: es gibt für „Big Oil“ keinen „safe haven“ vor Klimaklagen.
China und Russland? Das „drop in the ocean“-Argument
Aber auch die übrigen Kritiken sind zumindest diskussionswürdig. Wegener bezweifelt die Wirksamkeit von Klimaklagen angesichts der fehlenden unabhängigen und hinreichend effektiven Justiz in den klimapolitisch wichtigsten Staaten und Regionen (China, Russland und die arabische Welt). Wegeners Argument zielt wohl auf die Ineffizienz von Klimaklagen ab, da sie nicht in den Ländern geführt werden, wo sie dringend nötig wären und die eigene – Deutschlands und Europas – Rolle in einer Welt voller Großemittenten, die sich alle herzlich wenig um das Klima scheren, zu vernachlässigen sei, da eine Reduzierung hier keinen Effekt auf das globale Klima habe. Beides ist falsch.
Erstens sind auch in China und Russland Klimaklagen rechtshängig. Chinas Oberstes Volksgericht hat zudem 2023 einen Leitfaden zum Umgang mit Klimaklagen publiziert, der von allen chinesischen Gerichten anzuwenden ist und sie als Mittel zum Erreichen der Klimaziele explizit willkommen heißt (auch wenn China sich dadurch v.a. neue Wirtschaftsmöglichkeiten erhofft). Aber darüber hinaus fehlt in Wegeners Auflistung von klimapolitisch wichtigen Regionen die EU als weltweit drittgrößter Emittent. Da sind die Pro-Kopf-Emissionen sowie die ausgelagerten Netto-Emissionen, die entstehen, wenn Güter anderswo (z.B. in China) für den Gebrauch hier produziert werden, noch gar nicht mit eingerechnet. Klimaklagen treffen m.E. also durchaus „die Richtigen“.
Zweitens wird das „drop in the ocean“-Argument mit gleicher Zuverlässigkeit von beklagten Regierungen angeführt, wie es von den Gerichten zurückgewiesen wird. Denn wie bereits 2015 das niederländische erstinstanzliche Gericht in Urgenda herausgearbeitet hat (Rn. 4.78 ff), trägt jede einzelne Emission zum Klimawandel bei und ist daher zu vermeiden. Auch der EGMR hat grundlegend klargestellt, dass jeder Staat aufgrund des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und jeweiligen Fähigkeiten der Staaten verpflichtet ist, seinen Teil zur Reduzierung der Emissionen beizutragen – ganz gleich, ob andere Staaten das auch tun (Rn. 442).
Täter-/Opferumkehr? Oder Verkennung von Intersektionalität?
Das „Täter/Opfer-Umkehr“-Argument kann mich dann auch nicht überzeugen. Demnach sind alte, weiße Frauen in der reichen Schweiz nicht Opfer, sondern Täterinnen, da ihr (und unser) kollektiver CO2-Fußabdruck eine der Hauptursachen des Klimawandels ist. Tatsächlich trägt der westliche (auf Verbrennung von fossilen Brennstoffen basierende) Lebensstil besonders zum Klimawandel bei. Den Klimaseniorinnen aber ihre Betroffenheit abzusprechen, weil es noch stärker vom Klimawandel Betroffene gibt, macht Vulnerabilitäten unsichtbar. Dazu gehört v.a. die Betroffenheit aufgrund von Alter und ganz besonders Gender. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte warnte, dass gerade ältere Frauen der Klimawandel härter trifft, dies v.a. deswegen, weil sie oftmals ihre Partner überleben und auf sich selbst gestellt sind (und dabei als Last für die Gesellschaft angesehen werden könnten). Sie sind öfters von Altersarmut betroffen und haben insgesamt weniger Ressourcen, um sich gegen den Klimawandel zu wappnen (Rn. 34 ff).
Auch wenn Wegener bezweifelt, dass ältere Menschen tatsächlich unter Hitze leiden und nicht eher an Kälte sterben, sprechen die Fakten zur Übersterblichkeit, die der EGMR für die fünf heißesten Sommer zwischen 2003 und 2022 in der Schweiz anführt, eine andere Sprache (Rn. 73 f.). Dass auch extreme Kälte ein Problem für ältere Menschen ist, steht dabei außer Frage. Das ändert aber nichts daran, dass die reale Todesrate und der Verlust von tatsächlichen Leben aufgrund der klimawandelbedingten Hitze zugenommen hat.
Die Schwere und Häufigkeit der Menschenrechtsverstöße im Globalen Süden dürften durchaus gravierender sein, insbesondere da viele Länder nicht über die finanziellen Möglichkeiten für umfassende Anpassungsmaßnahmen verfügen wie die Schweiz. Dennoch bedeutet der Klimawandel auch eine reale Bedrohung der Menschenrechte der Kläger*innen – und keine „Form kultureller oder klimapolitischer Aneignung“ eines Opferstatus. Ohnehin stellt sich die Frage, wen Wegener denn für die besseren Opfer halten würde – und erinnert mit diesem Vorwurf an Strategien, bei denen eine vulnerable Gruppe gegen eine andere ausgespielt wird (wie etwa das Wohl von Obdachlosen und Frauen gern in Stellung gegen Geflüchtete gebracht wird).
Die eurozentrische Perspektive (bzw. der fehlende Verweis auf den Globalen Süden sowohl im Urteil als auch etwa im Vereinsstatut der Seniorinnen) kann man durchaus kritisch sehen. Allerdings – und den Punkt spricht Wegener dann auch an – gehört zur strategischen Prozessführung auch, das beste rechtliche Argument vorzutragen. Es geht in einem Verfahren vor dem EGMR eben nicht um allgemein verordneten Klimaschutz von oben, sondern um die Feststellung eines Konventionsverstoßes. Wie hätten die Frauen etwa die Belange von Menschen des Globalen Südens geltend machen sollen, ohne bereits an der Hürde der eigenen Betroffenheit aus Art. 34 EMRK zu scheitern?
Wirkung über die Grenzen der Schweiz hinaus
Überdies hat das Urteil des EGMR, welches formell nur den Verstoß gegen Menschenrechte der Frauen anerkennt, Wirkungen weit über die Schweiz hinaus, wie auch der Gerichtshof in Rn. 479 betont. Die Reduktion von Treibhausgasen kommt im Gegensatz zu lokalen Anpassungsmaßnahmen schließlich allen Menschen zugute. Insofern hilft das Urteil auch Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, in Europa vor Gericht zu ziehen.
Symbolische Natur?
Das Urteil ist keineswegs nur symbolischer Natur. Ob die Schweiz es tatsächlich umsetzt, ist zwar durchaus fraglich – doch selbst einflussreiche Think Tanks wie Avenir Suisse überlegen, wie die Schweiz „das Beste aus dem Urteil machen“ kann. Damit dürfte diese Klage auch dazu beitragen, die geschlossene Diskussion nach dem Scheitern des CO2-Gesetzes wieder zu öffnen.
Darüber hinaus trägt das Urteil zum ständig wachsenden case law der nationalen und internationalen Gerichte bei. Die Begründungen des EGMR können in künftigen Klagen eine Hebelwirkung haben und zur Weiterentwicklung des Rechts in den nationalen Rechtsordnungen führen. Man denke nur an die Ablehnung einer Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten durch das BVerfG mit Verweis auf die Ratifizierung völkerrechtlicher Abkommen und die Verabschiedung eines (wenn auch unterambitionierten) Klimaschutzgesetzes (Rn. 154 ff.). Der EGMR hat nun klargestellt, dass dies allein nicht ausreichend ist, um der positiven Schutzpflicht aus Art. 8 EMRK Genüge zu tun (Rn. 547 ff.).
(Zu) weitreichende Fortentwicklung der Rechtsprechung des EGMR?
Wegener kritisiert dann noch den neuen Ansatz des EGMR in Bezug auf die Erstreckung der Klagebefugnis auf den Verein, obwohl die individuelle Betroffenheit der Klimaseniorinnen zuvor abgelehnt worden war. Dieser Ansatz lasse sich dem Konventionstext nicht entnehmen. Allerdings gilt das in dieser Grundsätzlichkeit auch für all die anderen Regelungen, die der EGMR hinsichtlich der Klagebefugnis über die Jahrzehnte entwickelt hat. Insofern kritisiert Richter Eicke in seinem Sondervotum v.a. die methodische Vorgehensweise des EGMR und die fehlende Anschlussfähigkeit des neuen Ansatzes an bisherige Rechtsprechungslinien. Aber der vermeintliche Widerspruch, dass die Klägerinnen als solche nicht als „direkt“ betroffen gelten, der Verein aber klagebefugt ist, ohne die individuelle Betroffenheit seiner Mitglieder nachweisen zu müssen, ist keiner. Denn der EGMR will keine Popularklagen zulassen, aber er will die Tür für Klagen, die den Klimawandel als Verletzung von Menschenrechten thematisieren, auch nicht völlig schließen. Durch diese Tür zu treten würde aber unmöglich werden, müssten Vereinigungen nachweisen, dass ihre Mitglieder die hohen Hürden der direkten Betroffenheit nehmen könnten. Dann bedürfte es dieser Möglichkeit gar nicht. Eingegrenzt wird dies dadurch, dass Vereinigungen bestimmten Grundsätzen entsprechen, insbesondere sich speziell für vom Klimawandel bedrohte Menschenrechte einsetzen müssen (Rn. 502).
Klimaklagen als Ablenkung?
Angezweifelt werden muss auch der Gedanke, dass climate ligitation nur „abstrakter“ Menschenrechtsschutz sei, der von „brutal-realen“ Menschenrechtsverletzungen ablenke. Denn die Menschenrechtsverletzungen dürften sich für Betroffene sehr real anfühlen – man befrage nur die Menschen, die bereits unter den Folgen des Klimawandels leiden, etwa durch Waldbrände, den Anstieg der Meeresspiegel oder Überflutungen. Vor diesem Hintergrund verwundert mich Wegeners Forderung, dass Jurist*innen sich stattdessen der „weltweiten Formulierung und Durchsetzung einer rationalen Klimaschutzpolitik“ widmen sollen. Denn den Weltgesetzgeber, der eine solche weltweite Formulierung verbindlich festschreiben oder den Weltgerichtshof, der eine solche durchsetzen könnte, gibt es nicht. Vielmehr anerkennt das Pariser Abkommen die Notwendigkeit des Tätigwerdens verschiedenster Akteur*innen auf allen Ebenen, v.a. der nationalen (Art. 4 II), um dem „glokalen“ Problem Klimawandel zu begegnen. Dabei spielen auch die nationalen Gerichte eine wichtige Rolle.
Klimaklagen sind ein wichtiges Instrument für die Zivilgesellschaft
Europa erwärmt sich derzeit zweimal so schnell wie andere Kontinente. Deutschland gehörte 2018 zu den drei am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern und spätestens seit dem Ahr-Hochwasser ist auch hier den meisten Menschen bewusst, was die Klimakrise für ihren Alltag bedeutet. Doch die konsequente Bekämpfung des Klimawandels ist unsicherer denn je. Ein zu erwartender Rechtsruck bei den EU-Parlamentswahlen 2024 könnte den Europäischen Green Deal gefährden und zur Blockade wichtiger Implementierungsmaßnahmen führen. Hier hat der EGMR jetzt klargestellt, dass Klimaschutz auch Menschenrechtsschutz ist. Klimaklagen sind sicher kein Allheilmittel im Kampf gegen den Klimawandel, insbesondere dann nicht, wenn Staaten unwillig sind, die Entscheidungen umsetzen. Aber das ist keine Gefahr, die ausschließlich Klimaentscheidungen anhaftet. Tatsächlich sind aber der deutsche und andere Gesetzgeber weltweit nach erfolgreichen Klimaklagen tätig geworden (z.B. in den Niederlanden, Kolumbien, Pakistan). Klimaexpert*innen listen Klimaklagen deswegen als einen von 10 social drivers auf, die eine tiefe Dekarbonisierung unterstützen. Sie sind somit ein wichtiges und wirksames Instrument in den Händen der Zivilgesellschaft – neben Petitionen und Initiativen, Klimastreiks und zivilem Ungehorsam. Nicht alles, was zuckersüß schmeckt, ist wirkungslose Homöopathie.
Vielen Dank für die gute Replik! Wie in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen hat die Rechtsprechung eine Vorreiterrolle geleistet und den Gesetzgeber immer wieder zum Handeln gezwungen. Ich denke, das waren enorm wichtige Beiträge, die gesellschaftliche Transformationen beschleunigt haben, siehe zuletzt das neue Selbstbestimmungsgesetz.
Das haben auch die Rechten/Autokraten erkann, nicht ohne Grund versuchen diese unmittelbar nach Regierungsübernahmen die Justiz/Gerichte gefügig zu machen.
Sicher hat Herr Wegner mit einigen Punkten Recht – im Großen und Ganzen waren das m.E. aber whataboutisms, die hier schön entlarvt wurden.