Globuli für Umweltjuristen
Gedanken zur Klimaklagen-Bewegung anlässlich des Klimaseniorinnen-Urteils des EGMR
Als meine Kinder noch klein waren und auf deutschen Spielplätzen gelegentlich Schrammen abbekamen, da wurden mir von besorgten anderen Eltern nicht selten kleine weiße Kügelchen angeboten. „Arnica“, raunten sie mir zu, „hilft sofort!“ Ich habe dann immer freundlich, aber bestimmt abgelehnt. Dabei hätte ich meinen Kindern die schnelle Ablenkung durch den Zucker in den homöopathischen Globuli gern gegönnt. Aber ich mochte mich mit dem Aberglauben nicht gemein machen und meinen Kindern keine Dummheiten beibringen.
Mit menschenrechtsgestützten Klimaklagen geht es mir genauso. Jedem angesichts der Klimakrise zu Recht verzweifelten Umweltjuristen gönne ich von Herzen ein Stückchen zuckersüße Illusion von „Climate Justice“. Dennoch erscheint mir der weit verbreitete Glaube an Klimaklagen kaum weniger unbegründet und in manchem sogar schädlicher als der an Arnica-Kügelchen.
Ungeeignete Gerichte
Unbegründet ist der Glaube an Klimaklagen, weil die Gerichte als Institutionen des einzelfallbezogenen Rechtsschutzes weder institutionell noch intellektuell geeignete Einrichtungen zur Bewältigung der unvergleichlich komplexen Klimakrise und zur Anleitung der dazu notwendigen großen gesamtgesellschaftlichen und globalen Transformation sind.
Unabhängigkeit und Reputation
In einer geradezu homöopathisch anmutenden Fehleinschätzung meinen Klimaklagenverfechter oft, gerade die Gerichte könnten relevante Anstöße zum globalen Klimaschutz liefern. Verwiesen wird dabei vor allem auf die Unabhängigkeit der Richter und auf die Reputation der Gerichte. Die Unabhängigkeit soll Langfristorientierung jenseits von Lobbyeinflüssen, die besondere Reputation der Gerichte soll die Durchsetzung ambitionierter gerichtlicher Klimaschutzvorgaben verbürgen. All dies erscheint nicht plausibel.
China, Russland und die arabische Welt
Aussichtsreiche Klimaklagen können ohnehin nur in dem vergleichsweise kleineren Teil der Welt erhoben werden, der eine unabhängige und hinreichend effektive Justiz überhaupt kennt. Nicht nur in China, in Russland oder in der arabischen Welt – um nur die klimapolitisch wichtigsten Staaten und Regionen zu benennen – sind von Klimaklagen keine Effekte zu erwarten.
Bundesverfassungsgericht und die papierne Planung
Aber auch in den rechtsstaatlichen Demokratien ist mit Klimaklagen allenfalls Homöopathisches zu gewinnen. Den in der internationalen Klimaklagenszene gefeierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat der deutsche Bundesgesetzgeber mit geradezu aufreizender Nonchalance und Geschwindigkeit in Papier übersetzt. Den vergleichsweise anspruchsloseren Forderungen, die der EGMR in seinem jüngsten Urteil formuliert hat, wird die Schweiz mit ähnlicher Leichtigkeit entsprechen können. Anders als oft unterstellt, ist langfristige Planung für die Politik nämlich jedenfalls solange kein Problem, als sie schmerzhafte Einschnitte hinreichend weit in die Zukunft projektieren kann. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts und das Urteil des EGMR sind insofern bislang nicht mehr als ein weiterer Beitrag zu einer in vielem illusionär anmutenden Klimaschutzplanung.
Keine konkrete Ableitung: Tempolimit / Atomkraftwerke
In realistischer Einschätzung der eigenen Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht zugleich jeder konkreten Ableitung aus seinem schon verfassungstheoretisch allzu anspruchsvollen Klimaschutzverlangen widerstanden (kritisch zu den begrenzten Folgen der Entscheidung: Groß). Selbst der inhaltlich und verfassungsrechtlich vergleichsweise kinderleicht zu begründenden Pflicht zur Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen hat das Gericht eine Abfuhr erteilt. In Karlsruhe ist man sich offenbar hinreichend bewusst, dass solche Konkretisierungen in der gewaltenteiligen Demokratie nicht Sache der Gerichte sind und der von den Klimaklägern angezapften gerichtlichen Reputation schnell gefährlich werden können. Wem dies am Beispiel des Tempolimits noch nicht plausibel genug erscheint, der stelle sich vor, das Bundesverfassungsgericht hätte mit Blick auf den verfassungsrechtlich zwingend gebotenen Klimaschutz den Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke angeordnet.
Shell-Urteil
Jenseits der deutschen Grenzen finden sich zwar ganz gelegentlich auch gerichtliche Klimaschutzentscheidungen, die scheinbar mehr verlangen als nur papierne Planung. Vorbild können aber auch diese Entscheidungen nicht sein. Verwiesen sei auch insoweit auf den berühmtesten und weitreichendsten dieser Beschlüsse, nämlich das Urteil der Rechtbank Den Haag in Sachen Shell. In ihm verurteilte das niederländische Gericht Shell wegen einer vermeintlichen Verletzung der allgemeinen zivilrechtlichen Sorgfaltspflicht zu einer Reduktion seiner CO2-Emissionen um 45% bis Ende 2030. Dabei bezog das Gericht ausdrücklich die bei den Kunden von Shell anfallenden Emissionen aus den von Shell verkauften Treibstoffen in die Reduktionsverpflichtung mit ein.
Rechtlich und rechtspolitisch erscheint mir das Urteil unvertretbar und hochgefährlich. Es dürfte aber auch für den Klimaschutz keinerlei praktischen Effekt haben. Shell hat in der Folge Berufung gegen das Urteil eingelegt, die Worte „Royal Dutch“ aus seinem Namen gestrichen und seinen Firmenhauptsitz aus den Niederlanden und der EU nach Großbritannien verlagert. Zwar hat Shell zugleich in nicht unerheblichem Umfang Ölförderlizenzen an Wettbewerber verkauft. Die entsprechende staatlich lizensierte Förderung ist damit aber nicht eingestellt worden, sondern wird nur von anderen weiter betrieben.
Strategische Prozessführung?
Verfechter der Climate-Justice-Bewegung begegnen dieser Kritik an der praktischen Nutzlosigkeit der Klimaklagen regelmäßig mit dem Hinweis auf die Symbolkraft der entsprechenden Verfahren. Den Klägern gehe es eigentlich gar nicht um ein prozessuales Obsiegen im Sinne konkreter Klimaschutzerfolge. Ziel der hier betriebenen „strategischen Prozessführung“ sei es vielmehr die Öffentlichkeit auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und die unzureichenden Klimaschutzanstrengungen anzuprangern. Auch diese Argumentation aber überzeugt bei näherem Hinsehen nicht.
Kein Defizit öffentlicher Aufmerksamkeit
Zum einen erscheint schon zweifelhaft, ob die Klimakrise, die medial wie kein anderes Thema präsent ist, tatsächlich unter einem Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit leidet. Auch die Defizite der bisherigen nationalen, supranationalen und internationalen Klimaschutzpolitik sind ständiges Thema der öffentlichen Diskussion jedenfalls in den Staaten und Rechtsordnungen, in denen Klimaklagen überhaupt erhoben werden können.
Klimaklagen als illusionäre und diskreditierende Ablenkung
Im Gegenteil muss man zum anderen vielmehr befürchten, dass die Klimaklagen von den eigentlichen drängenden Problemen der globalen Klimakrise ablenken. So wie man einem Krebspatienten vom Vertrauen auf homöopathische Mittelchen abraten muss, so muss auch vor dem illusionären Vertrauen in Klimaklagen gewarnt werden. Statt sich den eigentlichen auch juristisch drängenden Fragen der weltweiten Formulierung und Durchsetzung einer rationalen Klimaschutzpolitik zu widmen, kapriziert sich die umweltjuristische Szene auf ein simplizistisches prozessuales Wohlfühlprogramm, das an der Problematik regelmäßig vorbeigeht und mitunter eher dazu angetan ist, die Klimaschutzanstrengungen zu diskreditieren als zu befördern.
Klimaseniorinnen vor dem EGMR
Der aktuell vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedene Fall der Schweizer „Klimaseniorinnen“ ist dafür das beste Beispiel. Die Beschwerdeführerinnen sehen sich in ihrem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, weil die Schweiz nicht genügend unternommen habe, um den menschengemachten Klimawandel zu begrenzen. Ihnen werde es deshalb im Sommer zu heiß, ihnen drohe der Hitzetod.
Nur mit dem Gedanken der strategischen Prozessführung lässt sich dabei der Umstand erklären, dass die Beschwerdeführerinnen von der Schweiz eine Klimapolitik verlangen, die auch bei größter anzunehmender Anstrengung die den Beschwerdeführerinnen drohenden Gefahren nicht abwenden kann. Anpassungsmaßnahmen, wie die Klimatisierung von Altenheimen, die insoweit für den konkreten Menschenrechtsschutz sicher vielversprechender wären, wurden nicht verlangt und vom Gerichtshof dementsprechend auch nicht zugesprochen. Schon hier zeigt sich die fehlende Passgenauigkeit des menschenrechtlichen Ansatzes der aktuellen Klimaklagen.
Keine hinreichende Menschenrechtsverletzung
Bei der von den Beschwerdeführerinnen selbst zu Grunde gelegten statistischen Betrachtungsweise fallen zudem zahlreiche Ungereimtheiten ins Auge. Schon die insgesamt negative Wirkung der in der Schweiz auf sehr moderatem Gesamtniveau steigenden Temperaturen auf die Gesundheit der Beschwerdeführerinnen erscheint zweifelhaft. Mit Blick auf den Vergleich der Lebenserwartung in klimatisch sehr verschiedenen EU-Ländern lässt sich eine entsprechende Korrelation kaum feststellen. So liegt die Lebenserwartung in Malta, Italien, Spanien, Zypern, Frankreich, Griechenland und Portugal aktuell über der in Deutschland. Zwar ist die Lebenserwartung in der Schweiz ungewöhnlich hoch. Dass diese aber, wie behauptet, durch den Klimawandel und insbesondere durch steigende Sommertemperaturen signifikant sinken wird, erscheint mit Blick auf das vergleichsweise moderate Temperaturniveau der Schweiz und die in anderen Staaten zu beobachtende fehlende Korrelation unwahrscheinlich. Dies gilt umso mehr, als die Sterbefälle bei Senioren auch in der Schweiz in den Wintermonaten deutlich über denen der Sommermonate liegen. Hier gilt eher eine umgekehrte Korrelation: Kälte tötet. Müssten in einer statistischen Argumentation wie der der Beschwerdeführerinnen nicht auch die in milden Wintern vermiedenen Toten in die Betrachtung einfließen? Angesichts solcher argumentativen Auslassungen, drängte sich der Eindruck einer allzu großen Pauschalität in der Behauptung der Menschenrechtsverletzungen auf. Schon das Schweizer Bundesgericht hatte deshalb – wie jetzt auch der EGMR – zu Recht festgestellt, die Beschwerdeführerinnen seien in ihren Grundrechten nicht mit hinreichender Intensität betroffen.
Täter/Opfer-Umkehr
Hinterfragt werden muss auch die nachgerade erstaunliche Täter/Opfer-Umkehr, die in der Beschwerde der Schweizer Klimaseniorinnen zum Ausdruck kommt. Muss es nicht mindestens Unbehagen auslösen, wenn ausgerechnet alte, weiße, reiche Schweizerinnen sich zu Opfern des Klimawandels stilisieren? Ist nicht gerade deren (und unser) persönlicher und kollektiver CO2-Fußabdruck eine der Hauptursachen des Problems? Ist es nicht – aller offensichtlich guten Absichten zum Trotz – eine Form kultureller oder klimapolitischer Aneignung, sich ausgerechnet in der eigenen global überaus privilegierten Sondersituation zur spezifisch betroffenen Opfergruppe zu erklären? Liegt in dem offensichtlichen Missverhältnis zu den Gefahren, denen die eigentlichen Opfer des Klimawandels ausgesetzt sind, nicht eine weitere nur schwer erträgliche klimapolitische Unwahrhaftigkeit? Schadet dies dem zentralen klimapolitischen Anliegen nicht eher, als dass es ihm nützt?
Der falsche Fall
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wäre deshalb gut beraten gewesen, nicht gerade diesen – falschen – Fall zum Anlass einer klimapolitischen Grundsatzentscheidung zu machen. Da aber die anderen beiden anhängigen Verfahren als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen waren, blieb einer zur klimapolitischen Grundentscheidung entschlossenen Kammermehrheit nichts anderes übrig, als einen großen Schritt in Richtung eines ganz und gar ins Abstrakte verschobenen Menschenrechtsschutzes zu gehen.
Die Abstraktion des Menschenrechtsschutzes
Weil der EGMR die konkreten Klägerinnen durch den Klimawandel (und die relative klimapolitische Untätigkeit der Schweiz) als nicht hinreichend in ihren Menschenrechten verletzt ansieht, sucht er den Ausweg zu einer Menschenrechtsverletzung in ihrer Aggregation. In einer (zu) weitreichenden Fortentwicklung seiner Rechtsprechung spricht er die Klagebefugnis, die er den Einzelklägerinnen abspricht, dem von ihnen mitgetragenen Verein zu. Auf den ersten Blick mag das einleuchten: der menschengemachte Klimawandel ist ein globales, jedefrau betreffendes Phänomen, dem mit kollektiven Klagerechten vielleicht noch am ehesten zu begegnen wäre. Der EGMR beruft sich insoweit ausdrücklich auf das Vorbild der Aarhus-Konvention, die die Klagerechte der Umweltschutzverbände grundlegend ausgebaut hat.
Für diesen Schritt fehlt es allerdings – wie das der britische Richter Tim Eicke in seinem Minderheitsvotum eingehend aufzeigt – sowohl im Text der Menschenrechtskonvention als auch in der Rechtsprechung des EGMR an einem hinreichenden Anknüpfungspunkt. Auch erscheint es hoch unplausibel, warum Klägerinnengruppen, deren meistbetroffene Mitglieder keine hinreichende Rechtsverletzung geltend machen können, allein durch Vereinsgründung die Schwelle der Klagebefugnis überwinden sollen. Der Gerichtshof, der in seinem Urteil die Beschränkung seiner Funktion auf den Schutz vor konkreten und substanziellen Menschenrechtsverletzungen ebenso oft betont wie den Ausschluss der Popularklage, widerspricht sich selbst, wenn er diese Beschränkungen durch die allzu pauschale Zulassung der Verteidigung politischer Interessen durch Verbände konterkariert.
Die Menschenrechtsverletzung und der Menschenrechtsschutz insgesamt werden so – ähnlich wie schon im Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts – von jeder realen Person, jeder individuellen Verletzung und auch von jeder konkret zu benennenden Norm gelöst. Die Abstraktion und damit die Fiktionalisierung des Menschenrechtsschutzes ist beinahe vollkommen. Dem weiterhin dringend notwendigen Schutz vor brutal-realen Menschenrechtsverletzungen dürften diese Abstraktionen nicht gut bekommen.
Insgesamt negative Wirkung der Klimaklagen
Solchen kritischen Fragen muss sich die „Climate-Justice“-Bewegung auch jenseits dieses konkreten Falles stellen. Wer symbolpolitische Prozessführung propagiert, sollte sich wenigstens der positiven Symbolkraft des eigenen Handelns sicher sein. Derzeit spricht mehr dafür, dass die Bewegung nicht mehr als berechtigten Widerstand, papierne Versprechen, potemkinschen Aktivismus und enttäuschte Erwartungen produziert. Anders als in der Homöopathie kann nicht einmal ein Placebo-Effekt erwartet werden. Denn auch wenn man manchmal diesen Eindruck gewinnen mag, geht es im Klimaschutz nicht um die psychischen Wirkungen der Klageverfahren auf ihre Protagonisten, sondern um physikalische Wirkungszusammenhänge in der wirklichen Welt. Globuli helfen da leider gar nicht.
Der Beitrag beruht auf einem um aktuelle Entwicklungen ergänzten Kurzvortrag, den ich im Rahmen des Gesprächskreises Internationales Öffentliches Recht auf der Jahrestagung der Staatsrechtlehrer im Oktober 2023 gehalten habe. Ich danke den Diskussionsteilnehmern und Lotta Kuhlmann für Hinweise zur besseren Argumentation.
Vielen Dank für diesen wundervollen Paukenschlag, Prof. Wegener! Absolute Zustimmung – sie sind womöglich mit diesem Beitrag und dem zum EZB-Urteil der beste Autor dieses Blogs überhaupt!
Die völkerrechtliche Rechtsprechung hat ihre Seriosität seit einigen Jahrzehnten stetig abgebaut, schade, dass sich auch der EGMR dieser Entwicklung an