Gnadenfrist aus Karlsruhe
Die vorläufige Entscheidung des BVerfG zum Zweiten Nachtragshaushalt 2021
Es war eine der ersten großen Kontroversen der frischgebackenen Ampelkoalition: Der zweite Nachtragshaushalt 2021 sollte überschüssige Kreditermächtigungen, die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie genehmigt worden waren, für langfristige Investitionsvorhaben dem Klima- und Transformationsfond (KTF) zur Verfügung stellen.
Noch vor Verabschiedung des Gesetzes machte sich jedoch Kritik an dieser Konstruktion breit, die von der Unionsfraktion sogleich mit der Ankündigung flankiert wurde, den Nachtragshaushalt durch das Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen zu wollen.
Nun hat das BVerfG den Eilantrag durch einen am 8. Dezember veröffentlichten Beschluss des zweiten Senats abgelehnt. Doch damit beginnt der rechtliche Streit um dieses Gesetz und die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine staatliche Kreditaufnahme im Allgemeinen erst so richtig.
Keine Überraschungen im Eilverfahren
Wer sich von dem Beschluss große Klarheit über die zahlreichen offenen verfassungsrechtlichen Fragen dieses Falles versprochen hat, wurde enttäuscht: Wie in Eilverfahren nach § 32 BVerfGG üblich, kam es auch hier nicht vorrangig auf die vorgebrachten Gründe für eine mögliche Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Gesetzes an; vielmehr entschied das Gericht durch eine Abwägung der Folgen, die bei Ablehnung des Eilantrags und späterem Stattgeben im Hauptsacheverfahren (und umgekehrt) drohen.
Dabei machte der Senat deutlich, dass die Gefahren einer fälschlichen Außerkraftsetzung des zweiten Nachtragshaushalts die Gefahren von dessen fälschlicher Aufrechterhaltung in seinen Augen deutlich überwiegen: Zu groß die Beeinträchtigungen der Arbeit des KTF, zu groß die Sorge vor einer verschleppten wirtschaftlichen Erholung von der Corona-Pandemie. Ob der Nachtragshaushalt tatsächlich gegen die Schuldenbremse verstößt, konnte somit fürs erste dahinstehen.
Pinselstriche einer Leitentscheidung: Der Veranlassungszusammenhang
Nichtsdestotrotz kündigt sich in den Ausführungen des Gerichts an, dass im nun folgenden Hauptsacheverfahren grundlegende Fragen des Finanzverfassungsrechts zu klären sein werden.
Einigkeit besteht dabei zumindest über die Grundlagen: Die sogenannte Schuldenbremse (Art. 109 III, 115 II GG) untersagt es dem Gesetzgeber weitgehend, seine Ausgaben durch die Aufnahme von Krediten zu begleichen. Von diesem Grundsatz kann nur bei einer anormalen konjunkturellen Lage sowie zur Bewältigung einer der Kontrolle des Staates entzogenen Notlage abgewichen werden. Eine solche Notlage in Form der Corona-Pandemie wurde durch den Bundestag für das Jahr 2021 festgestellt. Zudem verlangt das Schrifttum übereinstimmend, dass ein Veranlassungszusammenhang zwischen Notlage und Kreditaufnahme vorliegen muss. Das heißt im Ausgangspunkt, dass die aufgenommenen Kredite dazu bestimmt und geeignet sein müssen, der Notlage Herr zu werden.
Doch schon hier endet die traute Einigkeit, denn der Veranlassungszusammenhang hat sich als einer der zentralen Streitpunkte dieses Verfahrens und der akademischen Debatte entpuppt. Umstritten ist dabei bereits, welche Anforderungen genau an diesen Zusammenhang zu stellen sind: Genügt es, dass die Kreditaufnahme zur Bekämpfung der Notlage bloß geeignet ist, oder muss sie vielmehr auch erforderlich und angemessen sein?
Die Bundesregierung hat sich im Verfahren gegen ein solches Verhältnismäßigkeitserfordernis gewehrt, da der Verfassungswortlaut ein solches nicht hergebe.1) Hierfür werden auch strukturelle Argumente vorgebracht: Notlagenkredite zu gewähren, sei nicht mit dem klassischen Anwendungsbereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung vergleichbar, nämlich dem staatlichen Eingriff in Grundrechte.2) Auch soweit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeiner Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips gesehen wird, sei seine Anwendung auf die hier vorliegende Konstellation ein zu weitgehender Eingriff in den Handlungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers (Rn. 112 f.). Dieser wäre bei strenger Anwendung eines Erforderlichkeitskriteriums gezwungen, vor einer Kreditaufnahme alle sonstigen Haushaltsposten als unverzichtbar vor Gericht zu rechtfertigen.
Andererseits ist das Ziel des grundsätzlichen Schuldenverbots des Art. 115 II 1 GG, nämlich die Senkung der staatlichen Schuldenlast, zu bedenken. Soweit das Grundgesetz von diesem Verbot Ausnahmen zulässt, beseitigen diese nicht die ihm zugrundeliegende Grundwertung. Die Feststellung, dass die Notlagenklausel des Art. 115 II 6 GG die Handlungsfähigkeit des Staates sichern möchte, bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber in einer Notlage alle haushaltspolitische Zurückhaltung in den Wind schlagen darf. Würde man sich auf eine Prüfung der Geeignetheit beschränken, so wäre jede Ausgabe als krisenbedingt zu rechtfertigen, solange sie nur irgendwie die Krisenbewältigung fördert. Dies liefe auf ein vollständiges Zurückdrängen der gesetzgeberischen Zielsetzung in Notlagen heraus. Eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes könnte demgegenüber einen angemessenen Ausgleich zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit und finanzieller Nachhaltigkeit herstellen.
Um die Fähigkeit zur wirksamen Krisenbewältigung zu sichern, müsste aber jedenfalls ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen gewährt werden. Die Gerichte sollten sich insoweit auf eine bloße Vertretbarkeitskontrolle beschränken, anstatt die gesetzgeberischen Entscheidung in vollem Umfang zu überprüfen.3) Einen solchen Spielraum in Notsituationen hat das BVerfG auch in seiner Notbremse II-Entscheidung (Rn. 123, 135) anerkannt, obwohl es dort um in höchstem Maße grundrechtssensible Bereiche ging, in denen eine strenge gerichtliche Kontrolle wohl in besonderem Maße indiziert wäre.
Ob das Gericht nach diesen Maßstäben dazu kommen wird, einen Veranlassungszusammenhang anzuerkennen, ist kaum vorherzusagen. Die Kritik der wohl überwiegenden Ansicht richtet sich insbesondere darauf, dass es sich bei den Zielen des KTF um sachfremde Zwecke handle, die schon lange auf der politischen Agenda stünden und nun unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung umgesetzt werden sollten.4) Gleichwohl lässt sich mit guten Gründen vertreten, dass sich aus diesem Einwand kein sinnvoller Maßstab für das staatliche Handeln ergibt. Zudem scheint der Gesetzgeber die Grenzen des ihm einzuräumenden Beurteilungsspielraums nicht zu verletzen.
Verstoß gegen allgemeines Haushaltsrecht?
Die wohl stärksten Bedenken lässt das Gericht bei der Frage durchscheinen (Rn. 195), ob der Nachtragshaushalt gegen allgemeine Grundsätze des Haushaltsrechts verstößt. Diese verlangen unter den Schlagwörtern der Jährlichkeit und der Jährigkeit, dass Haushaltspläne für einzelne Jahre getrennt aufzustellen sind und die darin enthaltenen Ermächtigungen nur bis Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden dürfen. Der Senat deutet spürbar an, dass er diese Grundsätze auch in Fällen der Notlagenverschuldung gelten lassen will und wohl auch für Sondervermögen wie den KTF keine Ausnahme vorsehen wird (Rn. 199 ff.). Sollte sich dieser Eindruck im Hauptsacheverfahren verfestigen, so stünde der Nachtragshaushalt vor dem Problem, dass die Mittel dem KTF erst nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 überhaupt zugewiesen wurden und bis zu ihrer Abrufung noch weitere Zeit vergehen wird. Obwohl sich das Gericht diszipliniert jedweder Festlegung enthält, deutet es klar auf die in dieser Hinsicht bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken hin, ohne diesen mögliche Gegenargumente gegenüberzustellen.
Notlagenkredite und die Konjunkturkomponente
Eine weitere Hürde auf dem Weg des Nachtragshaushalts durch das anstehende Hauptsacheverfahren wird das systematische Verhältnis der Notlagenklausel des Art. 115 II 6 GG und der sogenannten Konjunkturkomponente aus Art 115 II 2 GG darstellen. Die Gesetzesbegründung sieht den Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie als Notlage und den neuen Finanzmitteln für den KTF darin, dass durch diese Investitionen die wirtschaftlichen Nachwirkungen der Pandemie bewältigt werden sollen.
Diese Argumentation übersieht gleichwohl, dass solche Nachwirkungen richtigerweise mit den Mitteln der Konjunkturkomponente zu bewältigen sind.5) Diese ermöglicht es dem Haushaltsgesetzgeber, in Fällen einer anormalen konjunkturellen Lage seine Kreditaufnahme deren Auswirkungen auf den Staatshaushalt anzupassen. Dabei ist die Konjunkturkomponente richtigerweise streng von der Notlagenklausel abzugrenzen, was hinsichtlich der wirtschaftlichen Nachwirkungen einer Notlage im Sinne der Notlagenklausel die Frage aufwirft, welcher Regelung diese zu unterfallen haben.
Hierzu ist zu bedenken, dass die Konjunkturkomponente der staatlichen Kreditaufnahme engere Grenzen setzt als die Notlagenklausel: Zum einen ist für Konjunkturkredite im Verfassungstext eine verbindliche, der Konjunkturentwicklung symmetrisch folgende Tilgung vorgeschrieben, anstatt bloß einen angemessenen Tilgungsplan zu verlangen. Zudem ist die Summe der Kreditaufnahme anders als bei der Notlagenklausel an einen klaren Maßstab gebunden, nämlich an die messbare Konjunktur.
Mit Blick auf das Ziel der Schuldenbremse, die staatliche Kreditaufnahme wirksam zu begrenzen, muss stets auf die angesichts der Lage strengstmögliche Schuldenregel abgestellt werden. Während im Augenblick einer unmittelbaren Notlage die Handlungsfähigkeit des Staates den Rückgriff auf die besonders lockeren Regelungen des Art. 115 II 6 GG verlangt, ist der Umgang mit ihren wirtschaftlichen Nachwirkungen wieder der strengeren Konjunkturkomponente zu unterwerfen.
Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie das Gericht mit dieser im Beschwerdevortrag angedeuteten Problematik umgehen wird. Es wäre im Rahmen einer Leitentscheidung wünschenswert, dass das bislang ungeklärte systematische Verhältnis der beiden Ausnahmeregelungen der Schuldenbremse Konturen erhält.
Wie geht es weiter für den Nachtragshaushalt?
Auch nachdem es das Eilverfahren bewältigt hat, steht das Schicksal dieses kontroversen Gesetzes auf Messers Schneide: Die weitgehende Ablehnung im Schrifttum und die spürbare Skepsis des BVerfG lassen erahnen, dass diese Entscheidung mehr eine Gnadenfrist als ein Sieg ist.
Wichtiger als der Nachtragshaushalt selbst ist aber, dass mit diesem Verfahren mehr als ein Jahrzehnt nach Verabschiedung der Schuldenbremse dessen Regelungen endlich höchstrichterliche Konturen erhalten. Damit wird hoffentlich Rechtssicherheit in einem Gebiet einkehren, dass in den letzten Jahren durch Versuche von Regierungen aller Parteien geprägt war, die neuen Schuldenregeln so weit zu dehnen, wie es verfassungsrechtlich gerade noch zulässig ist ‒ oder eben nicht mehr.
References
↑1 | Vgl. BVerfG, 2 BvF 1/22, Rn. 111; so auch Meickmann NVwZ 2021, 97 (101). |
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↑2 | Meickmann NVwZ 2021, 97 (101). |
↑3 | So auch zur entsprechenden Regelung in der Hessischen Verfassung HessStGH NVwZ 2022, 147 (159), Rn. 253; Meickmann NVwZ 2021, 97 (100); Reimer in: BeckOK z. GG, Art. 109 Rn. 67; a.A. Dreier/Heun, 3. Aufl. 2018, GG Art. 109 Rn. 46. |
↑4 | So etwa mit deutlichen Worten Gröpl, NJW 2020, 2523 Rn. 8. |
↑5 | Zu diesem Argumentationsstrang ausführlich Schwarz, RuP 2022, 245 (251). |
Was auffällt: Das BVerfG zitiert zwar den VerfGH RLP, aber nicht den (strengeren) StGH Hessen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Entscheidungen war, dass der VerfGH RLP zu dem Erfordernis einer Verhältnismäßigkeit deutlich kritischer eingestellt war, obwohl die rheinland-pfälzische Verfassung ausdrücklich eine “Notwendigkeit” verlangt. Es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass das BVerfG – trotz der begrenzten Prüfung im Rahmen des eA-Verfahrens – den StGH Hessen übersehen hat… Es wäre m.E. auch nicht falsch, die Spielräume des Gesetzgebers – in gewissen Grenzen natürlich – anzuerkennen, ohne diese gleich wieder durch übersteigerte Darlegungslasten einzufangen (auch da übrigens eine ausdrückliche Begründungsverpflichtung in Art. 117 Verf RLP)
Lieber Herr Tappe,
ganz richtig, dass hatte mich bei der Recherche auch gewundert, gerade da die ja durchaus verarbeiteten Gutachten aus dem Haushaltsausschuss mehrfach Bezug auf den StGH Hessen nehmen. Das gibt durchaus Anlass zu der Vermutung, dass auch das BVerfG einer VHM-Prüfung kritisch gegenübersteht, so fromm es dazu im Moment auch noch schweigen mag. Man darf gespannt sein!
Was auch auffällt: Die letzten 4 Seiten des Beschlusses unterscheiden sich deutlich von BVerfGE 99, 57 (nicht zitiert). Der Senat übernimmt jetzt die damalige Position der Landesregierung (BVerfGE 99, 57 [62 f.]), die in BVerfGE 99, 57 (68) noch mit klaren Worten zurückgewiesen wurde. BVerfGE 99, 57 differenzierte präzise zwischen der Reversibilität der Einnahmeseite und der Irreversibilität der Ausgabenseite (“Denn die mit einer etwa erforderlichen Rückabwicklung verbundenen Nachteile werden um so schwerwiegender, je weiter die Ausgaben … fortgeschritten sind.”, BVerfGE 99, 57 [68]). Der Senat spricht jetzt nur die Schulden an, die er für reversibel hält, übergeht in der Abwägung aber die Ausgabenseite, die gänzlich (!) unerwähnt bleibt, obwohl sie für BVerffGE 99, 57 tragend war.
Interessant auch, dass es der konzise Satz “Schon darin liegt ein schwerer Nachteil im Sinne von § 32 BVerfGG [vgl. BVerfGE 81, 53, 55].” nicht in den neuen Beschluss geschafft hat. Auch er findet sich in BVerfGE 99, 57 (67).
Lieber Herr Winkenschürfel,
ein guter Hinweis auf BVerfGE 99, 57 – vielen Dank! Insgesamt scheint das Gericht der Möglichkeit, dass der Gesetzgeber 60 Mrd. € in verfassungswidrig zustandegekommenen Verpflichtungen auf sich geladen hat, relativ gelassen entgegenzusehen; Rn. 236 lässt diese Möglichkeit fast schon belanglos wirken (“nicht in voller Höhe ausgeschöpft sein werden” und “unterschiedliche Möglichkeiten der Bewältigung”). Dass dagegen der KTF als so wesentlich für die Bewältigung der Corona-Pandemie dargestellt wird, finde ich gerade im Vergleich befremdlich.