Grundrechts-Mobile statt starrer Kompetenzschichten
Die Beschlüsse des BVerfG in „Recht auf Vergessenwerden I & II“
Grundrechte als Unitarisierungshebel
Grundrechtsvielfalt zu strukturieren, ist ein Grundproblem aller föderalen Ordnungen. Meist haben sich gerade die Grundrechte als besonders wirksame Triebfedern erwiesen, das Recht in Mehrebenensystemen zu unitarisieren. Im deutschen Bundesstaat wurde darum gerungen, Wirkungsräume der Landesgrundrechte und Kontrollkompetenzen der Landesverfassungsgerichte innerhalb des flächendeckenden Bundesprozessrechts zu erhalten. Dies ist bekanntlich zu Lasten der Landesverfassungsgerichte ausgegangen, die im Prüfungsmaßstab an die kurze Kette des BVerfG gelegt wurden (BVerfGE 96, 345 ff.).
Für das BVerfG war es schon länger ein Schreckensszenario, vergleichbar zu enden. Das immer engmaschigere Netz des sekundären Unionsrechts hat längst in zentralen Regelungsbereichen deutsche Grundrechte verdrängt. Etwa im Datenschutz- und Asylrecht ließ sich beobachten, wie gewachsene deutsche Verfassungsdoktrin zur Verfassungsfolklore mit marginalem Anwendungsbereich historisiert wurde. Durch eine expansive Auslegung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechtscharta (GRCh) durch den EuGH droht zudem eine schleichende Vereinheitlichung des Grundrechtschutzes unter der Obhut europäischer Gerichtbarkeit, zu deren funktionaler Außenstelle sich das BVerfG nicht degradieren lassen wird.
Strukturierung von Grundrechtsvielfalt
Der Erste Senat des BVerfG reaktiviert in zwei Grundsatzentscheidungen (BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13, EuGRZ 2019, 683 – „Recht auf Vergessenwerden I“; Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17, EuGRZ 2019, 702 – „Recht auf Vergessenwerden I“) daher ein dezidiert föderales Grundrechtsverständnis, das Raum für Unterschiede – und damit für die Eigenheiten des nationalen Verfassungsrechts sowie seiner Kontrolleure – belässt. Das Gericht geht davon aus, dass das Unionsrecht grundsätzlich nicht auf unionsweit einheitlichen Grundrechtsschutz ziele, sondern Grundrechtsvielfalt voraussetze. Das ist gut begründet, führt aber zu vielen Problemen in den Details.
Soweit das Unionsrecht den Mitgliedstaaten – wie meistens – Umsetzungsspielräume belässt, deutet das BVerfG – insoweit wohl im Einklang mit dem EuGH – die GRCh als hinreichend offen und elastisch, Durchführungsmaßnahmen am Maßstab der Grundrechte zu messen. Die Grundrechte gewährleisten dann den von der GRCh gebotenen Mindestschutz mit, füllen also ein unionsrechtlich belassenes Grundrechtsband vertretbar aus.
Volldetermination durch Unionsrecht
Dort wo das Unionsrecht ausnahmsweise nicht auf Grundrechtsvielfalt ausgerichtet sei, sondern engere grundrechtliche Maßgaben enthalte, nimmt das BVerfG in Anspruch, deutsche Hoheitsakte selbst am Maßstab der GRCh zu prüfen. Eine solche Bindungsdichte findet sich bei unmittelbar anwendbaren Rechtsverordnungen oder detaillierten Richtlinien durchaus immer wieder, was in „Vergessenwerden II“ anhand des Datenschutzrechts sogleich praktisch erprobt wurde. Andere Anwendungsfelder dieser neuen Doktrin wären z. B. das vollharmonisierte Flüchtlingsrecht, das der Regelung des Art. 16a GG letztlich keinen praktisch relevanten Anwendungsbereich belassen hat, oder das weitgehend durch Richtlinienrecht detailgesättigte Telekommunikations- und Energiewirtschafts-Regulierungsrecht, das den deutschen Wirtschaftsgrundrechten (Art. 12, 14 GG) nur wenig Wirkungschancen belässt. Zutreffend geht das BVerfG damit implizit davon aus, dass die Unionsgrundrechte auch dem Sekundärrechtssetzer Spielräume belassen, das praktische Schutzniveau im Fachrecht unterschiedlich dicht auszugestalten. Es wäre nicht plausibel, wenn einheitliche Unionsgrundrechte im Rahmen des Art. 51 Abs. 1 GRCh den Mitgliedstaaten Spielräume zur Wahrung grundrechtlicher Vielfalt belassen, zugleich aber Unionsorgane bei der Setzung von Sekundärrecht über den identischen Grundrechtstatbestand vollständig determinieren würden.
Verfassungsrechtliche Grundlage?
Dass die Prüfungskompetenz des BVerfG am Maßstab europäischer Grundrechte freilich aus der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nach Art. 23 Abs. 1 GG folgen soll, steht verfassungsrechtlich wohl eher auf tönernen Füßen. Diese Norm thematisiert keine Kompetenzen des BVerfG und setzt solche auch nicht zwingend voraus. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG weist – gegenläufig – dem BVerfG Kontrollzuständigkeiten allein in Bezug auf die explizierten Grundrechte des Grundgesetzes zu und wurde jedenfalls bislang zugleich als verfassungsrechtliche Festlegung des Prüfungsmaßstabs verstanden. Wo ausnahmsweise nicht das Grundgesetz verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab sein kann, macht die Verfassung dies explizit (Art. 99, 100 Abs. 2 GG). Das Unionsrecht selbst belässt die innerstaatliche Verteilung gerichtlicher Kontrollkompetenzen durch ausdifferenziertes Gerichtsverfassungs- und Rechtsmittelrecht der Autonomie der Mitgliedstaaten. Der von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 GRCh verlangten Einrichtung nationaler Gerichte zur Durchsetzung der Unionsgrundrechte wird bereits durch die bestehenden Fachgerichte entsprochen, die schon jetzt jeden nationalen Rechtsakt, der in Durchführung von Unionsrecht (Art. 51 Abs. 1 GRCh) ergeht, am Maßstab der Grundrechtecharta messen können (und ggf. müssen). Befürchtete Rechtsschutzlücken bestehen daher nicht.
Rechtsfolgen?
Während der Erste Senat seinen Prüfungsmaßstab eingehend begründet, bleiben Fragen der Rechtsfolgen offen. Wenn das BVerfG die Grundrechtecharta als entscheidungserheblichen Prüfungsmaßstab anwendet, dann muss es (wie im Übrigen jedes Fachgericht) schon nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH von Amts wegen auch entscheidungserhebliche nationale Gesetze bei Inkompatibilität mit vorrangigem Unionsrecht inzident unangewendet lassen. Ob es auch eine prinzipale Verwerfungsentscheidung treffen und die Nichtigkeit eines nationalen Gesetzes wegen Unvereinbarkeit mit europäischen Grundrechten mit Wirkung erga omnes feststellen kann (vgl. §§ 78 f., 95 Abs. 3 BVerfGG), ist eine Frage des innerstaatlichen Rechts. Wenn man Unionsgrundrechte als Surrogat verdrängter innerstaatlicher Grundrechte implementiert, wäre es jedenfalls konsequent, den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang als Kollisionsregel in einen normenhierarchischen Geltungsvorrang (nach der Ratio des Ersten Senats wohl qua Art. 1 Abs. 3 i. V. mit Art. 23 Abs. 1 GG) zu übersetzen. Ist das verfassungsdogmatisch begründbar? Mir erscheint hier die Gesamtarchitektur trotz umfangreicher Entscheidungsgründe zumindest noch konkretisierungsbedürftig.
Institutionelle Grundrechtskoordination
Wie dem auch sei: An die Stelle eines starren Systems, das Grundrechtsgeltung nach Kompetenzschichten stratifiziert und säuberlich voneinander trennt, setzt der Erste Senat des BVerfG künftig ein bewegliches Grundrechts-Mobile, das Vielfalt zum Schillern bringt. Die Grundrechte werden nicht mehr primär materiell-rechtlich modelliert, sondern institutionell über Kontrollzuständigkeiten koordiniert. Nicht materiale Einheit, sondern das Zusammenspiel vielfältiger Akteure mit ihren Interpretationsleistungen hält den europäischen Grundrechtsschutz zusammen und lebendig. Das erfordert allerdings ein hohes Maß an Elastizität. Der Kontrollzugriff passt daher eher zum Bild der living constitution in der Praxis des EGMR, der den Mitgliedstaaten traditionell diejenigen Beurteilungsspielräume zugestanden hat, auf die sich das BVerfG nunmehr beruft. Vor allem die deutsche Grundrechtsdogmatik wird sich an diesem transnationalen Grundrechtsmodell reiben, möglicherweise aber auch das – deutscher Föderaltradition entspringende – Kompetenzraumdenken des Zweiten Senats (paradigmatisch BVerfGE 123, 267, 348 ff.).
Zukunft des Kooperationsverhältnisses
Institutionell setzt der Erste Senat auf ein Kooperationsverhältnis, das weniger konfrontativ ist. Wo inhaltliche Vielfalt anerkannt wird, kann man offener koordinieren. Das BVerfG macht nicht zuletzt ein Interpretationsangebot des Unionsrechts auch an die Verfassungs- und Fachgerichte der anderen EU-Mitgliedstaaten, deren autonome Interpretationsräume verteidigt, denen aber auch Chancen zur Mitgestaltung des europäischen Grundrechtsraums geboten werden. Es ist im besten Sinne ein föderales Grundrechtsmodell bottom up.
Während der Zweite Senat im Unionsverfassungsrecht – aus sehr guten Gründen, aber mit eher durchwachsenem Erfolg und (wie zuletzt die Entscheidung zur Bankenunion [BVerfG, Urt. v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14, Rn. 131 ff.] gezeigt hat) zunehmend kraftlos – rote Linien zeichnet und integrationsfeste Kompetenzräume demarkiert, öffnet der Erste Senat gegenläufig im Grundrechtsbereich die Verfassungsräume hin zu einer weitgehenden Diffusion. Das BVerfG wird dafür aber auch aktiver Mitspieler bei der praktischen Ausformung der Unionsgrundrechte. Scharnierelement ist das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV, auf das das BVerfG hinzuweisen nicht versäumt. Dieses lebt von wechselseitiger Responsivität und der Bereitschaft, sich auf die jeweils andere Perspektive konstruktiv einzulassen. Zum EuGH kommen Grundrechtsfragen so, wie sie nationale Gerichte präsentieren. Das BVerfG sitzt daher am längeren Hebel und dürfte genau damit kalkulieren. Es dürfte also künftig wohl elaborierte Lösungsvorschläge anbieten, über die sich der EuGH nur mit erheblichem Begründungsaufwand hinwegsetzen kann – zumal dann, wenn der Gerichtshof andernfalls den Vorwurf eines Dumpings der Grundrechtsstandards riskiert (vgl. anschaulich die verdienstvolle Warnung des Zweiten Senats in BVerfGE 140, 317, 336 ff., und das reaktive Einlenken des EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – C404/15 und C659/15 PPU, Aranyosi und Căldăraru, NJW 2016, 1709 Rn. 74 ff.).
Auch im Übrigen bleibt der Erste Senat der Idee institutioneller Vielfalt treu. Anders als der im Unionsverfassungsrecht monopolisierungsfreudige Zweite Senat (vgl. BVerfGE 123, 267, 354 f.) werden explizit die Fachgerichte in die Mitverantwortung genommen, das grundrechtliche Kooperationsverhältnis mit dem EuGH über das Vorlageverfahren zu pflegen.
Ein vorläufiges Fazit
Die Entscheidungen sind ein Befreiungsschlag zur institutionellen Selbstbehauptung, mit dem das BVerfG im Grundrechtsbereich gegen einen drohenden stillen Bedeutungsverlust ankämpft. Es ist aber auch der Versuch, bei der Formierung der gemeineuropäischen Grundrechtsarchitektur eine aktivere Rolle zu spielen. Für die Menschen in Deutschland ist das zunächst einmal beruhigend. Zwar hat sich der EuGH in den letzten Jahren redlich bemüht, das Niveau des europäischen Grundrechtsschutzes zu verbessern. Gleichwohl klaffen zwischen einem grundrechtlichen Overkill im Datenschutz einerseits und der Verwahrlosung im Bereich des Europäischen Haftbefehls, wo Freiheitsrechte kaltschnäuzig auf dem Altar der Integrationsfunktionalität geopfert werden, weiter tiefe Gräben, die der Gerichtshof jedenfalls ohne Druck mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte nicht freiheitsverträglich zuschütten wird. Ein stärkeres Engagement des BVerfG bei der Mitformulierung von Standards jenseits des unverzichtbaren Vorbehalts der Menschenwürde (BVerfGE 140, 317, 336 ff.), die nur Ausnahmeszenarien äußere Integrationsschranke sein kann, ist sehr zu begrüßen.
Institutionelle Konflikte
Institutionelle Konflikte sind hierbei vorprogrammiert. Vielfalt ist inkompatibel mit Harmonie. Ein System, das Unterschiede akzeptiert, muss auch Konflikte aushalten und mit Divergenzen konstruktiv umgehen. Und Konflikte sind durchaus zu erwarten. Inhaltlich sind die praktischen Grundrechtsverständnisse innerhalb der EU nämlich keineswegs so harmonisch, wie es die Beschwörung gemeinsamer Verfassungstraditionen nebst EMRK suggeriert. Dies spiegelt sich weniger in abstrakten Leitsätzen als in der Prüfungsdichte, in der disparaten Qualität der Verhältnismäßigkeitsprüfung und in der Gewichtung spezifischer Unions-Gemeinwohlinteressen. Der Erste Senat des BVerfG macht hierbei seinen Prüfungszugriff vor allem vom europäischen Fachrecht abhängig, das sehr inhomogene Regelungskomplexe des vielschichtigen Sekundärrechts mit sehr unterschiedlicher normativer Determinationsdichte umfasst. Das Europäische Verwaltungsrecht verfügt aber über keinen Allgemeinen Teil und spiegelt sehr unterschiedliche Verwaltungskulturen sowie -leitbilder. Manche Gebiete tragen immer noch den Stempel eines dirigistischen Supra-Etatismus der Verwaltungsbürokratien, in dem grundrechtliche Freiheit als Leitidee nicht vorkommt.
Das BVerfG hat im Grundrechtsschutz den Marsch durch die europäischen Institutionen angetreten. Der Ausgang ist ungewiss. Bekanntlich haben meistens die Institutionen die Marschierenden mehr verändert als Letztere die Institutionen. Hoffen wir, dass es diesmal anders kommt.
* Ergänzte Fassung eines Impulsvortrags, die der Verfasser am 16.1.2020 auf dem „Jahresrückblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ der Konrad-Adenauer-Stiftung gehalten hat.
Eine ausgezeichnete Analyse, danke.
Ja, Grundrechtsvielfalt, auf möglichst hohem Niveau, zu Gunsten der Menschen, die im Mittelpunkt des Handelns der Union stehen, wie es in der Präambel zur Charta heißt.
Die Union nimmt den Grundrechtsschutz – in Kooperation mit der Grundrechteagentur in Wien – ernst. Ein Screening sämtlicher Gesetzesvorhaben am Maßstab der Charta wie auf unionaler Ebene wäre auch in Deutschland das Gebot der Stunde, in Bund und Ländern (!), und der deutsche acquis sollte gleichfall einer systematischen Prüfung unterzogen werden.
Der Schritt des Ersten Senats erinnert an die bahnbrechende Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes.
Allerdings sollte mit diesem neuen, aus meiner Sicht sinnvollen Weg keine Schwächung der Fachgerichte verbunden sein, die als Unionsgerichte weiterhin in der Verantwortung stehen.
Im Übrigen, welche Möglichkeiten stehen nun den Fachgerichten offen? Eine Richtervorlage zum BVerfG, wenn (nur oder zumindest auch) unionale Grundrechte betroffen sind, eventuell sogar parallel zu ener Vorlage an den EuGH? Die praktische Umsetzung verspricht hochspannend zu werden …