Grundrechtswende zur Jahreswende
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts erkennt die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab an
Das Ende des in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Jahres 2020 hat Karlsruhe mit einer zukunftsweisenden Grundsatzentscheidung eingeläutet. Mit seinem kurz vor Jahreswechsel veröffentlichten Beschluss in Sachen Europäischer Haftbefehl III erkennt nun auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Unionsgrundrechte als unmittelbaren Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde an. In einem begrüßenswerten und keineswegs selbstverständlichen Schritt schwenkt der Zweite auf die Linie des Ersten Senates ein. Dieser hatte vor gut einem Jahr in Recht auf Vergessen II die Karlsruher Kontrollverantwortung für die Einhaltung der Unionsgrundrechte erstmals wahrgenommen und verfassungsrechtlich begründet. Fest steht nunmehr, dass diese Kontrollverantwortung das BVerfG als Ganzes trifft. Individuen können sich fortan vor beiden Senaten unmittelbar auf ihre Unionsgrundrechte berufen, jedenfalls soweit die betreffende Materie vollständig durch Unionsrecht determiniert ist. Zugleich bekräftigt der Zweite Senat damit die mit Recht auf Vergessen angestoßene Neuordnung des Verhältnisses zu den Fachgerichten bei der Durchsetzung der Unionsgrundrechte und verfestigt das BVerfG als Zentralinstanz gerichtlichen Grundrechtsschutzes in Deutschland.
Zum Fall: Grundrechtsschutz vor Auslieferung nach Rumänien
Mit seiner jüngsten Europaentscheidung betrat der Zweite Senat einmal mehr ein von Europäischem Gerichtshof (EuGH), Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und nationalen Verfassungsgerichten gleichermaßen beackertes Feld: den Schutz grundrechtlicher Kerngarantien im Auslieferungsverfahren. Der Senat gab zwei Verfassungsbeschwerden statt, mittels derer sich Häftlinge gegen die ihnen drohende Auslieferung nach Rumänien gewehrt hatten. Erfolg war den Verfassungsbeschwerden letztlich aufgrund einer Verletzung der EU-Grundrechtecharta (GRCh) beschieden, welche von den Beschwerdeführern ursprünglich gar nicht gerügt worden war. Dem Senat zufolge hatten sowohl das Kammergericht Berlin als auch das Oberlandesgericht Celle die aus dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 4 GRCh) folgende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verletzt, indem sie die Haftbedingungen in den voraussichtlich relevanten rumänischen Haftanstalten nicht hinreichend ermittelt bzw. gewürdigt hatten.
Paradigmenwechsel: Von der Identitätskontrolle zur europäischen Grundrechtskontrolle
Der nun auch vom Zweiten Senat vollzogene Paradigmenwechsel wird durch die Kontrastfolie seiner bisherigen Rechtsprechung deutlich sichtbar. Im Jahr 2015 meinte der Zweite Senat noch, einen strukturell vergleichbaren Fall im Wege der Identitätskontrolle entscheiden zu müssen, d.h. am Maßstab der integrationsfesten Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes (GG). Die Aktivierung dieses grundgesetzlichen Notvorbehalts war damals ebenso unnötig wie überschießend. Unnötig, weil nach zutreffender (vom Senat selbst geteilter und kurz darauf vom EuGH in Aranyosi bestätigter) Lesart im konkreten Fall gar keine zwingende unionsrechtliche Auslieferungspflicht bestand, gegen welche die Menschenwürdegarantie des GG hätte ins Feld geführt werden müssen. Überschießend, weil die vom Zweiten Senat auch auf unionsrechtlich determinierte Materien erstreckte Kontrollkompetenz am Maßstab der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie den Konflikt mit dem EuGH befeuerte und eine Inflationierung der Verfassungsidentität in Fällen mit Unionsrechtsbezug zu katalysieren drohte.
Diesen Konflikt zu entschärfen ohne dabei das Schutzniveau für die Betroffenen zu kompromittieren, ist einer der zentralen Verdienste der jüngsten Entscheidung. Der Zweite Senat mildert das Konfliktpotenzial mit Luxemburg deutlich ab, indem er – Recht auf Vergessen II folgend – die Unionsgrundrechte fortan zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab erhebt und so die vom Ersten Senat eingeleitete Grundrechtswende mitgeht. Nicht die grundgesetzliche Menschenwürde bzw. der Menschenwürdegehalt der deutschen Grundrechte ist Prüfungsmaßstab, sondern der ebenfalls abwägungsfeste Art. 4 GRCh. Bei der Grundrechtskontrolle legt der Zweite Senat die Auslegung des EuGH zugrunde. Dieser judiziert seinerseits rückbezogen auf die Rechtsprechung des EGMR, wenn auch Differenzen verbleiben.
Freilich verzichtet der Zweite Senat nicht vollständig auf die grundgesetzliche Identitätskontrolle. Diese wird aber auf eine absichernde Sekundärebene verlagert und läuft fortan nur noch im Hintergrund – in Europäischer Haftbefehl III aber noch über beachtliche 13 Randnummern hinweg (Rn. 57-69). Konfliktmildernd wirkt hier zudem der Umstand, dass der Zweite Senat die unabdingbaren Mindeststandards des GG im Einklang mit der Rechtsprechung von EuGH und EGMR bestimmt und damit jedenfalls im Bereich des innereuropäischen Auslieferungsverkehrs eine unions- und völkerrechtsfreundliche Auslegung des GG vornimmt (Rn. 63). Auf dieser Basis kann der Senat nicht nur festhalten, dass die einschlägigen Mindeststandards des GG nicht von denen der Charta abweichen. Er kann vielmehr auch in die Zukunft hinein andeuten, dass die Aktivierung der Identitätskontrolle im Regelfall fortan in das Reich des Hypothetischen verlagert sein dürfte (Rn. 40).
In der Rechtspraxis wird die Identitätskontrolle im Grundrechtsbereich wohl vor allem deshalb an Bedeutung verlieren, weil sich die Beschwerdeführer im unionsrechtlich determinierten Bereich fortan mittels der Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf die einzelnen Unionsgrundrechte in ihrer Ausdifferenziertheit berufen können, ohne den eng auf den Menschenwürdekern der deutschen Grundrechte reduzierten Maßstab des BVerfG bemühen zu müssen. Dieser bleibt lediglich als letzte Sicherung in der Hinterhand. Die Identitätskontrolle wird damit tendenziell wieder stärker zu dem, was sie (wenn überhaupt) nur sein sollte: ein Notvorbehalt, eine ultima ratio. Der Zweite Senat vollendet insoweit die vom Ersten Senat angestoßene Bewegung weg von überdehnten Ersatzmaßstäben hin zu praktisch handhabbaren Grundrechtsstandards.
Grundrechtsschutz und gegenseitiges Vertrauen
Europäischer Haftbefehl III illustriert zugleich, dass die am Maßstab der Unionsgrundrechte durchgeführte Kontrolle der fachgerichtlichen Grundrechtsanwendung kein zahnloser Tiger ist. Auf Grundlage der unionsrechtlichen Standards ist ein effektiver Grundrechtsschutz auch im Auslieferungsverkehr gewährleistet. So fordert der Zweite Senat von den deutschen Fachgerichten die gewissenhafte Befolgung des zweistufigen Prüfprogramms ein, welches der EuGH in Aranyosi entwickelt und sodann in Dorobantu in Bezug auf Haftbedingungen nochmals konkretisiert hatte (Rn. 45-56). Interessanterweise beruht das Dorobantu-Urteil gerade auf einer vor dem Zweiten Senat verfassungsgerichtlich erzwungen Vorlage eines deutschen Fachgerichts. Das vom EuGH präzisierte und nun vom BVerfG übernommene Programm bezieht sich, vereinfacht gesagt, im ersten Schritt auf das Vorliegen „systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder Haftanstalten betreffender Mängel“, im zweiten Schritt auf die Situation des konkret betroffenen Individuums.
Die Frage nach dem Umfang grundrechtlicher Auslieferungsverbote bewegt sich in einem kontrovers diskutiertes Spannungsfeld. Die von Karlsruhe rezipierte EuGH-Rechtsprechung versucht hier die richtige Balance zu finden. Einerseits gilt zwischen den EU-Mitgliedstaaten der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, aus dem eine wechselseitige Vermutung der Grundrechtstreue folgt, die nur unter außergewöhnlichen Umständen als widerlegt anzusehen ist. Andererseits sollen die Mitgliedstaaten einander nicht die Hand zu Grundrechtsverletzungen reichen. Letztlich geht es um eine ihrer Natur nach grundrechtsföderative Frage, die auch im Kontext der Rechtsstaatlichkeitskrise oder des europäischen Asylrechts relevant ist: Inwieweit soll eine zu erwartende Verletzung von Grundrechten durch einen EU-Mitgliedstaat zu einer präventiven Vorverlagerung der Grundrechtsverantwortlichkeit auf andere Mitgliedstaaten führen, die selbst gar nicht unmittelbarer Verursacher des Problems sind und darauf verweisen können, dass doch der Problemstaat selbst an Unionsgrundrechte und die EMRK gebunden ist? Inwieweit soll z.B. den französischen Staat eine grundrechtliche Folgenverantwortung treffen, wenn er Personen nach Rumänien, Ungarn oder Polen ausliefert, wo sodann grundrechtliche Standards der Haftunterbringung, des Asylverfahrens oder der richterlichen Unabhängigkeit nicht eingehalten werden? Welche Vorkehrungen müssen deutsche Gerichte im Rechtshilfeverkehr in Ansehung auswärtiger Haftbedingungen treffen, um durch die Auslieferung nicht selbst Unionsgrundrechte zu verletzen?
Bislang hat der EuGH innereuropäische Überstellungsverbote dem Grundsatz nach nur in Bereichen des abwägungsfesten Art. 4 GRCh und des (ebenfalls abwägungsfesten) Wesensgehalts des Rechts auf ein faires Verfahren anerkannt und den innerstaatlichen Gerichten in dem um Auslieferung ersuchten Staat hierfür das oben genannte Prüfungsprogramm auferlegt. Danach müssen deutsche Gerichte nicht zum rumänischen „Oberhaftrichter“ (treffend Bergmann) mutieren. Allerdings obliegt ihnen in gewissem Umfang eine Aufklärungspflicht. Diese sah der Zweite Senat im konkreten Fall als verletzt an, weil die Fachgerichte seiner Auffassung nach nicht alle relevanten Informationen und Faktoren in die Gesamtwürdigung der zu erwartenden Haftsituation einbezogen hatten bzw. eine Haftanstalt ausgeklammert hatten, in welche die Betroffenen zwar nicht sicher, aber im späteren Haftverlauf doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hätten verlegt werden können (Rn. 70-80).
Spielraumtest
Welche Grundrechtsordnung vor dem BVerfG zum Zuge kommt (GG oder Charta), hängt nach dem BVerfG maßgeblich von der Vorfrage ab, ob das einschlägige unionale Fachrecht den Mitgliedstaaten Spielräume belässt oder zwingend Vorgaben macht, ob es also gestaltungsoffen oder voll vereinheitlicht ausgestaltet ist (vgl. Recht auf Vergessen II, Rn. 77 ff.). Die Differenzierung zwischen spielraumeröffnendem und vollständig vereinheitlichtem Unionsrecht suggeriert freilich eine bipolare Trennung, wo man Ende auf lediglich graduelle Stufungen stößt – ein Problem, dem allerdings auch der EuGH nicht entkommt. Die Bestimmung der unionsrechtlichen Regelungsdichte ist ein schwieriges Unterfangen. Jedenfalls soweit der Zweite Senat in einem Satz apodiktisch feststellt, die Materie sei unionsrechtlich vollständig determiniert (Rn. 35), täuscht dies über die Komplexität der Frage hinweg, wann der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl den Mitgliedstaaten zwingende Vorgaben macht oder Spielräume eröffnet.
Vorlageskepsis?
Eine Achillesferse der in Recht auf Vergessen begründeten Kontrollverantwortung des BVerfG für die Unionsgrundrechte ist die Karlsruher Vorlagebereitschaft in Grundrechtsfragen. In seiner unionsrechtlichen Dimension steht und fällt der Neuansatz mit der Bereitschaft, den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens anzurufen. Bereits Recht auf Vergessen und die Folgerechtsprechung des Ersten Senates waren hier durch eine vornehme Zurückhaltung gekennzeichnet. Das gilt nicht nur für die Vorfrage der Regelungsdichte des unionalen Fachrechts, sondern gerade auch in Bezug auf die Auslegung der Unionsgrundrechte. So meint der Erste Senat die unionalen Grundrechtsstandards ggf. schon aufgrund von EGMR-Rechtsprechung als offenkundig ansehen und eine Vorlage deshalb unterlassen zu dürfen (Recht auf Vergessen II, Rn. 70).
Der Zweite Senat ergänzt diese unilaterale Erweiterung der CILFIT-Rechtsprechung nun um eine Offenkundigkeit qua nationaler Verfassungsüberlieferung. Durch eine „Heranziehung der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Verfassungs- und Höchstgerichte zu Grundrechten, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben“, meint der Senat auf die Offenkundigkeit unionaler Grundrechtsstandards schließen zu können (Rn. 39). Dieser Schachzug kann die praktische Bedeutung horizontaler verfassungsvergleichender Argumentation im Grundrechtsbereich zweifelsohne weiter stärken, zugleich aber das Potenzial (vermeintlich) kollektiver Verfassungsgerichtsopposition vergrößern. Als Gegengewicht im Prozess der Grundrechtssicherung mag dies hingenommen werden, solange am Ende der Dialog mit dem EuGH gesucht wird, ggf. vorgeschaltet über die Fachgerichte.
Begründungsdifferenzen?
Der Zweite Senat bezeichnet den mit Recht auf Vergessen begründeten Neuansatz als das was er im Kern ist, nämlich eine Änderung der Rechtsprechung (Rn. 41). Damit erinnert er nicht nur an die (aus seiner Sicht möglicherweise schmerzliche) Nichtanrufung des Plenums durch den Ersten Senat, sondern legt den Paradigmenwechsel offen. Die verfassungsrechtliche Begründung des Neuansatzes in Recht auf Vergessen rekapituliert der Zweite Senat indes nur rudimentär. Das mag schlicht daran liegen, dass die Wiederholung der verfassungsrechtlichen Herleitung vorliegend schlicht nicht für notwendig befunden wurde. Gleichwohl fällt auf, dass der Zweite Senat die Grundrechtswende im Wesentlichen nur mit der Funktionsäquivalenz von nationalen und unionalen Grundrechten begründet (Rn. 37), nicht aber mit der vom Ersten Senat m.E. überzeugend herausgearbeiteten judikativen Integrationsverantwortung. Das verstärkt einmal mehr den Eindruck, dass beide Senate konzeptionell verschiedenartige Begriffe der Integrationsverantwortung vertreten. Gleichermaßen offen gelassen haben beide Senate soweit ersichtlich die Frage, ob und inwieweit der Neuansatz auf Fallgestaltungen übertragbar ist, in denen es nicht um die Überprüfung der fachgerichtlichen Grundrechtsanwendung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geht.
Fazit
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das BVerfG seine Rolle als europäisches Grundrechtsgericht mittlerweile in seiner Gesamtheit angenommen hat. Die Unionsgrundrechte können fortan vor beiden Senaten unmittelbarer Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde sein. Alles in allem ein gelungener grundrechtlicher Auftakt in das Jahr 2021.