03 February 2011

Ägypten: Entweder Demokratie oder Verfassung

Clark Lombardi wirft auf dem Comparative Constitutions Blog ein paar schwierige Fragen zu den atemberaubenden Vorgängen in Ägypten auf: Was, so fragt er, würde nach der geltenden Verfassung passieren, wenn Mubarak tatsächlich hier und heute seinen Posten räumen würde?

Die Antwort: Das wäre womöglich ein ziemlich guter Weg, die Autokratie im Lande auf Jahre hinaus zu zementieren.

Wenn Mubarak zurücktritt, müsste ein Nachfolger gewählt werden. Das geht nach Art. 76 der Verfassung so, dass das Parlament einen Kandidaten nominiert, der dann per Plebiszit ins Amt gewählt wird. Um überhaupt zur Nominierung vorgeschlagen zu werden, braucht man ein Drittel der Stimmen im Parlament. Damit ist klar: Niemand außer der ohnehin schon herrschenden Elite der Mubarak-Partei NDP hätte eine Chance, auch nur kandidieren zu können.

Also müsste zunächst das Ziel sein, die Verfassung zu ändern. Das geht aber nicht, wenn Mubarak jetzt zurücktritt: Denn dann muss nach spätestens 60 Tagen ein neuer Präsident gewählt werden (Art. 84). In dieser Zeit ist es ausgeschlossen, die Verfassung zu ändern, denn nach Art. 189 muss das Parlament erstmal prinzipiell beschließen, dass die Verfassung überhaupt geändert werden soll, und dann zwei Monate lang über die einzelnen Änderungen diskutieren.

One cannot help but admire the perverse craftsmanship of this scheme,

schreibt Clark.

Ein Moment der Verfassungslosigkeit

Der Ausweg wäre, dass Mubarak sich für “vorübergehend unfähig zur Amtsausübung” erklärt. Dann würden seine Befugnisse auf Vizepräsident Suleiman übergehen, und das Parlament könnte die Verfassung in aller Ruhe ändern und damit Neuwahlen nach fairen Regeln ermöglichen.

Das hätte sicher seinen Preis, aber immerhin.

Und wenn nicht?

Wenn Mubarak tatsächlich jetzt und sofort weg soll, dann geht das nur über eine logische Sekunde der Verfassungslosigkeit, über eine tatsächliche und grundstürzende Revolution, die sich um Recht und Unrecht nicht länger schert und auch die geltende Verfassung (was immer sie wert ist) wegfegt.

(Update: nach einigem Nachdenken hab ich den Titel des Posts geändert)

Update: Vizepräsident Suleiman hat gerade angekündigt, dass im August, spätestens September gewählt wird, dass die Zeit bis dahin sehr knapp ist und dass verschiedene Gesetzesänderungen, auch solche an der Verfassung, vorher über die Bühne gehen sollen.

Das würde zumindest ein Fenster öffnen, auch den besagten Art. 76 zu ändern und somit wirklich demokratische Neuwahlen zu ermöglichen.

Ansonsten: Ich bin kein religiöser Mensch, aber das, was ich gerade in Gedanken an die Demonstranten in Kairo und Alexandria tue, kann man schon als Beten bezeichnen.

Foto: Al Jazeera English, Flickr Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Ägypten: Entweder Demokratie oder Verfassung, VerfBlog, 2011/2/03, https://verfassungsblog.de/gypten-warum-es-besser-fr-die-demokratie-wre-wenn-mubarak-noch-ein-bisschen-bleibt/, DOI: 10.17176/20181008-124913-0.

9 Comments

  1. egal Thu 3 Feb 2011 at 00:20 - Reply

    Revolution kümmert sich meist wenig um verfassungsrechtliche Tricksereien. Der Drang, alles rechtmäßig ablaufen zu lassen, ist wohl eher den Deutsche als den Ägyptern zuzuschreiben 😉

  2. Blogwarte.de Thu 3 Feb 2011 at 00:22 - Reply

    Warum es besser für die Demokratie wäre, wenn Mubarak noch ein bisschen bleibt…

    Mubarak müsste im Amt bleiben, um eine Demokratisierung Ägyptens einzuleiten. Ein Widerspruch? Nein, den juristische Wege sind Schlangenpfade….

  3. vera Thu 3 Feb 2011 at 01:32 - Reply

    Was für eine perfide Katze, die sich da in den Schwanz beisst.

  4. jo Thu 3 Feb 2011 at 18:29 - Reply

    Servus Max, hier sieht’s nach Recherche vor Ort aus:
    http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-64279-15.html

  5. crackpille Fri 4 Feb 2011 at 11:00 - Reply

    Du vergisst die Macht des Souveräns. Das Volk kann sich selbstverständlich jederzeit eine Verfassung nach seinen Wünschen geben – denn es ist das Volk. Und damit die Quelle allen Rechts und aller Macht.

  6. […] Max Steinbeis verweist darauf, dass ein Rücktritt Mubaraks kein Ende der Autokratie bedeuten würde. Denn nach der geltenden Verfassung muss ein neuer Präsident binnen 60 Tagen gewählt werden. Der Kandidat wird von einem Drittel des Parlaments ernannt und dann in einem Plebiszit zur Abtstimmung gestellt. Da Mubaraks Partei NDP die Mehrheit im Parlament hat, würden die Ägypter also vom Regen in die Traufe kommen. […]

  7. Fritz Teich Fri 4 Feb 2011 at 23:08 - Reply

    Es geht auch anders, siehe Art 82. Und sowieso. Albernes Bedenken

  8. […] viele davon von Mubarak im Nachhinein durchgedrückt, um seine Tyrannei zu festigen. Über den Artikel 76 und seine üblen Auswirkungen habe ich schon […]

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