Im asylrechtlichen Niemandsland zwischen Europa und Italien
Im Februar 2020 hatte Italien schon einmal alle Überstellungen unter Bezugnahme auf die Last der Covid-19-Pandemie ausgesetzt. Jetzt lässt der Staat erneut keine Geflüchteten mehr an sich überstellen. Seit kurz vor Jahreswechsel befinden sich Geflüchtete, deren Asylanträge nach der so genannten Dublin-III-Verordnung in Italien bearbeitet werden müssten, deshalb in der Schwebe. Sie werden nicht nach Italien überstellt, doch auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hält sich nach §29 Abs. 1, Nr. 1, lit. a) AsylG für nicht zuständig für ihren Antrag auf internationalen Schutz. Das bedeutet für die Betroffenen eine Status-Hängepartie, ihr Asylgesuch wird vorerst nicht bearbeitet.
Herbeigeführt hat diesen Zustand die neue Regierung unter Giorgia Meloni, deren Innenministerium in einem Schreiben von Dezember 2022 allen Mitgliedsstaaten der Dublin-III-VO mitteilen ließ, dass Überstellungen in die Italienische Republik derzeit vorübergehend suspendiert seien. Wie diese kurze Mitteilung zu bewerten ist, ist eine Herausforderung – nicht nur in politischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht.
Einige Staaten sind öfter zuständig als andere
Um das Problem zu erfassen, lohnt es sich, zunächst einen Blick in die vielschichtigen Zuständigkeitsregelungen des dritten Kapitels der Dublin-III-VO zu werfen. In absteigender Berücksichtigungsreihenfolge gelten für bestimmte Schutzsuchende besondere personenbezogene Zuteilungsgründe. Liegen solche nicht vor, richtet sich die Zuständigkeit für einen Asylantrag nach der Einreise, für deren Beurteilung das Verursacherprinzip maßgeblich ist. Derjenige Mitgliedsstaat, der die Einreise erlaubt oder den illegalen Grenzübertritt zugelassen hat, ist zuständig. Nur, wenn keine dieser personen- oder verursacherbezogenen Regelungen vorrangig Anwendung findet, ist der erste Mitgliedsstaat zuständig, in dem der Geflüchtete einen Antrag auf internationalen Schutz stellt. Diejenigen Mitgliedsstaaten der Dublin-III-VO, die Geflüchtete auf dem Land- oder Seeweg als erste erreichen, sind demzufolge öfter für internationale Schutzgesuche zuständig als solche, die umgeben sind von einer oder mehreren Landgrenzen mit anderen Mitgliedsstaaten.
Stellt ein Mitgliedsstaat seine Unzuständigkeit fest, kann er die geflüchtete Person an den seiner Ansicht nach zuständigen Staat überstellen. Für Deutschland strebt das BAMF in solchen Fällen ein Aufnahmeverfahren nach Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO an, welches grundsätzlich nach drei Monaten beantwortet werden muss.
Verweigerung der (Wieder-)Aufnahme von Geflüchteten
Gegen die Schieflage in der Verteilung der Zuständigkeit zur Bearbeitung internationaler Schutzgesuche versuchen sich die Mitgliedsstaaten immerfort zu wehren. Die einen Mitgliedsstaaten kommen den Aufnahmeverfahren gar nicht erst nach, während die anderen versuchen, das Aufleben ihrer nachrangigen Zuständigkeit um jeden Preis zu verhindern. Als Italien 2020 unter Verweis auf die Covid-19 Pandemie alle (Wieder-)Aufnahmeverfahren von Geflüchteten abbrach, reagierte das BAMF, indem es die Betroffenen darauf hinwies, dass die Frist zur Beantwortung ihres Überstellungsgesuchs ausgesetzt sei (nach §80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art 27 Abs. 4 Dublin-III-VO). Die Zuständigkeit der Bundesrepublik sollte dem BAMF zufolge also nicht nach Ablauf einer sechsmonatigen Frist eintreten, wie eigentlich in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO vorgesehen. Stattdessen sollte abgewartet werden, bis die zuständigen italienischen Behörden wieder in der Lage wären, Überstellungen zu bearbeiten.
Betroffene waren infolgedessen mit Ungewissheit konfrontiert. Ihr Asylgesuch, so die Entscheidung des BAMF, würde nicht bearbeitet, bis Italien das Überstellungshindernis beseitigt hätte.
Dieses Vorgehen verstieß indessen nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gegen das Recht der Geflüchteten auf zügige Durchführung ihres Asylverfahrens.1) Über ein Asylgesuch müsse zügig entschieden werden, um den Verfahrensgarantien der Dublin-III-VO zu entsprechen. Die Frist auszusetzen, so das Gericht, sei unzulässig, da schon ihrer Verlängerung nach Art. 29 Abs. 2, S. 2 Dublin-III-VO Ausnahmecharakter zukomme.2)
Weist die aktuelle ungewisse Lage auf systemische Schwachstellen hin?
Die aktuelle Situation ähnelt dem Sachverhalt der Entscheidung des EuGH. Erneut werden die Zuständigkeitsnormen der Dublin-III-VO auf die Probe gestellt. Das BAMF kann auch jetzt weder nach Italien überstellen oder abschieben, noch sieht es sich selbst als zuständig für die Asylanträge an. Es lehnt sie ab, womit Geflüchtete abzuwarten gezwungen sind, ob und bis Italien die Suspendierung aufhebt.
Gegen diese unsichere Überstellungslage haben nun einige Geflüchtete vor den Verwaltungsgerichten Klage erhoben. Dort argumentierten ihre Prozessbevollmächtigten vordergründig, dass in Italien schwerwiegende Schwachstellen in der Bearbeitung von Asylanträgen herrschten, die einer Überstellung nach Art. 3 Abs. 2, S. 2 Dublin-III-VO entgegenstünden. Die italienische Suspendierung weise auf dauerhafte systemische Mängel des Asylsystems und der Aufnahmebedingungen hin.
Wird den Betroffenen von den Verwaltungsgerichten zugestimmt, lebt die Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Bearbeitung ihrer Asylanträge auf (Art. 3 Abs. 2, S. 3 Dublin-III-VO).
Dazu müsste jedoch festgestellt werden, dass es in Italien wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich bringen, vgl. Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO.
Es kommt also auf die Auslegung der systemischen Schwachstelle im Lichte von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (GrCh) an. Der EuGH entschied einst zur wortgleichen Dublin-II-VO, es dürfe nicht an einen zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wenn nicht unbekannt sein könne, dass die systemischen Mängel des dortigen Asylverfahrens eine Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung befürchten ließen.3) Dabei ist nach neuerer Rechtsprechung von einer besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit auszugehen.4) Die Mitgliedsstaaten begegneten einander grundsätzlich mit gegenseitigem Vertrauen, womit die Schwelle nur erreicht sei, wenn die Bedingungen innerhalb des Mitgliedstaats von öffentlicher Unterstützung abhängige Personen in extreme materielle Not fallen ließen.5) Erforderlich sei ein mit der Menschenwürde unvereinbarer, physisch oder psychisch gesundheitsgefährdender Zustand. Diese Schwelle müsste hinsichtlich der Italienischen Republik erwiesenermaßen erreicht sein.
Ist die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit in Italien erreicht?
Zur Begründung des Aufnahmestopps zog das italienische Innenministerium plötzlich auftretende technische Gründe und die Nichtverfügbarkeit von Aufnahmekapazitäten heran.6)
Wie diese vorübergehende Suspendierung zu bewerten ist, wird unterschiedlich gesehen. Das Verwaltungsgericht Göttingen folgte dem Vorbringen des BAMF, wonach schon der Wortlaut des Schreibens („suspend“) nicht für eine grundsätzlich fehlende (Wieder-)Aufnahmebereitschaft der Italienischen Republik spreche.7) Die Erklärungen des Innenministeriums enthielten zudem eine ausdrücklich formulierte Notwendigkeit der erneuten Terminierung von Überstellungen. Zudem erleide der Antragsteller durch eine entsprechende Verzögerung seiner Überstellung keinen Nachteil, er könne gar profitieren, da seine Rechtsposition durch den Zuständigkeitsübergang bei Fristablauf gem. Art. 29 Abs. 2 Dublin-lll-VO geschützt sei.
Anders entschied kürzlich das Verwaltungsgericht Arnsberg: Die vorübergehende Natur der Suspendierung sei alles andere als eindeutig. Vielmehr spreche für das Bestehen systemischer Schwachstellen in Italien, dass der Staat offenkundig zum jetzigen Zeitpunkt gar keine Kapazitäten zur Aufnahme Geflüchteter habe.8) Im Urteil vom 24. Januar 2023 heißt es weiter: „Es handelt sich bei realitätsnaher Bewertung schlichtweg um eine diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin Rückkehrern auf ,unbestimmte Zeit’.“9) Dies zeige sich auch daran, dass die ‚Verweigerungshaltung‘ Italiens im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit über 7 Wochen andauere und nicht absehbar sei, ob und wenn ja, ab wann Italien seinen Verpflichtungen aus der Dublin III-VO (wieder) nachkommen werde.
Diese Argumentationslinie, nach der die Suspendierung für systemische Schwachstellen spricht, erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Rechtsprechung des EuGH überzeugend. Wenn erstens schon die Verlängerung einer Frist zur Durchführung eines Überstellungsgesuchs Ausnahmecharakter hat (s.o.), kann die zeitlich nicht klar begrenzte und nicht näher begründete Suspendierung aller Aufnahmen erst recht keine rechtmäßige Maßnahme sein. Zweitens hat das italienische Innenministerium mit seinen Schreiben selbst bestätigt, dass die eigenen Möglichkeiten zur Bearbeitung von Asylverfahren momentan erschöpft sind. Darüber vermag auch Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO nicht hinweg zu helfen.
Im Übrigen zeigen sich die schwerwiegenden Probleme Italiens in der Versorgung Geflüchteter auch darin, dass der Staat Seenotrettungsschiffe zum Umweg nach Norditalien zwingt. Die Unzulänglichkeiten enden nicht, wenn die Geflüchteten untergebracht werden, da die ihnen zur Verfügung gestellten Sozialleistungen zumindest in der Vergangenheit unsicher waren und zu gering zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse ausfielen. 2018 noch erhielten Geflüchtete in Italien lediglich 75 Euro im Monat – und auch das nur, sofern sie in einer Unterkunft lebten. Bereits im Jahr 2021 entschied das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, dass nicht nach Italien überstellt werden könne, da Personen, die ihre dortige Unterkunft ohne Ankündigung verließen, bei Rückkehr keinen Anspruch mehr auf Unterbringung und Sozialleistungen hatten, womit sie von Obdachlosigkeit bedroht waren.
Insoweit scheinen die Indizien extrem widriger Bedingungen für Geflüchtete in Italien hierzulande insgesamt nicht unbekannt zu sein. Es wäre mithin zumindest von den italienischen Behörden zu verlangen, dass sie die Umstände, aus denen Aufnahmen gerade nicht möglich sein sollen, näher beschreiben. Ansonsten muss Deutschland in die Zuständigkeit für ihre Asylanträge eintreten.
References
↑1 | EuGH Urt. v. 22.9.2022 – C-245/21, C-248/21, BeckRS 2022, 24503, Rn. 56-60. |
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↑2 | EuGH Urt. v. 22.9.2022 – C-245/21, C-248/21, BeckRS 2022, 24503, Rn. 68. |
↑3 | EuGH Urt. v. 21.12.2011 – C-411/10, BeckRS 2011, 81939, Zweiter Leitsatz. |
↑4 | Nusser, J. in Bergmann/Dienelt/Bergmann, EU-Grundrechte-Charta, 14. Aufl. 2022, Art. 4 Rn. 3. |
↑5 | EuGH Urt. v. 19.3.2019 – C-163/17 Rn. 92. |
↑6 | In dem Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 7. Dezember 2022 heißt es:
„Dear Colleagues, I write following the previous communication on 5th December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family reunification of minors, due to the unavailability of At this regard, considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform We thank you very much for your understanding.“ |
↑7 | VG Göttingen, Beschluss v. 6. Januar 2023, Az. 1 B 170/22. |
↑8 | VG Arnsberg Urt. v. 24.1.2023 – 2 K 2991/22.A, BeckRS 2023, 542, Rn. 35-37. |
↑9 | VG Arnsberg Urt. v. 24.1.2023 – 2 K 2991/22.A, BeckRS 2023, 542, Rn. 33. |
Sehr geehrte Frau Lauterbach,
ich möchte hier keinen Kommentar hinterlegen sondern lediglich auf eine “Weiterentwicklung” in dieser Sache verweisen:
https://www.eda.admin.ch/europa/de/home/aktuell/medienmitteilungen.html/content/europa/de/meta/news/2023/5/31/95505
“Laut Innenminister Piantedosi arbeitet Italien derzeit an einer Erhöhung der Unterbringungskapazitäten, damit es in den nächsten Monaten wieder Dublin-Überstellungen annehmen kann, wenn die Situation dies zulässt.”
Beste Grüße