Im Parlamentsrevier
Hat die Bundestagspolizei eine gesetzliche Grundlage – oder muss die erst noch geschaffen werden?
Die Bundestagspräsidentin1) übt nach Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG das Hausrecht und die Polizeigewalt in den Gebäuden des Bundestages aus. Beide Befugnisse gehören zum Kernbestand der Parlamentsautonomie, also des Rechts des Parlaments, seine (grundlegenden) Angelegenheiten selbst zu regeln und wahrzunehmen. Um die Polizeigewalt durchsetzen zu können, verfügt der Bundestag als einziges deutsches Parlament über eine eigene Polizei, für die Bundestagspräsidentin nun eine transparente und detaillierte Rechtsgrundlage schaffen möchte. Trotz vieler Vorzüge wäre ein solches Gesetz verfassungswidrig.
Eine Verfassungsvorschrift als Aufgaben- und Befugnisnorm
Die Bundestagspolizei schützt das Parlament vor Eingriffen der Exekutive und der Judikative sowie sonstiger Dritter und sichert die Funktionsfähigkeit (Arbeitsfähigkeit) des Bundestages, vor allem die Freiheit seiner Willensbildung. Das Hausrecht und die Polizeigewalt sind nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG voneinander zu unterscheidende, eigenständige Befugnisse der Bundestagspräsidentin. Der Bundestag darf ihr keine Vorgaben machen und Hausrechts- oder Polizeimaßnahmen ändern oder aufheben. Die Polizeigewalt – um die es im Folgenden gehen soll2) – ist öffentlich-rechtlicher Natur. Die Polizei beim Deutschen Bundestag ist die kleinste Polizei des Bundes. Sie übt die Polizeigewalt im Auftrag und unter Aufsicht der Bundestagspräsidentin aus.
Ohne Zweifel definiert Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG die Polizeigewalt als Aufgabe. Aber ist sie auch eine Befugnisnorm? Eine vereinzelt vertretene Auffassung verneint dies. Das BVerfG hat die Frage offengelassen (BVerfGE 154, 354 Rn. 42, 45, 48.). Die herkömmlich, noch heute bei weitem herrschende Meinung geht hingegen zu Recht davon aus, dass Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG auch eine Befugnisnorm ist.3) Der Bundestag teilte diese Meinung bislang. Die Gegenansicht bestreitet den Charakter als Befugnisnorm und verlangt eine parlamentsgesetzliche Regelung der Befugnisse der Bundestagspolizei.4)
Die herrschende Meinung überzeugt, weil das Grundgesetz – anders als etwa beim Wahlrecht oder Abgeordnetenrecht (Art. 38 Abs. 3 und Art. 48 Abs. 3 GG) – dem Bundesgesetzgeber nicht aufträgt, „das Nähere“ zu regeln.5) Die Bundestagspolizei kann sich somit für ihr Eingriffshandeln auf die Verfassung selbst stützen. Über die Reichweite der Befugnisse besagt der Wortlaut des Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG nichts. Sie können zum einen aus dem Begriff „Polizei“ und zum anderen aus dem Normzweck hergeleitet werden. Der Normzweck liegt darin, die Funktionsfähigkeit des Bundestages sicherzustellen. Der Begriff „Polizei“ verweist richtiger Ansicht nach auf den sog. materiellen Polizeibegriff.6) Die Polizeigewalt umfasst damit alle Befugnisse, die zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in den Bundestagsgebäuden erforderlich sind. Damit sind die in den Polizeigesetzen des Bundes und der Länder im wesentlichen übereinstimmenden Grundsätze des deutschen Polizeirechts maßgebend.7) Die nicht bekannt gemachte oder anderweitig veröffentlichte „Dienstanweisung für den Polizeivollzugsdienst beim Deutschen Bundestag“ (DA-PVD) – eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift (vgl. BVerfGE 154, 354 Rn. 43; unter der dortigen Rn. 3 finden sich einige Vorschriften der DA-PVD) – orientiert sich nach Aussage des Bundestages an dem Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz und sieht Eingriffsbefugnisse vor, die mit denen der Polizeigesetze der Länder und des Bundespolizeigesetzes weitgehend übereinstimmen. Maßnahmen, die grundsätzlich besonderen Ordnungsbehörden, z.B. im Bereich des Bau- oder Gewerberechts, vorbehalten sind, erfasst die Polizeigewalt nur, wenn die verfassungsgemäße Aufgabenwahrnehmung des Parlaments (ausnahmsweise) berührt ist.8) Repressive Maßnahmen nach StPO oder OWiG sind der Bundestagspolizei grundsätzlich verboten,9) da die Polizeigewalt nur präventive Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die Funktionsfähigkeit des Bundestages umfasst. Ob die Bundestagspolizei gleichwohl die Befugnisse nach § 127 Abs. 2 und § 163 StPO besitzt, ist umstritten, aber zu bejahen.10) Der Polizeigewalt ist grundsätzlich jeder unterworfen, der sich in den Bundestagsgebäuden aufhält, zutreffender Auffassung nach auch Abgeordnete während der Plenarsitzungen.11) Polizeiverfügungen und Polizeirechtsverordnungen können durch Zwangsmittel gemäß §§ 6 ff. VwVG und § 1 Abs. 1, § 6 Nr. 1 UZwG durchgesetzt werden.12) Andere Polizei-, Strafverfolgungs- oder Verwaltungsbehörden, dürfen zum Zwecke der Gefahrenabwehr in den Bundestagsgebäuden nur im Wege der Amtshilfe auf Anforderung und auf Weisung der Bundestagspräsidentin oder bei Gefahr im Verzug tätig werden13) – also dann, wenn ausnahmsweise die Mittel der Bundestagspolizei nicht ausreichen.
Die Idee eines Bundestagspolizeigesetzes
Der traditionelle und rechtlich überzeugende Verweis auf Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG scheint aber manchen nicht mehr zu genügen. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat eine parlamentsgesetzliche Normierung der datenschutzrelevanten Befugnisse schon mehrfach verlangt (z.B. hier, S. 228, und hier, S. 59). Nach einer Äußerung der Bundestagspräsidentin soll der Entwurf eines „Bundestagspolizeigesetzes“ den Fraktionen übermittelt und vom Bundestag verabschiedet werden. Die Bundestagspräsidentin argumentiert mit einem erhöhten Schutzbedürfnis des Parlaments. Und tatsächlich gab es in den letzten Jahren den versuchten Sturm auf den Reichstag oder bei Störaktionen von Corona-Leugnern im Gebäude, die einen erhöhten Schutzbedarf zeigen. Ob der Entwurf hierauf eingehen und welche Lösungen er präsentieren wird, lässt sich nicht sagen, weil er der Öffentlichkeit derzeit noch nicht vorliegt. Unabhängig davon ist ein Bundestagspolizeigesetz verfassungsrechtlich wie gesehen nicht geboten. Die Zuständigkeit des Bundes lässt sich als eine an Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG anknüpfende Annexkompetenz einstufen14) und somit zweifellos bejahen.
Ein Bundestagspolizeigesetz hätte mehrere Vorzüge: Erstens würde sich der Rechtsstreit um die Befugnisnormen der Bundestagspolizei erledigen. Das würde die Legitimation ihrer wichtigen Arbeit erhöhen. Zweitens könnte jedermann – anders als bisher – die Handlungsgrundlagen und Eingriffsbefugnisse der Bundestagspolizei genau nachvollziehen. Drittens bestünde die Möglichkeit, die aktuellen Entwicklungen des Polizeirechts in das Bundestagspolizeigesetz einfließen zu lassen. Hierzu könnten die bisher in der DA-PVD und die im BPolG genannten Befugnisse abgeglichen werden. Viertens könnte die Zusammenarbeit mit anderen Polizeibehörden des Bundes und der Länder eindeutig geregelt werden. Der Informationsaustausch ist gerade angesichts gestiegener Anforderungen an die Gefahrenabwehrbehörden so wichtig wie nie. Vielleicht könnte sogar der Informationsaustausch mit den Ämtern für Verfassungsschutz vorgesehen werden. Fünftens könnten die bisherigen Zweifels- oder Streitfragen durch ausdrückliche Normierung geklärt werden: Zunächst könnte durch eine ausdrückliche Bestimmung des Adressatenkreises des Gesetzes unter anderem klargestellt werden, dass die Abgeordneten auch während der Plenarsitzungen der Polizeigewalt (und nicht etwa nur der Ordnungsgewalt) unterliegen. Das Bundestagspolizeigesetz sollte außerdem vorsehen, dass der Bundestagspolizei die Rechte nach § 127 Abs. 2 und § 163 StPO zustehen. Des Weiteren könnte es hinsichtlich des Vollzuges auf §§ 6 ff. VwVG und § 1 Abs. 1, § 6 Nr. 1 UZwG verweisen.
Aber: Der Bundestag darf ein solches Gesetz nicht erlassen, da Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG die Polizeigewalt allein der Bundestagspräsidentin zuweist. Ein Gesetz ist damit ausgeschlossen – so sinnvoll es auf den ersten Blick und aus den genannten Gründen auch erscheinen mag.
References
↑1 | Da der Bundestag in der laufenden 20. Wahlperiode eine Präsidentin hat, wird im Folgenden nur die weibliche Form der Amtsbezeichnung verwendet. Für einen männlichen Präsidenten gelten die Aussagen dieses Beitrages natürlich genauso. |
---|---|
↑2 | Näher zum Hausrecht Austermann, JURA 2023, 419 ff. |
↑3 | Vgl. statt vieler Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 171; Brocker, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 40 Rn. 265; Austermann/Waldhoff, Parlamentsrecht, 2020, Rn. 338. |
↑4 | So Ramm, NVwZ 2010, 1461 (1465 f.); Friehe, DÖV 2016, 521 (522 ff.); Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht des Bundes und der Länder, 1991, S. 3. |
↑5 | Vgl. Raue, in: Dietrich/Fahrner/Gazeas/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, 2022, § 10 Rn. 54. |
↑6 | Vgl. statt vieler Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 152. |
↑7 | Vgl. Brocker, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 40 Rn. 52. |
↑8 | Wie hier Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 152; Brocker, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 40 Rn. 262; a.A. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 125. |
↑9 | Vgl. Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 152; Ramm, NVwZ 2010, 1461 (1463). |
↑10 | Wie hier Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht des Bundes und der Länder, 1991, S. 3; Köhler, DVBl. 1992, 1577 (1584); a.A. etwa Ramm, NVwZ 2010, 1461 (1463 f.). |
↑11 | Vgl. Brocker, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 40 Rn. 249 f.; StGH Baden-Württemberg, NJW 1988, 3199 (3200); a.A. (Verdrängung der Polizeigewalt durch die Ordnungsgewalt des sitzungsleitenden Präsidenten) Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, § 21 Rn. 36; Ramm, NVwZ 2010, 1461 (1463). |
↑12 | Vgl. Köhler, Die Rechtsstellung der Parlamentspräsidenten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 269. |
↑13 | Vgl. etwa Klein, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 40 Rn. 150, 155. |
↑14 | Ähnlich Raue, in: Dietrich/Fahrner/Gazeas/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, § 10 Rn. 54: Annexkompetenz zur Eigensicherung des Bundestages. |
Lieber Herr Austermann, ich mag komplett auf dem Schlauch stehen, aber ich hatte bisher unser Grundgesetz so verstanden, dass Eingriffe in Grundrechte durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes möglich sind. Selbst wenn man ausnahmsweise die von Ihnen zitierte grundgesetzliche Regelung des Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG als Aufgaben- und Befugnisnorm zugleich lesen möchte, so fehlt es dieser Befugnis doch an der Bestimmtheit, welche konkreten Eingriffe in Grundrechte der Bundestagspräsidentin in ihrer Funktion als Polizeibehörde unter welchen Voraussetzungen gestattet sind. Da liegt mE nichts näher, als diese pauschale Befugnis aus dem GG gesetzlich auszugestalten.
Die Bestimmtheitsprobleme setzen sich auf der Ebene der gerichtlichen Kontrolle fort: Worunter soll ein Verwaltungsgericht eigentlich bei der Prüfung einzelner Maßnahmen der Bundestagspolizei subsumieren? Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG ist als Maßstab einer solchen Prüfung ersichtlich ungeeignet.
Mit einem Wort: Ich kann dem Text schon im Ansatz nicht folgen und würde mich freuen, wenn Sie diesen Knoten auflösen könnten.
Ihr Einwand scheint mir im Hinblick auf über hundert Jahre polizeirechtlicher Rechtsprechung und Praxis arg konstruiert zu sein. Unklar ist mir auch, warum Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG als Verfassungnorm, wenn man sie denn als Befugnisnorm liest, eine andere Verfassungnorm, das Bestimmtheitsgebot, zum Maßstab haben sollte. Schließlich geht Ihr Einwand auch am zentralen Argument des Texts vorbei, nämlich dass das GG die Polizeigewalt ausschließlich dem Bundestagspräsidenten zuweist und sie somit dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist.
(Ihr Einwand funktioniert m.E. allenfalls umgekehrt: die Unbestimmtheit indiziert, dass es sich nicht um eine Befugnisnorm handeln kann, die dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist.)