06 December 2021

Impfen im Verfassungsstaat

Eine freiheitliche Begründung besonderer Rechtspflichten in besonderen Zeiten

I

Das „Impfangebot“ hat nicht funktioniert – Deutschland steht mitten in einer dramatischen vierten Infektionswelle. Wieder gehen die Lichter aus, wieder kämpfen Menschen um ihr Leben, wieder werden Existenzen ruiniert, wieder sind Kultur und Bildung unter infektionsschutzrechtlichen Vorbehalt gestellt. Bund und Länder treffen Sofortmaßnahmen und schärfen die gerade gelockerten gesetzlichen Bestimmungen nach. Und zugleich wissen wir besser als zuvor: 2G, 2G+ und sonstige Kontaktbeschränkungen lösen das Problem nicht, sondern kaufen nur Zeit, zu ungeheuren Kosten aller Art. Der anstehende „Wellenbrecher“ wird nach der bisherigen Erfahrung direkt wieder vor die nächste Welle führen. Und mit jeder Welle geht neue freiheitliche Substanz verloren, weil jedes Mal mehr Gewöhnung eintritt, dass Freiheit nur noch unter Vorbehalt zugeteilt ist.

Bemerkenswert ist nun, dass seit wenigen Tagen eine neue Handlungsoption auf dem Tisch liegt: Mit ziemlich rasanter Geschwindigkeit ist die deutsche Coronapolitik in den letzten zwei Wochen von ihrer frühen Prämisse – „Eine Impfpflicht wird es nicht geben“ – abgerückt. Schon stehen die sog. einrichtungsbezogenen Impfpflichten im Entwurf für die nächste Änderung des Infektionsschutzgesetzes, und auch eine allgemeine Impfpflicht hat in der Politik inzwischen vorsichtige bis entschiedene Fürsprecher quer durch die Parteien. Was lässt sich zu dieser Entwicklung sagen? Vor allem: Handelt es sich hier um die totale Entfesselung des Gesundheitsstaates, der nun auch noch letzte Grenzen hinter sich lässt?

Im Folgenden soll gezeigt werden: Eine vernünftig gemachte Impfpflicht kann – ganz im Gegenteil – der Weg zur Sicherung freiheitlicher Prinzipien sein. Sie ist in den gegebenen deutschen Verhältnissen das kleinere Übel, aus der andauernden staatlichen Vollsteuerung des gesamten Lebensraums zu entkommen. Eine Impfpflicht ermöglicht mit anderen Worten eine positive Freiheitsbilanz, individuell wie gesamtgesellschaftlich. Ein ganz prinzipieller Vorteil wäre im Übrigen: Der Rechtsstaat könnte so wieder zu sich selbst finden, indem er auf Rechtsfolgebereitschaft statt auf Moral setzt – die Bürger können mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein, es gelten aber für alle die gleichen Regeln.

Will man diese These vertreten, muss man starke Vorbehalte und Intuitionen überwinden, die ihr entgegenstehen. Denn eine Impfpflicht rührt, wer wollte das bestreiten, an prinzipielle Fragen. Zunächst soll hier das spezifische Gewicht des Grundrechtseingriffs „Corona-Impfpflicht“ eingeordnet werden (II). Im Anschluss sind Gründe und Gegengründe einer Impfpflicht anzusprechen. Das Verfassungsrecht kann die politische Entscheidung darüber nicht vorwegnehmen. Es kann aber geeignete und ungeeignete Argumente voneinander unterscheiden (III).

II

1. Dass gegenwärtig die gesetzliche Verpflichtung der Bevölkerung zu einer Impfung gegen das Corona-Virus geprüft wird, beruht auf zwei ziemlich schlichten Sachinformationen, die das Recht nicht selbst ermittelt, sondern von anderen Fachwissenschaften übernimmt. Bei aller Vorsicht vor entsprechenden Kurzformeln lässt sich insofern (erstens) sagen: Wären deutlich mehr Menschen in Deutschland geimpft, würde sich die Masse schwerer Infektionsverläufe vermeiden lassen. Man muss schon sehr stumpf sein, um die Relation zwischen regionaler Impfquote und regionaler Überlastung des Gesundheitssystems sowie die Auskünfte zur Zahl ungeimpfter Patienten auf den Intensivstationen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Impfen schützt – vor Infektionen, vor Erkrankung, vor Übertragung. Ja, es schützt jeweils nur relativ und auch nur zeitlich begrenzt, aber dieser Einwand widerlegt nicht das dreifache Grundfaktum. Wir müssen (zweitens) zur Kenntnis nehmen: Jeder erwachsene Einwohner der Bundesrepublik hat seit mehreren Monaten ein kostenloses Impfangebot erhalten. Aber ungeachtet eines Trommelfeuers freundlicher, beschwörender, drohender Aufforderungen der Impfkampagne ist ca. ein Drittel der Menschen dem nicht nachgekommen, allen Anreizen und Erschwernissen zum Trotz.

Im sozialen Rechtsstaat kann unser Gemeinwesen auf die Kombination dieser beiden Umstände nun zum Glück nicht in der Weise reagieren, dass es Ungeimpfte einfach an dieser Entscheidung festhält und sie also von (intensiv-) medizinischer Behandlung ausschließt. Denn der Topos der Eigenverantwortung, auf den unsere Verfassungsordnung ja durchaus gebaut ist, ist eben (auch) nur relativ gültig. Man kann ihn durch praktische Politik stärken oder schwächen – aber man kann ihn an den Grenzen der Gesundheit und des Lebens staatlicherseits nicht einfordern. Statt einer individuellen Haftung für Vorverhalten gilt eine ressourcenbezogene Begrenzung der medizinischen Behandlung für Jedermann, geimpft oder ungeimpft. Aus diesem Umstand folgt relativ schmucklos, dass die Staatsleitung jedenfalls für eine eng begrenzte Zeit sehr weit gehen darf, wenn sie eine solche Erschöpfung der Ressourcen vermeiden will (auch wenn man die Alternativlosigkeit der Politik der letzten 18 Monate mit vielen Gründen bestreiten sollte). Also: Wie über fast zwei Jahre jedes andere staatliche Verbot oder Gebot für denkbar gehalten wurde, ist auch eine Impfpflicht angesichts der damit verbundenen medizinischen Effekte zunächst einmal ein mögliches Mittel, der Überlastung der „öffentlichen Gesundheit“ entgegenzuwirken.

2. Impfen wäre dabei keineswegs eine neue, bisher gänzlich vermiedene Rechtspflicht. Im Gegenteil: Seit gut 200 Jahren, seit dem Beginn der staatsrechtlichen Moderne, wurden Impfpflichten zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten jedenfalls der Aufhebung der allgemeinen Bürgerfreiheit vorgezogen, wie sie mit dem Begriff des Lockdowns verbunden ist, diesem Ausnahmezustand im Verwaltungsmodus. Relativ umstandslos positiv skizzieren denn auch verfassungsrechtliche Lehrbücher und Kommentare die allgemeine Möglichkeit einer Impfpflicht: Sie stellt zweifellos einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit dar, das (u. a.) von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützt ist. Dieses Grundrecht steht freilich unter ausdrücklichem Gesetzesvorbehalt, Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, kann also beschränkt werden. Dafür braucht es eine ausreichende Rechtfertigung, die bei übertragbaren und potentiell lebensgefährlichen Krankheiten schon aus Gründen des Schutzes Dritter regelmäßig angenommen wird.

Dieser Grundhaltung entsprachen und entsprechen die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes, das neben den vielen empfohlenen Impfungen allgemeine Impfpflichten in der Vergangenheit kannte (etwa Pocken) und auch jetzt kennt, nämlich just seit Anfang 2020 die Schutzimpfung gegen Masern für alle schulpflichtigen Kinder, § 20 Abs. 8 IfSG, also die gesamte minderjährige Bevölkerung. Man könnte etwas allgemeiner sagen: Impfen gehört zu den bekannten Instrumenten des modernen Staats, um die Lebensverhältnisse der Menschen abzusichern, die immer mehr auf Verdichtung und Begegnung angelegt sind. Solche Impfungen werden üblicherweise Kindern auferlegt und liegen deshalb (durchaus bezeichnend) etwas außerhalb des staatsrechtlichen Bewusstseins zu Bürgerrechten und -pflichten. Praktisch reicht eine Empfehlung für „Herdenimmunität“ (was für ein Wort) in der Regel aus; ggfs. wird aber auch durch Pflichten nachgeholfen. Nur am Rande: Hinsichtlich möglicher Impfschäden werden empfohlene und staatlich angeordnete Impfungen seit langem gleich behandelt, § 60 IfSG. Denn natürlich gilt für jede Impfung einschließlich der Impfungen gegen das Corona-Virus: Es können und es werden auch bei erprobten Impfstoffen Schäden entstehen, im extrem seltenen Einzelfall mit tödlichen Folgen. Auch das Wissen um solche „Sonderopfer“ hat staatliche Impfpflichten und Impfempfehlungen bisher nicht ausgeschlossen; es verpflichtet zu aufwendigen Zulassungsverfahren und begleitender Beobachtung der Impfverläufe, um solche Unglücke zu minimieren, und es verpflichtet zu Entschädigung, wenn sie doch geschehen.

3. Es ist nun offensichtlich, dass die Dinge in Sachen Corona trotz dieser allgemeinen Auskünfte nicht so einfach liegen. Zunächst ist die körperliche Unversehrtheit eben doch ein ganz besonderes Schutzgut, dessen Verhältnis zu anderen Rechten nochmals näher bestimmt werden muss, wenn es in Sachen Impfpflicht konkret wird. Zum Teil ist in diesem Zusammenhang zu hören, dass vor einer Pflichtimpfung erst alle anderen Maßnahmen erschöpft sein müssten. Will sagen: Alle anderen Freiheiten können, ja müssen vorher beschränkt und eigentlich sogar aufgegeben werden, bevor man die körperliche Unversehrtheit durch eine Impfpflicht beschränkt. Der kategorische Ausschluss einer Impfpflicht, der sich mit der Bereitschaft zu härtesten Verboten aller Art verband – also die Doktrin der scheidenden Bundeskanzlerin – konnte in diesem Sinn verstanden werden. Doch auch wenn die existentielle Bedeutung des unversehrten Körpers anzuerkennen ist: Ein prinzipieller Vorrang der körperlichen Unversehrtheit gegenüber anderen Rechten und Freiheiten ist dem Verfassungsstaat um seiner selbst willen fremd. Denn der ist darauf gegründet, die Gesamtheit seiner Werte – Einigkeit und Recht und Freiheit – zu bewahren, und das steht nicht etwa unter dem Vorbehalt, dass es dabei in keinem Fall zu einer Beschränkung der körperlichen Unversehrtheit kommen darf. Dass die Überwindung der Hautbarriere und die Beeinflussung biologischer Vorgänge durch staatlichen Befehl gleichwohl eine starke Abwehrhaltung und hohe Begründungslasten auslöst, ist eine kulturelle Errungenschaft, die für uns durch die Abwesenheit von Krieg, Seuchen und Armut zu einem Normalfall geworden ist – glücklicherweise. Aber darauf folgt nicht, dass wegen dieser positiven Erfahrung ein normativer Vorrang der körperlichen Unversehrtheit innerhalb der Freiheitsordnung erwachsen ist. Für eine solche Überhöhung gibt jedenfalls das positive Verfassungsrecht nichts her, das die notwendige Abwägung von Kosten und Nutzen der Freiheitsbeschränkung im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern hier wie auch sonst eröffnet.

An dieser Stelle ist nun etwas Erstaunliches festzustellen: Gegen eine Coronapflichtimpfung erheben sich nicht nur die Stimmen der prinzipiellen Impfgegner, deren Geschichte ebenso alt ist wie die Geschichte der staatlichen Impfkampagnen – ein durchaus notwendiger gesellschaftlicher Stachel gegen staatlichen Präventionsübermut. Sondern auch in der virologischen Fachwissenschaft wird zwar die Impfung dringend empfohlen, von einer Pflichtimpfung aber gelegentlich abgeraten. Das Hauptargument lautet: Pflichtimpfungen habe man bisher nur mit Totimpfstoffen vorgesehen und vor allem auch nur dann, wenn ein- oder höchstens zweimal geimpft werden müsste und im Übrigen dadurch ein Virus ausgerottet werden könne. Diese Argumente zeigen: Auch die moderne virologische Wissenschaft argumentiert gelegentlich extrem pfadabhängig. Aus Sicht des Verfassungsrechts sind diese tradierten Muster einer Pflichtimpfung schlicht nicht relevant. Denn die verfassungsrechtliche Frage ist zunächst nur, ob sich eine Pflichtimpfung medizinisch eignet, die Ausbreitung des Coronavirus zu begrenzen. Insofern ist die Antwort epidemiologisch eindeutig: Mehr Impfungen helfen mehr; ein absolutes Ziel („Sieg über das Virus“ o. ä.) ist nicht erforderlich; sonst wäre auch keine andere Coronamaßnahme für sich allein je zulässig gewesen. Und für die Empfehlung und die Verpflichtung zu einer Impfung gelten medizinethisch hoffentlich ohnehin die gleichen Maßstäbe – jedenfalls kann sich die Virologie ihrer eigenen Verantwortung nicht durch den Verweis auf die freiwillige Entscheidung der Geimpften entziehen.

Die verfassungsrechtlich gebotene Eignung und Notwendigkeit einer Impfung lässt sich freilich auch noch aus einer anderen Perspektive bestreiten. Sie sei gegenüber anderen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und sonstigen Verboten deshalb nachrangig, weil sie nicht unmittelbar helfe, sondern erst mit einem Vorlauf von sechs bis acht Wochen. Das freilich ist ein Hase-und-Igel-Argument, das im Endeffekt zu einem völlig ineffektiven Kreislauf führt: Immer wieder wäre eine Impfpflicht ausgeschlossen, weil aktuell andere Maßnahmen sofort wirken – und später ist sie dann umso weniger möglich, weil situativ nicht mehr erforderlich, bis zum nächsten Lockdown. Dem ist entgegenzuhalten, dass „2G“ das Problem des fehlenden Impfschutzes von vornherein nicht löst, sondern nur den Eintritt einer Infektion verschiebt. Solche Ausschlussmaßnahmen sind also nicht gleich geeignet wie eine Impfung, die nach den verfügbaren Daten zumindest die Wahrscheinlichkeit von Infektion, Erkrankung und Übertragung senkt, und daher ist der Lockdown auch kein vorgängiges Mittel. Wer der rollierenden Anwendung von 2G-Regeln als milderes Mittel das Wort redet, ist im Übrigen auch grundrechtstheoretisch nicht auf der Höhe der Zeit: Ganz zweifellos sind auch 2G-Beschränkungen massive Grundrechtsbeschränkungen für Ungeimpfte, nach der herrschenden Lehre vom modernen Eingriff im Übrigen wegen ihrer Intentionalität letztlich ziemlich unbestritten auch schon in Bezug auf das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit. Die umfassende Bedrängung der Menschen, die am Ende nur noch formal einen freien Entschluss fassen, kann nur bei ziemlich zynischer Betrachtung als „bloße Aufklärung“ oder „Anreiz“-Struktur eingeordnet werden. Und wie gesagt: Das Impfentschädigungsrecht selbst behandelt Empfehlung und Verpflichtung sowieso gleich.

Schließlich ist in Hinblick auf die Angemessenheit einer allgemeinen Impfung noch zu bedenken, dass sie statistisch für die meisten Bürger nicht lebensnotwendig ist. Von Anfang an war ja in der Tat klar, dass jedenfalls die bisher bekannten Virusstämme für den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung gerade nicht zu schweren Verläufen führen. Ist also ein individuell belegbarer Nutzen notwendig, um eine Impfung zu rechtfertigen? Mal davon abgesehen, dass diese Frage ja auch in Bezug auf alle anderen Freiheitsbeschränkungen gestellt werden könnte: Diesem Argument unterläuft ein Kategorienfehler, wenn ein im Einzelfall belegbarer Individualnutzen gefordert wird. Auch bei stärker lebensbedrohlichen Krankheiten, die mit den in Deutschland üblichen Impfungen bekämpft werden, ist die individuelle Wahrscheinlichkeit tödlicher Verläufe in aller Regel nicht überwiegend, da müsste man schon auf Cholera oder Pest zurückgreifen. Man kann anders herum sagen: Es besteht bei einer Corona-Impfung durchaus die Chance auf einen individuellen Nutzen, und es besteht die Sicherheit eines kollektiven Nutzens. Und dieser kollektive Nutzen darf in die Rechtfertigungsbilanz eingerechnet werden. Es wäre jedenfalls ganz unüblich, nur auf eine hochindividuelle Beziehung zwischen Impfadressat und Staat zu blicken; der Schutz Dritter und der Nutzen für die Allgemeinheit tragen auch sonst Rechtspflichten aller Art, auch solche höchstpersönlicher Natur.

Trotz aller Besonderheiten der Coronalage lässt sich also insgesamt feststellen: Die Möglichkeit einer Impfpflicht ist verfassungsrechtlich nach den üblichen Kategorien von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung mittels des Maßstabs der Verhältnismäßigkeit nicht ausgeschlossen.

III

1. Wie lassen sich dann die Gründe für und gegen eine Impfpflicht ordnen? Zunächst könnte man so beginnen: Eine Rechtspflicht zur Impfung entspricht – im durchaus guten Sinn – den Tiefenschichten der deutschen Verfassungsentwicklung. Anders als die meisten anderen Verfassungsstaaten haben wir die „Freiheit zu tun, was nicht verboten ist“, zu einem echten Grundrecht erklärt. Die allgemeine Handlungsfreiheit in dieser Ausdeutung hat uns einen materiellen Freiheitsgewinn, vor allem aber eine spezifische Rationalität beschert: Es gilt das rechtsstaatliche Verteilungsschema, wonach der Staat durch förmliche gesetzliche Regeln bestimmen muss, was die Pflichten der Bürger sind. Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz, ein allgemeines Bürgerverhalten über moralische Appelle zu erreichen, in gewisser Weise verfassungsfremd. Es ist gerade nicht Voraussetzung der geltenden Ordnung, dass ihre Festlegungen in inhaltlicher Hinsicht von Jedermann umfassend geteilt werden – sie müssen lediglich ordnungsgemäß und mit hinreichender sachlicher Rechtfertigung beschlossen werden; darauf haben wir uns in der Demokratie auf Gegenseitigkeit geeinigt. Man kann es durchaus deutlich sagen: Staatliche Moralappelle sollen geradezu ein staatsbürgerliches Störgefühl auslösen. Und deswegen haben sich viele Bürger im letzten Jahr nicht wegen, sondern trotz der ständigen Unterweisung für eine Impfung entschieden. Für eine rechtliche Impfpflicht könnte also etwas gelten, was auch viele andere Corona-Vorgaben für sich in Anspruch nehmen: Ich muss gerade nicht glauben, dass es (mir) hilft, erkenne aber Gebote und Verbote an, solange sie nicht völlig irre sind. Weniger Moral, mehr Rechtsgesinnung wäre für das Staat-Bürger-Verhältnis ein neuer Startpunkt, der von Seiten der neuen Regierungsmehrheit auch ein allgemeines, eigentlich fast befreiendes Signal gäbe. Ein freier Bürger darf in der Tat manches, was der Staat ihm zumutet, falsch finden – und wird sich trotzdem daran halten.

Anstelle einer solchen klaren Rechtspflicht nun ein immer lückenloseres Regime von 2G und 2G+ zu errichten und dadurch auf einen Impffortschritt zu hoffen, ist jedenfalls keine bessere oder mildere Alternative. Zum einen ist 2G+ für die geimpfte Bevölkerung eine Zumutung und zerstört den gerade beschriebenen Bürgersinn. Sich gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung schleunigst zu mäßigen, ist ein durchaus notwendiges Ziel der Coronapolitik, auch über Geimpfte kann man nicht grenzenlos verfügen. Denn wenn das Land wieder unterschiedslos der Logik von Kontaktbeschränkungen ausgeliefert wird, fragt man sich jeden Tag stärker, wie zielführend die Impfkampagne überhaupt ist. Vor allem ist aber wichtig, dass das davor liegende reine 2G (der „Lockdown für Ungeimpfte“) die Trennung im Land jeden Tag noch weiter vertieft: „Die“ lassen sich nicht impfen, und „wir“ sperren sie dafür aus. Die Ungeimpften bleiben die Anderen, statt sie als Gleiche in Rechten und Pflichten (und auch in ihren Ängsten) ernst zu nehmen.

2. Will man der Argumentation bis hierhin folgen, stellen sich praktische Fragen: Wird die Impfpflicht etwas nützen? Und wie kann sie ausgestaltet werden? Der Verfassungsrechtler wird in der Tat darauf setzen, dass die Eigenlogik des geltenden Rechts auch in der extremen Situation der Coronakrise seine Kraft entfalten kann und jedenfalls die Unschlüssigen und Unsicheren erreicht, die vor der Übermacht der Argumente in Deckung gegangen sind. Vorab beweisen lässt sich das nicht. Aber wollte man den Gedanken aufgeben, dass die Bürgerinnen und Bürger sich um das demokratisch gesetzte Recht versammeln und zugleich ihre individuelle Freiheit behalten, dieses Recht durchaus nicht durchgehend richtig finden zu müssen – dann hätten wir Demokratie und Rechtsstaat gleichzeitig aufgegeben, zugunsten einer diffusen Richtigkeitspolitik, die immer wieder ihre Alternativlosigkeit behaupten muss.

Zur Ausgestaltung einer Impfpflicht hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es nicht um einen Impfzwang geht. Die Impfpflicht setzt ein bisher nicht voll genutztes Instrument ein, die Rechtsfolgebereitschaft der Bevölkerung; die Bundesrepublik wird nicht zu einem Folterstaat. Wer eine Rechtspflicht ohne Zwangsmittel von vornherein für imperfekt hält, kennt sich mit der Rechtsordnung nicht besonders gut aus: Die Helmpflicht für Motorradfahrer (natürlich ebenfalls ein Eingriff in Grundrechte) wird auch nicht durch das zwangsweise Aufsetzen eines Helmes durchgesetzt, sondern durch Geldbußen und Untersagung der Weiterfahrt.

Wen sollte eine Impfpflicht treffen? Geradezu monströs ist jedenfalls der Gedanke, nun vorrangig die Kinder heranzuziehen, weil das verwaltungsmäßig so schön einfach ist – und weil wir gewohnt sind, bei Kindern nicht ganz so genau hinzuschauen, wenn es um ihre Rechte geht. Kinder tragen die Last der Pandemie bisher am stärksten, und eine Impfung nutzt ihnen am wenigsten. Wenn es irgendeine gruppenbezogene Relation gibt, dann die: Erst die Alten, dann die Kinder. Gerade eine liberale Sicht wird die formale Gleichheit der Staatsbürger zum Ausgangspunkt nehmen – gleiche Rechte, gleiche Pflichten – und daher erst ab der Volljährigkeit eine Pflicht für denkbar halten. Ob man dann noch weiter einschränkt und etwa nur die statistisch vulnerablere Gruppe über 50 oder 60 Jahren anspricht, ist eine Abwägung, die sich nicht mehr verfassungsrechtlich vorordnen lässt.

Insgesamt: Es ist richtig, dass der Verfassungsstaat zunächst versucht, eine Impfpflicht zu vermeiden und auf die Eigenverantwortung der Bürgerschaft zu setzen. Doch bleibt er in der Verantwortung für eine freiheitliche Gesamtbilanz. Da es sich bei der Frage der körperlichen Eingriffe um eine ethische Frage mit schwierigen Abwägungen handelt, bei der vorpolitische und außerrechtliche Prägungen und Überzeugungen in besonderer Weise wirksam werden, ist der Weg über Gruppenanträge und eine ausdrücklich freigegebene Abstimmung im Bundestag konsequent und angemessen. Es besteht die Chance, mit der Impfpflicht das Elend der Coronalage auf der Basis staatsbürgerlicher Gleichheit zu bekämpfen. Überwinden wir uns.