Impfzwang als Institutionenschutz
Warum Solidarität und Freiheit in Bezug auf die Impfpflicht ein falsches Dilemma ist
Einer aktuellen Umfrage zufolge ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine allgemeine Pflicht zur Impfung gegen COVID-19. Auch Wissenschaft und Politik machen bislang einen Bogen um das Thema. In der Debatte wird auf beiden Seiten oft oberflächlich argumentiert – auf der einen Seite mit einem fragwürdigen Verständnis von „Solidarität“, auf der anderen mit einer verfehlten Vorstellung von individueller Freiheit. Dabei würde eine Impfpflicht, verstanden als solidarischer Beitrag zum Schutz freiheitsermöglichender Institutionen, mit einem liberalen Staatsverständnis durchaus konform gehen.
Solidarität vs. Freiheit?
Überblickt man die gegenwärtige Debatte um die Einführung einer Impfpflicht gegen COVID-19, scheinen sich zwei Lager unversöhnlich zu bekriegen. Auf der einen Seite stehen die sich rational gerierenden Befürworter, die an das kollektive Wohlergehen erinnern und deshalb eine möglichst hohe Impfquote herbeisehnen. Diese Gruppe nimmt den Einzelnen stets als Teil des gesellschaftlichen Ganzen und seine Verweigerungshaltung unter dem Aspekt ihrer überindividuellen Konsequenzen in den Blick. Demnach ist die Entscheidung für oder gegen eine Impfung zugleich ein Akt „(un-)solidarischen“ Verhaltens: Entweder nimmt der Einzelne Rücksicht auf seine Mitbürgerinnen und Mitbürger, oder er zählt zum Kreis der rücksichtslosen Egoisten.
Dem stehen die sich „liberal“ wähnenden Gegner einer Impfpflicht gegenüber, die den Zwang zur Impfung mit einem Angriff auf die individuelle Autonomie gleichsetzen. Ihnen ist die Inanspruchnahme des Einzelnen zum Wohl der Allgemeinheit suspekt. Konsequenzen für und zwingende Auswirkungen auf andere spielen für sie eine nur untergeordnete Rolle: Die ausschließliche und freie Entscheidungsmacht soll vielmehr bei demjenigen verbleiben, der die unmittelbaren Folgen einer medizinischen Behandlung zu tragen hat.
So betrachtet, scheint die Auflösung des Konflikts nur zugunsten eines der Lager möglich zu sein: Solidarität oder individuelle Freiheit. Dabei sind beide Begriffe weitaus voraussetzungsreicher, als auf den ersten Blick sichtbar wird.
Solidarität inmitten der sozialen Gemeinschaft
Solidarität heißt, dass Einzelne einander Beistand leisten. Kennzeichnend ist damit ein Element der Verantwortungsübernahme für andere. Solidarität ist jedoch kein flüchtiges, kontingent im Einzelfall auftauchendes Handlungsprogramm. Abgeleitet vom lateinischen Adjektiv „solidus“ ist mit ihr eine gewisse „Festigkeit“ und „Dichte“, eine Gemeinsamkeit bezeichnet, die zu einer gemeinschaftlichen Verbundenheit führt. Formelhaft ausgedrückt besteht die Idee der Solidarität in einem wechselseitigen Zusammenschluss zwischen verschiedenen Personen, der von einem Element gegenseitigen Wohlwollens getragen wird. Damit ist indes nur die deskriptive Seite des Begriffs umrissen. Maßgeblich für die Beantwortung der Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen sich Solidarität zu einer staatsbürgerlichen Pflicht verdichtet, ist hingegen sein „normativer Gehalt“.
Im Laufe der Zeit haben sich zahlreiche Ansätze entwickelt, um entsprechende Verhaltensmaximen zu begründen)(ausführlich hierzu Kubiciel/Wachter, Strafrechtlich garantierte Solidarität, in: Hofmann, C. M./Spiecker gen. Döhmann, I. (Hrsg.), Solidarität im Gesundheitswesen – Strukturprinzip, Handlungsmaxime, Motor für Zusammenhalt? (erscheint demnächst))). Diese sind jedoch im vorliegenden Kontext kaum überzeugend.
So ist etwa versucht worden, aus der in modernen Gesellschaften beobachtbaren Verbundenheit zwischen den Individuen eine gegenseitige „Einstandspflicht“ herzuleiten1). Andere2) stellen auf den Gedanken des klugen Eigennutzens ab: Wenn ich mich solidarisch verhalte, werden die übrigen Mitglieder der Gesellschaft dies im Bedarfsfall ebenfalls tun. Beide Argumentationslinien gründen auf der Vorstellung eines sich inmitten der Gesellschaft befindlichen Individuums, dessen Lebenswelt von gegenseitigen Bindungen, intersubjektiver Verflochtenheit und wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Sie lassen sich auf den Gedanken einer Impfpflicht gut übertragen: Profiteur einer Immunisierung ist neben dem Geimpften selbst auch sein unmittelbares soziales Umfeld, dem dadurch ein Solidaritätsdienst erwiesen wird.
Doch lässt sich hieraus eine Verpflichtung nicht ohne Weiteres ableiten: Dass ich mich inmitten eines fein verästelten sozialen Beziehungsgeflechts befinde, ist nicht mehr als eine soziale Beobachtung. So mag es zwar für viele plausibel sein, sich in dieser Situation solidarisch zu zeigen – zwingende Gründe entspringen diesem Umstand jedoch nicht. Vor ähnlichen Probleme steht auch der klugheitsorientierte Ansatz. Weshalb sollte es unklug sein, die Vorteile einer „durchgeimpften Gesellschaft“ zu genießen, ohne mich selbst dazu zu verpflichten? Unter Klugheitsgesichtspunkten ist es allemal einleuchtender, nach Art einer Trittbrettfahrers auf die Impfwilligkeit und -verpflichtung aller anderen zu setzen.
Problematisch ist auch ein anderer Ansatz, der sich auf die Gedanken der „Fairness“ und „Reziprozität“ bezieht3). So lässt sich der Einzelne zwar als von seiner Geburt an in der sozialen Gemeinschaft integriert begreifen, innerhalb der gegenseitige Solidarität gelebt wird. Demnach wäre es ein „unfairer“ Vorteil, die Stellung als „sozialer Gemeinschaftsbürger“ für sich zu beanspruchen, ohne aber die Kosten dieses Vorzugs tragen zu wollen. Allerdings ist durch die Bezugnahme auf das formale Band gelebter Sozialisation nicht mehr bezeichnet, als im modernen Rechtsstaat ohnehin vorausgesetzt wird: Materielle Kriterien, die über die allgemeine normative Gebundenheit der in einem Rechtsstaat Lebenden hinausgehen, enthält er nicht. Spezielle Solidaritätspflichten lassen sich hieraus nicht begründen.
Solidarität als besondere Ausprägung des Staat-Bürger-Verhältnisses
Nach alledem sollte man den Anknüpfungspunkt für rechtlich abgesicherte Solidarität nicht im Vorfeld, sondern innerhalb einer normativen Gesellschaft suchen. Solidarität wandelt sich in dieser Perspektive von einer sozialen Zustandsbeschreibung zu einem Rechtsbegriff. Dies führt dazu, dass der Einzelne nicht primär als Glied eines sozialen Beziehungsgeflechts, sondern als Staatsbürger mit Rechten, aber auch Pflichten gegenüber der staatlich verfassten Allgemeinheit in den Fokus rückt. Die Solidaritätsbindung besteht in dieser Lesart nicht mehr auf horizontaler Ebene gegenüber den übrigen Individuen, sondern entspringt unmittelbar dem vertikalen Verhältnis des verpflichteten Bürgers zu seinem Staat. Übernimmt der Einzelne demnach Hilfs- oder Unterstützungsmaßnahmen gegenüber seinen Mitbürgern, agiert er in seiner „edlen“ Funktion als Diener des Gemeinwesens.
In der Diskussion um Hilfspflichten in Unglücksfällen oder in allgemeinen Gefahren- und Notsituationen (§ 323c StGB) hat sich hierfür der Begriff des „Verwaltungshelfers“ eingebürgert. Der Hilfeleistungspflichtige wird, um mit Günther Jakobs zu sprechen, „in ein – kleines und nur temporäres – Amt berufen“.4) Diese Funktion ist insbesondere dann interessant, wenn der Staat und seine Stellen die Voraussetzungen eines erstrebten Zustands nicht selbst zuverlässig garantieren können. So wie es dem Staat faktisch unmöglich ist, stets und überall Gefahren und Notlagen i.S.d. § 323c StGB vorzubeugen, so überfordert ist er in der Bekämpfung der Pandemie, soweit er nicht ergänzend auch auf die Mitwirkung seiner Bürger bauen kann.
Daher darf es ihm nicht versagt sein, einzelne notwendige Verpflichtungen zu statuieren. Diese können von Melde- und Testpflichten über die Duldung einer Quarantäne bis hin zu verpflichtenden Immunisierungsmaßnahmen reichen. Ihre Grenze finden diese „Pflichten gegenüber der Allgemeinheit“ dabei in der eigenen Aufopferung: Zur sicheren oder höchstwahrscheinlichen Selbstaufgabe oder zu Maßnahmen, die mit erheblichen Risiken einhergehen, kann ein Staat seine Bürger außerhalb eines „besonderen Gefahrtragungsverhältnisses“ nicht verpflichten. Hiervon aber ist nach Lage der Dinge bei den gegenwärtig zugelassenen Impfstoffen nicht auszugehen.
Impfen als Beseitigung eines Hindernisses der Freiheit
Wie aber steht es in diesem Modell um die Freiheit? Es liegt auf der Hand, dass sich unter Freiheitsgesichtspunkten Einwände hiergegen formulieren lassen. Denn traditionell versteht man darunter gerade die Gelöstheit von allen Einschränkungen durch den Staat. Als „Eingriffsabwehrrechte“ erfahren Grundrechte im Wesentlichen diese Funktion. Freiheit ist in dieser Lesart die Möglichkeit, tun und lassen zu können was man will.
Solidaritätspflichten laufen dem zuwider, da sie zumindest bereichsweise eigenen Freiheitsgenuss unmöglich machen. Doch ist allein mit diesem negativen Verständnis der Freiheitsbegriff allzu unterkomplex umschrieben. Zwar zählt ein „anarchistischer Kernbereich“ zu seinen essentialia; der neuzeitliche Staat, der sich als „freiheitlicher“ versteht, kommt nicht umhin, die Autonomie seiner Bürger unabhängig von jeglichen staatlichen Einflüssen zu gewährleisten. Deshalb ist es seine zentrale Aufgabe, dem Einzelnen ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Freiheit aber, die lediglich auf dem Papier steht, vermag dem nicht zu genügen.
Zum Legitimationsparadigma des modernen Staates gehört es hegelianisch gewendet daher, Freiheit wirklich werden zu lassen. Der Einzelne soll nicht lediglich frei von äußeren Negativeinwirkungen existieren, sondern durch geeignete Maßnahmen in den Stand versetzt werden, Freiheitsräume auch faktisch nutzen zu können. Hierzu ist die Errichtung eines Institutionensystems notwendig, das den Einzelnen bei Bedarf in die Lage versetzt, seine individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu zählt nicht zuletzt ein funktionierendes Gesundheits- und Rettungswesen, ohne dessen Existenz der Einzelne nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres jene alltäglichen oder besonderen Risiken eingehen könnte, die das Leben und Arbeiten in einer modernen Gesellschaft generiert. Neben die negative Freiheit tritt damit eine weitere Dimension, die deren Realwerdung miteinbezieht.
Ein Staat, der den Versuch unternähme, die Voraussetzungen allgemeiner Freiheitlichkeit alleine zu schaffen, müsste sich in weitem Maße in die Belange jedes einzelnen Bürgers einmischen. Dies gelänge nur mit einem Übermaß an sozialstaatlichen und gefahrenabwehrenden Einrichtungen. Er wäre damit nicht nur heillos überfordert, sondern untergrübe auch die Bedingungen eines wahrhaft freiheitlichen Gemeinwesens. An dieser Stelle treffen sich Solidaritätspflicht und Freiheitsgenuss: Da der Staat und seine Stellen nicht allein dazu in der Lage sind, die Bedingungen bürgerlicher Freiheitlichkeit zu gewährleisten, zieht er in eng umgrenzten Bedarfsfällen seine Bürger heran. Demzufolge haben Bürger nicht nur die generelle negative Pflicht, ihren Organisationskreis so zu gestalten, dass daraus keine Risiken oder gar Schädigungen für andere resultieren. Bereichsweise können sie auch dazu verpflichtet werden, anderen in Notlagen beizustehen, ohne dass sie für die konkrete Notsituation verantwortlich oder dem Hilfebedürftigen in besonderem Maße (vgl. § 13 StGB) verbunden sind. Da Freiheit nur real erlebt werden kann, wenn der Handelnde darauf vertrauen darf, dass ihm in elementarer Not eine mögliche und zumutbare Hilfe nicht vorenthalten wird, fügt sich der Solidaritätsgedanke in den Kontext eines freiheitlichen Legitimationsmodells ein.
Übertragen auf eine Impfpflicht bedeutet dies, dass nicht in erster Linie auf den Schutz des zu Impfenden selbst abzustellen ist. Für sein eigenes Wohlbefinden ist der Einzelne insoweit, als ihm dies durch ein Impfangebot ermöglicht wurde, selbst zuständig. Sich selbst auf eigene Verantwortung in Gefahr zu begeben, ist zu Recht auch sonst nicht verboten. Wohl aber kann von dem Einzelnen unter Solidaritätsgesichtspunkten verlangt werden, die Voraussetzungen einer eigenen sterilen Immunität zu schaffen, welche eine Infektion und Weitergabe der Viren auf andere verhindert.
Ob dies im Wege der Impfung gelingt, ist im Falle der COVID 19-Erkrankung alles andere als gesichert. Doch ist auch dies nicht der primäre Legitimationsaspekt einer Impfpflicht. Entscheidend kann nach den vorstehenden Erwägungen lediglich der durch die Immunisierung bewirkte Institutionenschutz sein: Da das staatliche Gesundheitssystem durch eine rasche Zunahme an Infektionen an seine Grenzen zu geraten droht, ist es die Pflicht des Einzelnen, diese freiheitsgarantierende Einrichtung im Rahmen des Zumutbaren zu schützen.
Dass Geimpfte ein deutlich niedrigeres Risiko haben, diese Gesundheitseinrichtungen in Anspruch nehmen zu müssen, darf nach Lage der Dinge als gesichert gelten. Obendrein überwiegen die Vorteile einer Impfung die drohenden Nachteile deutlich. Insbesondere bei den beiden zugelassenen COVID-19-mRNA-Impfstoffen ist kein generell erhöhtes Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen anzunehmen. Teils zu vernehmende Ängste, Impfungen könnten zu noch unentdeckten Langzeitschäden führen, bewegen sich im Bereich der Spekulation, für die jegliche sachliche Grundlage fehlt. Legitime Solidaritätspflichten und „echte“ bürgerliche Freiheit gehen hier also Hand in Hand, wenn die Impfpflicht als notwendiger Beitrag zum Schutz einer freiheitsermöglichenden Institution begriffen wird.
References
↑1 | so Schmelter, Solidarität, 1991, S. 92 |
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↑2 | etwa Steinvorth, Kann Solidarität erzwingbar sein?, in: Bayertz, Solidarität – Begriff und Problem, 1998, S. 59 |
↑3 | Baurmann, Solidarität als soziale Norm und als Norm der Verfassung, in: Bayertz, Solidarität – Begriff und Problem, 1998, S. 352 ff.; Gouldner, Reziprozität und Autonomie, 1984, S. 118 ff. |
↑4 | Jakobs, Rechtswissenschaft 2010, S. 313. |