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18 September 2024

In a Barbie World

Für eine machtkritische Perspektive im Jurastudium

Sexualisierte Gewalt gibt es keine, Reproduktion auch nicht, und jede darf selbst über ihren Körper bestimmen: So sieht die Welt nicht nur in Greta Gerwigs Film „Barbie“ aus, sondern auch in der juristischen Ausbildung. Nur fühlt sich das Jurastudium weniger nach glücklicher Utopie an. Dass Sexismus im Curriculum kaum vorkommt, ist kein theoretisches Problem, sondern macht sexistische Rechtsauslegung und -anwendung wahrscheinlicher. Das wiederum wirkt sich auf Menschen in der echten Welt aus und nicht nur auf Mattel-Figuren in Barbieworld. Die Forderung ist nicht neu: Statt rosaroter Brille braucht es dringend eine machtkritische Perspektive im Jurastudium.

I’m a Barbie girl, in a Barbie world

Artikel 3 Absatz 2 GG verspricht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieses Versprechen ist noch lange nicht eingelöst. Und je weiter eine Person vom Normsubjekt des weißen cis-Mannes ohne Behinderung abrückt, umso tiefer wird der (intersektionale) Graben zwischen versprochener Gleichberechtigung und Lebensrealität. Von gleichem Lohn für gleiche Arbeit sind wir weit entfernt, Kopftuchverbote schließen Muslima von juristischen Berufen aus, das Strafrecht bestraft perspektiv- und mittellose Menschen, statt effektiv vor geschlechtsbezogener Gewalt zu schützen usw. usf. Über all das lernt man im Studium wenig, während schon im ersten Semester der Katzenkönig regiert und man nur einen Föhn ins Badewasser fallen lassen muss, um den Stern Sirius zu besichtigen. So wie die Barbieworld imitiert auch das Jurastudium die echte Welt, aber lässt das Hässliche oftmals weg.

In diesem Beitrag möchte ich mich auf zwei geschlechtsbezogene Themenfelder beschränken, die die juristische Ausbildung ausblendet, das Folgenreiche daran zeigen und schließlich konkret vorschlagen, was sich ändern muss.

Life in plastic, it’s fantastic

Barbie hat keine Genitalien, und man darf wohl davon ausgehen, dass ihr auch Reproduktionsorgane fehlen. Die Plastikpuppe verkörpert damit genau zwei Leerstellen in der juristischen Ausbildung: reproduktive Rechte und Sexualstrafrecht.

Im Menschenrechtsdiskurs spielen reproduktive Rechte schon seit den 1990ern eine wichtige Rolle, haben es allerdings bisher nicht in die höchstrichterliche Rechtsprechung geschafft und werden auch von der deutschen Rechtswissenschaft nur vereinzelt thematisiert. Reproduktion umfasst dabei den gesamten Lebensbereich von Aufklärung, Verhütung und Schwangerschaftsabbrüchen über prä-, peri- und postnatale Gesundheitsversorgung und Reproduktionstechnologien bis hin zu Kitaplätzen und Sozialleistungen für Eltern. Dieses breite Verständnis macht sichtbar, dass reproduktive Entscheidungen – oder Zwänge – die private wie berufliche Biographie, die ideellen wie materiellen Lebensbedingungen langfristig prägen.

Doch das Studium thematisiert reproduktive Themen nie ganzheitlich und wenn, dann nur am Rande. An den Schwangerschaftsabbruch-Entscheidungen des BVerfG wird in der Grundrechtsvorlesung nur gezeigt, woher Schutzpflicht und Untermaßverbot stammen, aber nicht, welches Autonomieverständnis dahintersteht und welches Frauenbild konstruiert wird. Familienrecht bildet überwiegend materielle Fragen rund um Unterhalt oder die Zugewinngemeinschaft ab, ohne auf deren soziale Folgen einzugehen. Dabei handelt es sich bei Reproduktion um einen besonders grundrechtssensiblen, weil intimen Lebensbereich, der uns alle betrifft, allerdings nicht gleich: Einen Schwangerschaftsabbruch (der nach der Beratungsregelung rund 350 bis 600 Euro kostet) muss man sich leisten können, behinderte Frauen werden faktisch zwangssterilisiert, und zwei Frauen, die sich lieben und ein Kind wünschen, erkennt das Recht noch immer nicht gleichberechtigt als Elternteil an. Das verweist auf die Gleichheitsdimension von Reproduktion. Sie ist auch eine soziale Frage und damit Gerechtigkeitsthema. Da ist es ein schwacher Trost, dass das Jurastudium früh vermittelt, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind.

You can brush my hair, undress me everywhere

Auch sexualisierte Gewalt ist kein Teil des Curriculums. Warum?

Teilweise wird auf die Gefahr verwiesen, Studierende mit Gewalterfahrungen zu retraumatisieren. Das ist eine überraschende Begründung angesichts einer Ausbildung, die sich sonst eher wenig um die psychische Gesundheit ihrer Subjekte sorgt. Konsequent müsste diese Begründung auch für die extrem graphischen Schilderungen besonders perverser Fälle gelten, die sich nicht gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sondern gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit richten. Davon ist allerdings nicht die Rede.

Plausibler sind zwei andere Gründe.

Erstens: Es ist kompliziert. Um über Sex reden zu können, muss man anspruchsvolle Konzepte wie Konsens erklären. Dazu braucht es sozialwissenschaftliches Wissen, das das Jurastudium nicht vermittelt. Dass ein Thema anspruchsvoll sei, ist allerdings sonst kein Ausschlusskriterium für das Curriculum, sondern wird eher als Qualitätsmerkmal vor sich hergetragen.

Neben der konzeptionellen Komplexität des Sexualstrafrechts scheinen mir menschliche Emotionen schwerer zu wiegen: Scham und Angst. Wer Sexualstrafrecht unterrichtet, muss explizit über Sex reden, über Eindringen und Erregung. Die noch immer weit überwiegenden männlichen Professoren fühlen sich vor den inzwischen überwiegend weiblichen jungen Studierenden dabei möglicherweise unwohl. Doch über Sex reden kann man lernen (das gilt nicht nur für Juraprofs, sondern ist eine – sehr lohnende – gesamtgesellschaftliche Herausforderung).

Ohnehin müssen wir genau beobachten, welche Geschichten wie erzählt werden. Hier hat Dana Valentiners Studie zu „(Geschlechter)rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen“ schon vor acht Jahren dringenden Handlungsbedarf markiert. Dabei geht es nicht nur um nervige Sachverhalte: Stereotype formen den juristischen Blick über das Studium hinaus. Wer jahrelang von hysterischen, lügenden Frauen liest, wird später am Strafgericht eher geneigt sein, einer Frau im Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt nicht zu glauben.

Imagination, life is your creation

Doch ein anderes Jurastudium ist möglich – auch wenn die Justizministerkonferenz (JuMiKo) sich erst im Juni wieder darauf einigte, „dass grundlegender Reformbedarf nicht besteht“. Immerhin ist die Diskussion um fehlende Inhalte in den letzten Jahren in Bewegung geraten. 2021 wurde sogar das Deutsche Richtergesetz geändert. In § 5a Abs. 3 S. 1 heißt es jetzt: „Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die ethischen Grundlagen des Rechts und fördern die Fähigkeit zur kritischen Reflexion des Rechts“. Drei Jahre später ist es mit der kritischen Reflexion immer noch nicht weit her. Inzwischen gibt es zwar vereinzelt Vorlesungen zum Antidiskriminierungsrecht und Rechtstheorie, aber erstens nicht flächendeckend und zweitens nur als Wahlfach. Ohnehin lassen sich Sexismus und andere Diskriminierungsformen nicht einfach in Blockseminaren abarbeiten und dann ist es getan.

Es braucht vielmehr eine machtkritische Perspektive, die in jeder Zivilrechtsvorlesung, jeder Strafrechts-AG, jeder Schlüsselqualifikation selbstverständlich mitgeführt wird.

Spricht man mit Studierenden aus den USA oder Großbritannien, wird sichtbar, dass Deutschland hier um Jahrzehnte hinterherhinkt. Die wichtigen Erkenntnisse der Critical Legal Studies stammen aus den 60er- und 70er-Jahren, und deutsche feministische Rechtswissenschaftler:innen haben sie dankenswerterweise importiert – allerdings erst in den 80er- und 90er-Jahren. Doch noch immer wird dieses Wissen als ideologisch abgetan statt in das Curriculum integriert. Damit steht die deutsche Rechtswissenschaft international einigermaßen blamiert da. Dennoch vollführt sie weiterhin den von Donna Haraway 1988 kritisierten „god trick“, tut also so, als gäbe es einen „view from nowhere“ – also „objektives“ Wissen, das vom Himmel fällt, statt von Menschen gemacht wird. Tatsächlich designen jedoch die strukturell männlichen juristischen Fakultäten das Curriculum, so wie die männlichen Mattel-CEOs Barbieworld.

Wie insbesondere im anglo- und südamerikanischen Raum muss Rechtswissenschaft inhärent interdisziplinär verstanden und unterrichtet werden, denn Recht entfaltet sich in der sozialen Realität. Man sollte diese deshalb gut kennen und nicht nur über Katzenkönige Bescheid wissen. In den Worten von Dieter Suhr: So wie ein guter Bauherr sein Haus nicht nach Zeichnungen errichten will, die das Gelände falsch wiedergeben, so muß ein guter Rechtsdogmatiker darauf bedacht sein, daß die Begriffe, mit denen er arbeitet, die soziale Welt, mit der er es zu tun [sic], nicht nur halb oder verzerrt wiedergeben“ (Entfaltung der Menschen durch den Menschen, S. 118). Recht, das die soziale Realität, auf die es Anwendung findet, kennt und reflektiert, ist genaueres und deshalb besseres Recht. Die soziale Realität ist ständig in Bewegung. Um diese Bewegungen nachzuvollziehen, müssen Recht und angehende Jurist:innen dynamisch bleiben, also: kritisch.

Längst fangen selbstorganisierte Initiativen auf, was die juristische Ausbildung an kritischer Perspektive versäumt. Der „Feministische Juristinnen*tag“ kann sich vor Anmeldungen kaum retten und wird jedes Jahr größer, und auch die studentische Initiative „Sommerakademie Feministische Rechtswissenschaft“ hat regelmäßig mehr als dreimal so viele Bewerbungen wie Plätze. Der Blog „Üble Nachlese“ tröstet, und Mentorinnen*-Programme nach dem Vorbild des Freiburger „Justitia Mentoring“ schaffen Solidarität im Kreis heranwachsender Juristinnen*.

Studentisches Engagement ist wichtig, kann und soll das Problem jedoch nicht lösen. Einerseits, weil Engagement auch immer eine Ressourcenfrage ist: Wer neben dem Studium arbeitet, hat weniger Zeit, einen Lesekreis zu Audre Lorde zu organisieren. Andererseits, weil es schlicht nicht in der alleinigen Verantwortung von Studierenden liegt, strukturellen Wandel herbeizuführen. Sie werden ihn allein auch nicht bewirken können, weil die Entscheidungen immer noch die Fakultäten und Justizministerkonferenzen treffen.

Angenommen, es gäbe machtkritische Inhalte im Studium: Wie motiviert man Studierende dazu, sich mit Themen auseinanderzusetzen, wenn sie nicht examensrelevant sind? Nun, man kann sie examensrelevant machen, etwa indem Zusatzfragen eine gesellschaftskritische Perspektive auf die angewandten Normen verlangen. Man kann Studierenden auch immer wieder praktisch begreifbar machen, wie sich Rechtsanwendung auf die soziale Realität auswirkt, um sie intrinsisch zu motivieren. Hier sind Vorstellungskraft und Kreativität gefragt. Als Lehrformat haben Lesekreise großes Potenzial, weil sie in Kleingruppen Raum für kritische Reflexion öffnen. In anderen Disziplinen finden sich Lektürekurse schon längst in jedem Bachelor-Modulhandbuch. Leider stehen die interessanten Bücher in Rechtsbibliotheken nicht vorne im Regal, und wer sie nicht sucht, wird sie nicht finden. Konzepte für Lesekreise für kritische Jurist:innen lassen sich jedoch gut sammeln und teilen, die Kritischen Jurist:innen leisten hier wichtige Arbeit.

Auch an den Prüfungsformen ließe sich schrauben: Statt in Klausuren absurde Sachverhalte per Gutachten lösen zu müssen, könnte man Essays verlangen, in denen die Studierenden über das angewandte Recht nachdenken müssen. Zugegeben: Das alles würde primär nicht den Studierenden mehr abverlangen, sondern dem Lehrpersonal. Deshalb braucht es mehr Mobilität zwischen den Disziplinen, konkret: Die juristischen Fakultäten müssen offener werden für Lehrpersonen ohne Staatsexamen, die wichtige interdisziplinäre Perspektiven in die Ausbildung tragen können.

Auch wenn die JuMiKo das anders sieht: Die Reform der juristischen Ausbildung ist für alle Beteiligten und das Rechtssystem insgesamt unverzichtbar. Mehr noch: Die juristische Ausbildung trägt auch demokratische Verantwortung. Wenn rechte Kräfte in Rechtsetzung und -sprechung kommen, sind kritische Jurist:innen umso wichtiger, um einen antidemokratischen Umbau von innen zu verhindern. Eine sexismuskritische Perspektive ist hier essenziell, weil die Erfahrung zeigt, dass autoritär-populistische Regierungen strategisch sexuelle und reproduktive Rechte abschaffen, um „[d]ie natürliche Ordnung wiederher[zu]stellen“. Und diese Ordnung ist sicherlich keine Barbieworld.