27 February 2020

Justitias Dresscode, zweiter Akt

Minderheiten im demokratischen Staat

Heute hat der Zweite Senat einen bereits am 14. Januar 2020 ergangenen Beschluss veröffentlicht, der weitreichende Konsequenzen für die dritte Gewalt in der deutschen Demokratie haben wird. Vordergründig geht es um kopftuchtragende Rechtsreferendarinnen, doch mitverhandelt wird, ob im Deutschland des 21. Jahrhunderts kopftuchtragende Richterinnen auch nur denkbar sind. 

Die Antwort des Zweiten Senats ist für sieben Richter*innen klar: nein. Kopftuchtragende Juristinnen, mögen sie noch so qualifiziert sein, dürfen nicht einmal den Anschein erwecken, für den deutschen Staat tätig zu sein. Der Richter Maidowski arbeitet in seinem Sondervotum die Unterschiede zwischen hauptamtlichen Richterinnen und Staatsanwälten einerseits, Rechtsreferendarinnen andererseits heraus. Doch auch dieses Sondervotum bleibt einer fragwürdigen Vorstellung verhaftet: Zur deutschen Justiz gehöre das Kopftuch nicht. 

Der Senat verfehlt damit spektakulär die vornehmste Aufgabe eines Verfassungsgerichts: den grundrechtlichen Schutz von Minderheiten sicherzustellen. 

Was bisher geschah

Nur kurz sei rekapituliert: Den hessischen Rechtsreferendar*innen war mitgeteilt worden (Rn. 9), dass sie in der Ausbildung „keine Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale tragen oder verwenden dürfen, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden“. Das bedeute praktisch, dass sie „bei Verhandlungen im Gerichtssaal nicht auf der Richterbank Platz nehmen dürfen, sondern nur im Zuschauerraum sitzen können, keine Sitzungsleitungen oder Beweisaufnahmen durchführen dürfen, keine Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft übernehmen dürfen und während der Verwaltungsstation keine Anhörungsausschusssitzung leiten dürfen“. Obgleich die Formulierungen ganz neutral gewählt sind und von „Kleidungsstücken und Symbolen“ die Rede ist, war stets klar, dass es nur um ein bestimmtes Stück Stoff ging: das Kopftuch religiöser Musliminnen.

Bereits im Juni 2017 hatte eine Kammer des Zweiten Senats in einem Beschluss den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Schon damals war die Grundidee, dass es verfassungsgemäß sein soll, wenn kopftuchtragende Rechtsreferendarinnen sich zwischen ihrem Glauben und ihrer Berufsausbildung entscheiden müssen. Nur ohne Kopftuch sollen sie in der Justiz nach außen erkennbar tätig sein dürfen, so die Kammer. Damit verwechselte sie Neutralität mit Normalität, wie ich seinerzeit argumentierte. Referendarinnen würden in den Zuschauerraum verwiesen wie Rosa Parks im Bus auf die hinteren Sitzplätze, kritisierte Nahed Samour.

In der nun vorliegenden Hauptsacheentscheidung stützt der Senat sich auf drei Gründe, welche den Eingriff in die Religionsfreiheit rechtfertigen sollen (Rn. 86): der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter. Nicht herangezogen werden könnten hingegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des weltanschaulich-religiösen Friedens.

Weltanschaulich-religiöse Neutralität – oder Vielfaltsicherung?

„[D]er Staat kann nur durch Personen handeln“, dennoch müsse sich der Staat nicht in jedem Fall „private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen“ (Rn. 89). Das sei allerdings dann der Fall, wenn der Staat „auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss“ nehme (Rn. 90), etwa indem eine Amtstracht vorgeschrieben werde. (Dabei bezieht sich der Senat nicht nur auf Peter Häberles Vorstellungen von Verfassungskultur, sondern bemerkenswerterweise auch auf Cornelia Vismanns medientheoretische Analyse von Gerichtsverfahren.) 

Die „formalisierte Situation vor Gericht“ weise „den einzelnen Amtsträgern [tatsächlich: generisches Maskulinum!] auch in ihrem äußeren Auftreten eine klar definierte, Distanz und Gleichmaß betonende Rolle“ zu, wohingegen der pädagogische Bereich in der staatlichen Schule „auf Offenheit und Pluralität angelegt“ sei. Schon an den Formulierungen wird überdeutlich, dass wir den Bereich der Ausbildung im Rechtsreferendariat längst hinter uns gelassen haben und es nun allein um die Rolle von Richterinnen geht. Auf diese Verschiebung stützt Richter Maidowski maßgeblich die Kritik in seinem Sondervotum.

Die weltanschaulich-religiöse Neutralität leitet der Senat aus Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG ab (Rn. 87). Die zentrale Norm ist hier Art. 33 Abs. 3 GG:

„Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Klarer kann das Grundgesetz eigentlich nicht verbieten, was der Zweite Senat hier dennoch macht: Personen wegen ihres religiösen Bekenntnisses vom Amt der Richterin auszuschließen. Es gibt schlicht keine Lesart der Norm, derzufolge diese nur die nach außen unsichtbare Religiosität schützen könnte. Es geht vielmehr gerade darum, religiöse Pluralität in öffentlichen Ämtern sicherzustellen.

Imaginierte Empirie „objektiver Dritter“

Was nun freilich in der Senatsentscheidung folgt, kann getrost als „imaginierte Empirie“ bezeichnet werden:

„Aus Sicht des objektiven Betrachters kann insofern das Tragen eines islamischen Kopftuchs durch eine Richterin oder eine Staatsanwältin während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität dem Staat zugerechnet werden.“ (Rn. 90)

Auch für die – zu optimierende! (Rn. 91 f.) – Funktionsfähigkeit der Rechtspflege entwickelt der Senat ein paralleles Konzept:

„Funktionsfähigkeit setzt voraus, dass gesellschaftliches Vertrauen nicht nur in die einzelne Richterpersönlichkeit, sondern in die Justiz insgesamt existiert“ (Rn. 91). 

Der Staat dürfe „Maßnahmen ergreifen, die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen“ (Rn. 92).

Wer soll dieser „objektive Betrachter“, der „objektive Dritte“ sein, um wessen Vertrauen in die Justiz geht es eigentlich? Es wird hier ganz allgemein Bezug genommen auf imaginierte Prozessbeteiligte oder Zuschauende, denen zugeschrieben wird, dass sie eine kopftuchtragende Richterin in der Regel als voreingenommen und nicht neutral wahrnehmen werden. Dies wird als strukturelles Problem angesehen, das es rechtfertigbar erscheinen lässt, jedwede Betätigung einer kopftuchtragenden Frau als Richterin zu untersagen.

Dies steht in einem nicht geringen Spannungsverhältnis zu der – zutreffenden – Aussage des Senats, das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst sei „für sich genommen indes nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“ (Rn. 99). Die Objektivität der konkreten Person soll also nicht berührt sein, aber das Vertrauen in die Justiz als Ganzes? Was beim ersten Lesen wie eine willkommene Klarstellung erscheint, verweist beim genauen Nachdenken auf die vollkommen fehlenden empirischen Belege für die vom Senat getroffenen weitreichenden Aussagen.

„Die Annahme, besonders fromme Individuen täten sich besonders schwer mit neutraler Anwendung des Rechts, ist normativ und empirisch bodenlos“, hielt schon 2017 Patrick Bahners fest. Es handelt sich aber eben gar nicht um echte Empirie, sondern um eine „imaginierte Empirie“, die einzig und allein auf Zuschreibungen beruht – Zuschreibungen interessanterweise gar nicht an die kopftuchtragende Richterin, sondern an imaginierte Parteien in Gerichtsverfahren.

Nicht nur meint weltanschaulich-religiöse Neutralität also normativ das genaue Gegenteil dessen, was der Zweite Senat herbeischreibt, vielmehr gibt es auch empirisch keinerlei Belege, dass von kopftuchtragenden Richterinnen (oder gar Rechtsreferendarinnen) eine „Gefahr“ für die Neutralität des Staates oder die Funktionsfähigkeit der Justiz ausginge.

Negative Religionsfreiheit Dritter als „Konfrontationsschutz“?

Hochproblematisch ist das Konzept eines „Konfrontationsschutzes“, das der Senat für „eine vom Staat geschaffene Lage“ entwickelt, „in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist“ (Rn. 94). Der Gerichtssaal stelle einen solchen Raum dar (Rn. 95). 

Zwar versteht der Senat auch hier die Verwendung eines religiösen Symbols als „auf der privaten Entscheidung des für den Staat handelnden Amtsträgers“ beruhend. Allerdings trete „der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber“ als in der Schule (Rn. 95). Den Staat treffe eine Schutzpflicht, „die ansonsten unausweichliche Konfrontation mit dem Kopftuch als religiösem Symbol im Gerichtssaal zu verhindern“ (ebd.).

Wie jedoch die damalige hessische Landesanwältin Ute Sacksofsky bereits 2005 in ihrem Antrag gegen ein vergleichbares Verbot religiöser Bekleidung an hessischen Schulen ausführte, fehlt es religiösen Symbolen typischerweise an dem nach außen gerichteten, werbenden Charakter, den etwa politische Symbole haben:

„Für religiöse Kleidungsstücke ist es typisch, dass sie aus innerer Überzeugung einer Verpflichtung gegenüber Gott getragen werden, nicht aber, um andere zur Konversion oder Anpassung zu ermuntern. Allein das aus religiöser Verpflichtung getragene Kleidungsstück ist daher kein Indiz dafür, dass damit auf die religiöse Überzeugung anderer Einfluss genommen werden soll. Das religiöse Symbol ist zwar nach außen sichtbar, nicht aber … nach außen gerichtet.“ (S. 5 des Antrags)

So sieht es auch Richter Maidowski in seinem Sondervotum. Niemand habe „ein Recht darauf, von der Konfrontation mit fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen vollständig verschont zu bleiben“ (Sondervotum Rn. 16). Maidowski freilich unterscheidet – anders als die Senatsmehrheit – zwischen der in Ausbildung befindlichen Rechtsreferendarin und der hauptamtlichen Richterin. Diese Unterscheidung ist nicht nötig.

Der Senat imaginiert Prozessbeteiligte und Zuschauende, die nicht zwischen einem Kruzifix an der Wand und dem Kopftuch einer Richterin unterscheiden können (dazu treffend bereits 2015 Felix Neumann: „Mehr Rechte als die Wand“). Während das eine tatsächlich auf dem Staat zuzurechnender Entscheidung beruht (etwa in bayerischen Amtsstuben), handelt es sich beim Tragen eines Kopftuches allein um die individuelle Befolgung einer religiösen Pflicht der Richterin (oder Referendarin). 

Dies ist gerade der normative Gehalt des Art. 33 Abs. 3 GG, dass alle Personen, die öffentliche Ämter ausüben, auch das der Richterin, ihren Glauben sichtbar leben dürfen.

Mehrheitsentscheidung oder Minderheitenschutz?

Abschließend eine Überlegung zum Prüfungsaufbau des Senats. Die Abwägung zwischen den angeblich widerstreitenden Werten – Religionsfreiheit einerseits, die genannten drei kollidierenden Rechtsgüter andererseits – obliege „zuvörderst dem demokratischen Gesetzgeber, der im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu finden“ habe (Rn. 101). 

Das liest sich zunächst ganz wunderbar nach richterlicher Zurückhaltung und Achtung von Gewaltenteilungsgrundsätzen. Doch mit diesem Argument stimmt ganz grundsätzlich etwas nicht, wenn es um Grundrechtsschutz geht. Es ist hier gerade die Aufgabe des Verfassungsgerichts, Minderheiten vor in demokratischen Verfahren getroffenen Mehrheitsentscheidungen zu schützen. Es war schon der Irrweg der ersten Kopftuchentscheidung des Zweiten Senats von 2003, den Ländern den Schutz der Religionsfreiheit anheimzustellen. Die Religionsfreiheit und das religiöse Diskriminierungsverbot im öffentlichen Dienst verbieten einen Aushandlungsprozess, gehe er auch in demokratischen Strukturen vonstatten.

Die im deutschen Verfassungsrecht verbreitete Formel von der praktischen Konkordanz, die seinerzeit Konrad Hesse geprägt hat, suggeriert, dass es einen Ausgleich der widerstreitenden Rechtspositionen geben könne, der „allen zumutbar“ sei. Das ist jedoch nicht der Fall, wo es um unaufgebbare Grund- und Menschenrechte wie die Religionsfreiheit geht. 

Die Religionsfreiheit kopftuchtragender Juristinnen darf nicht auf dem Altar einer falsch verstandenen weltanschaulich-religiösen Neutralität der Justiz geopfert werden. Wenn der Senat es ernst meint mit dem von ihm selbst zitierten Satz vom „Staat als Heimstatt aller Staatsbürger“ (Rn. 87), dann darf nicht einseitig einer bestimmte Personengruppe, nämlich religiösen Musliminnen, die ein Kopftuch tragen, die ganze Last eines behaupteten Kompromisses oktroyiert werden. 

Nötig ist es vielmehr, den Anspruch auf religiöses Sosein auch im Amt der Richterin verfassungsrechtlich zu schützen. Und das bedeutet, dass Deutschland im 21. Jahrhundert auch kopftuchtragende Richterinnen einstellen sollte.


SUGGESTED CITATION  Mangold, Anna Katharina: Justitias Dresscode, zweiter Akt: Minderheiten im demokratischen Staat, VerfBl