Tatsächliche Gleichberechtigung statt Blumen
1910 beschloss die II. Sozialistische Frauenkonferenz in Kopenhagen auf Antrag von Clara Zetkin und Käte Duncker, jedes Jahr einen Internationalen Frauentag durchzuführen, „der in erster Linie der Agitation für das Frauenwahlrecht dient“. Als Termin wurde auf Betreiben kommunistischer Frauen der 8. März festgelegt, um jener streikenden Frauen zu gedenken, die 1917 in St. Petersburg die russische Februarrevolution ausgelöst hatten. Die Weimarer Republik brachte 1918 endlich das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen. Die politischen Forderungen am Internationalen Frauentag verlagerten sich deshalb auf bessere Arbeitsbedingungen für Frauen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Gleichberechtigung in Partnerschaft und Familie sowie den Kampf gegen § 218 StGB, der seit der Kaiserzeit Abtreibung kriminalisierte. Die Nationalsozialisten verboten den Internationalen Frauentag und erhoben den Muttertag, von Blumenhändlern unterstützt, zum „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“. Davon erholt sich die deutsche Gesellschaft bis heute.
Unzweifelhaft ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in vielen Staaten der Welt wesentlich vorangekommen seit 1910, besonders in Demokratien. Warum sollte also nach 114 Jahren noch immer der Internationale Frauentag gefeiert werden, und warum in Deutschland? Zwar ist das allgemeine Wahlrecht für Frauen in europäischen Demokratien inzwischen unbestritten. Doch paritätische Repräsentation von Frauen in Parlamenten, hohen und höchsten Regierungsämtern oder den Spitzenpositionen in der Justiz und in der Wirtschaft ist in Deutschland längst nicht erreicht. Vor wenigen Tagen wurde erstmals in seiner siebzigjährigen Geschichte mit Dr. Christine Fuchsloch eine Frau zur Präsidentin des Bundessozialgerichts ernannt. Im Jahr 2024 ist die Forderung nach „Frauen in die Rote Roben“ noch immer erstaunlich aktuell und notwendig.
Heute kämpfen Frauen gegen gender care gap, gender pay gap (das mit der „Bereinigung“ ist übrigens selbst kompliziertund kommt nicht ohne gender bias aus), digital gender gap, gender data bias, gender lifetime earnings gap, gender pension gap – gaps, Lücken also, wohin das Auge blickt. Und das ist ein Grund, warum der Internationale Frauentag weiterhin wichtig ist.
Hinzukommen jene Kämpfe, die schon 1910 aktuell waren und es noch immer sind. Einen Überblick über die aktuellen Kämpfe geben die fundierten Stellungnahmen des Deutschen Juristinnenbundes (djb), der als überparteilicher Verband seit 75 Jahren feministische Forderungen beharrlich in die rechtspolitischen Diskussionen einbringt. Ich greife drei aktuelle Themen heraus: reproduktive Autonomie, körperliche Unversehrtheit und Gleichberechtigung im Arbeitsleben.
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Reproduktive Autonomie
Der Kampf für reproduktive Autonomie und die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ist ein feministischer Dauerbrenner. „Weg mit § 218 StGB!“ war eine Forderung bereits der kaiserzeitlichen Feministinnen seit 1871. Dass wir in Deutschland über 150 Jahre später immer noch mit dieser Strafrechtsnorm zu tun haben würden, war nicht zu erwarten. In den USA droht aktuell die Verwirklichung des dystopischen Romans „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood, in dem eine theokratische Männerdiktatur Frauen zum Gebären zwingt. „Reproduktive Autonomie“ ist ein weltweites (Verfassungsrechts)Thema. Hoffnungsfroh stimmt, dass Frankreich diese Woche das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert hat. Das wäre ohne die mutige Kämpferin Simone Veil nicht möglich gewesen, die 1974 erstmals dieses Recht mit der „Loi Veil“ politisch durchgesetzt hatte. Zu welchen Ergebnissen wird die Kommission der Bundesregierung gelangen, die derzeit prüft, wie sich der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs regeln ließe? Ein mit nur einer Frau besetzter Zweiter Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte 1993 allerhand Vorgaben aus dem Grundgesetz abgeleitet, bis hin zur fachlichen Qualifikation für die Beratung (Rn. 237 ff.). Wird in Deutschland endlich Schluss sein mit der krassen Bevormundung von Frauen durch die verpflichtende Zwangsberatung, die sie als unmündige Personen behandelt? Von einer Frau im Jahre 2024 gelesen erzürnt die Zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ganz außerordentlich, und es ist ungeheuerlich, dass dieses paternalistische, sexistische und bevormundende Konzept noch heute gelten soll. Und das ist ein Grund, warum der Internationale Frauentag weiterhin wichtig ist.
Femizide und sexualisierte Gewalt
Täglich werden in Europa zwischen 6 und 7 Frauen von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, in Deutschland fast jeden dritten Tag eine (Femizide). Jedes Jahr werden in der EU circa 1,5 Millionen Frauen vergewaltigt. Wer eine auch literarisch eindrückliche Schilderung typischer Gewaltdelikte im Nahbereich lesen möchte, dem seien die Bücher von Christina Clemm ans Herz gelegt, „Akteneinsicht“ (2020) und „Gegen Frauenhass“ (2023). Gleichwohl blockierte Bundesjustizminister Buschmann unlängst eine einheitliche europäische Definition des Vergewaltigungsstraftatbestandes in der EU-Richtlinie zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, weil Einvernehmlichkeit zur Bedingung von Geschlechtsverkehr gemacht werden soll. Das ist der Unterschied zwischen dem in Deutschland seit 2016 geltenden Prinzip „Nein heißt nein“ (gegen den erkennbaren Willen) und dem autonomiewahrenden Prinzip „Ja heißt ja“ (mit freiwilligem Einverständnis), das die Istanbul-Konvention völkerrechtlich bindend vorgibt. Ein überzeugender Grund für diese Blockadehaltung ist nicht ersichtlich. Noch 2010 meinte ein ehemaliger Berliner Generalsstaatsanwalt, hätte er eine Tochter, würde er ihr abraten, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Frauen bleiben weitgehend schutzlos gestellt, es herrschen weiterhin Mythen über Vergewaltigungen in der Strafjustiz (vor allem Täter-Opfer-Umkehr à la „sie hat sich nicht gewehrt“, „sie war leichtsinnig“, „sie war aufreizend angezogen“). Sexualisierte Gewalt muss effektiv verfolgt, Femizide müssen verhindert werden. Und das ist ein Grund, warum der Internationale Frauentag weiterhin wichtig ist.
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Der Lehrstuhl Kritik des Rechts (Prof. Dr. Felix Hanschmann, Bucerius Law School) und das Fachgebiet Just Transitions (Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Universität Kassel) laden zu der Fachtagung “Kritik und Reform des Jurastudiums” am 8. und 9. April in Hamburg ein. Gemeinsam wollen wir ausloten, wie die juristische Ausbildung an die gesellschaftlichen und studentischen Erfordernisse herangeführt werden kann.
Details zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier – wir freuen uns auf zahlreiche Anmeldungen, spannende Diskussionen und neue Impulse!
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Equal Pay
Vom gender pay gap war schon die Rede. Bereits im Parlamentarischen Rat hatte die Delegierte Helene Weber (CDU), eine von nur vier Frauen unter den insgesamt 77 Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung, eine Normierung der Entgeltgleichheit gefordert: „Männer und Frauen stehen bei Wahl und Ausübung des Berufes gleich, verrichten sie gleiche Arbeit, so haben sie Anspruch auf gleiche Entlohnung.“ Darauf wurde als allgemeine Auffassung von den männlichen Abgeordneten verkündet, dieser Grundsatz sei schon in der allgemeinen Formulierung enthalten, „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“. Der Parlamentarische Rat hielt also den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für ein verfassungsrechtliches Gebot. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, wie wenig die Entgeltgleichheit bislang rechtlich sichergestellt ist. Das „Gesetz zur Förderung der Entgelttransparenz zwischen Frauen und Männern“ von 2017 ist ein zahnloser Papiertiger geblieben. Mehr Hoffnung ruht jetzt auf der EU-Entgelttransparenzrichtlinie, die Deutschland umsetzen muss. Hier gilt es, den Druck hochzuhalten, um tatsächliche Veränderungen zu erreichen und uns 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes dem Zustand anzunähern, den die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat bereits für selbstverständlich hielten. Und das ist ein Grund, warum der Internationale Frauentag weiterhin wichtig ist.
Tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung!
Formal gewährte Gleichheit tatsächlich zu erfüllen ist keineswegs ein Selbstläufer, sondern muss nach wie vor mühsam in einzelnen Themen und in Einzelfällen erstritten werden. Nicht selten müssen wir das Erreichte gegen Angriffe verteidigen. Rückschritte sind möglich und werden von manchen politisch erstrebt, die auch sonst einen Rückfall in braune Zeiten anstreben. Die Verbindung von rechtsextremen Gesinnungen und Frauenfeindlichkeit ist klassisch. Die bunten Demonstrationen der letzten Wochen sind deswegen ein ermutigendes Zeichen für Frauen und für die Demokratie ganz allgemein. Diese Form von Solidarität ist in einer Demokratie unerlässlich. Wenn Einzelne diskriminiert und ausgegrenzt werden, so setzt sich die Demokratie in Widerspruch zu ihrem eigenen Gleichheitsversprechen. Dieses Versprechen steht nicht nur auf dem Papier, sondern hat eine tatsächliche Dimension.
Soziale und rechtliche Kämpfe gegen Diskriminierung verlaufen in historischer Perspektive in drei Phasen: Rechte werden verwehrt, Rechte werden gewährt, tatsächlich gleiche Rechte müssen schließlich noch durchgesetzt werden. Elisabeth Selbert erkämpfte 1948/49 im Parlamentarischen Rat Art. 3 Abs. 2 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Nach der Wiedervereinigung fügten 1993 kämpferische Frauen einen zweiten Satz hinzu: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Seither betont unsere Verfassung: Das mit der Gleichberechtigung der Frauen ist keine Verfassungslyrik. Wir als Demokratie meinen es damit ernst! Um uns an dieses Verfassungsgebot zu erinnern, feiern wir einmal im Jahr den Internationalen Frauentag – es sollte wie in Berlin ein Feiertag sein, damit wir auch Zeit haben zu demonstrieren! Und wir stehen solidarisch mit den Frauen in der ganzen Welt, die noch immer für Gleichberechtigung kämpfen! Diese Kämpfe sind leider im Jahr 2024 längst noch nicht vorbei. Und das ist ein Grund, warum der Internationale Frauentag weiterhin wichtig ist.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
Dieser Montag war historisch. Der US Supreme Court hat – einstimmig &