15 June 2025

Mit zweierlei Maß

Die deutsche Position zu den israelischen Militärschlägen gegen den Iran

In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni hat Israel eine Reihe von Militärschlägen gegen den Iran durchgeführt. Seitdem überziehen sich der Iran und Israel mit Angriffen, mit einer steigenden Zahl von Toten und Verletzten auf beiden Seiten. Unmittelbar nach Beginn der israelischen Militärschläge äußerte sich das Auswärtige Amt zu den Angriffen und deutete unter Bezugnahme auf Verletzungen des Atomwaffensperrvertrags sowie die mit dem iranischen Nuklearprogramm einhergehende Bedrohung an, dass die militärischen Maßnahmen Israels vom Recht auf Selbstverteidigung gedeckt sein könnten. Diese Position ist nicht nur völkerrechtlich unhaltbar, sondern trägt auch zu einer gefährlichen Relativierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots bei.

Verletzungen des Gewaltverbots

Die israelischen Angriffe sind völkerrechtswidrig. Sie verstoßen gegen das in Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta verankerte völkerrechtliche Gewaltverbot. Eine Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt der Selbstverteidigung scheidet aus, wie etwa Marko Milanovic auf EJIL Talk! zutreffend ausgeführt hat. Das Selbstverteidigungsrecht setzt nach Art. 51 UN-Charta einen bewaffneten Angriff voraus. Dieser muss gerade stattfinden oder zumindest unmittelbar bevorstehen. Beides ist vorliegend nicht der Fall. Der Iran hat Israel nicht angegriffen, und selbst wenn man ein präemptives Selbstverteidigungsrecht anerkennt, setzte dieses einen unmittelbar bevorstehenden Angriff (imminent attack) voraus, wofür auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen keine Anhaltspunkte bestehen. Ein Recht auf präventive Selbstverteidigung, das also im Vorfeld eines unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriffs ansetzte, ist völkerrechtlich nicht anerkannt. Der Verstoß gegen das Völkerrecht ist insofern offensichtlich.

An dieser völkerrechtlichen Bewertung ändert sich auch dadurch nichts, dass zwischen Israel und dem Iran kontinuierlich militärische Auseinandersetzungen stattfinden: Jede militärische Maßnahme muss für sich genommen völkerrechtlich gerechtfertigt werden, und die Berufung auf eine mögliche zukünftige Bedrohung durch die Entwicklung von Nuklearwaffen begründet gerade keine Selbstverteidigungslage.

Völkerrechtlich schwieriger zu bewerten ist die unmittelbare militärische Reaktion des Irans. Die völkerrechtswidrigen militärischen Maßnahmen Israels stellen einen bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 UN-Charta dar, der zum Zeitpunkt der iranischen Gegenreaktion auch noch nicht abgeschlossen war. Mit Blick auf diese Angriffe kann der Iran sich daher grundsätzlich auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Gleichwohl müssten die militärischen Maßnahmen des Irans auch tatsächlich der Selbstverteidigung dienen: Vergeltungsmaßnahmen sind ebenso unzulässig wie Angriffe auf zivile Objekte und Zivilisten. Soweit die militärischen Maßnahmen des Irans sich gezielt gegen Zivilisten oder zivile Objekte richten bzw. nicht hinreichend zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden, verstoßen sie zudem gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts (ius in bello) und sind völkerrechtswidrig.

Reaktion des Auswärtigen Amtes

Die Reaktion des Auswärtigen Amtes auf die Eskalation ließ nicht lange auf sich warten. Noch am 13. Juni tagte der Krisenstab der Bundesregierung, und Außenminister Johann Wadephul äußerte sich während einer Reise in Kairo wie folgt:

„Das iranische Nuklearprogramm ist nicht im Einklang mit den Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrages. Dies hat auch der Gouverneursrat der IAEO mit breiter Mehrheit festgestellt. Das Nuklearprogramm Irans ist eine Bedrohung für die ganze Region und insbesondere für Israel. Deswegen ist für uns klar: Israel hat das Recht, seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen. Dennoch kennen Sie auch unsere grundsätzliche Haltung: Wir fordern alle Seiten dringend dazu auf, von Schritten abzusehen, die zu einer weiteren Eskalation führen und die die Sicherheit der ganzen Region gefährden könnten. Deutschland steht weiter bereit, einen Beitrag zu leisten, insbesondere im Rahmen der E3 mit Frankreich und Großbritannien sowie in enger Abstimmung mit den Vereinigten Staaten von Amerika.“

Einleitend heißt es:

„Nach gezielten israelischen Militärschlägen, die unter anderem gegen Einrichtungen des iranischen Nuklearprogramms gerichtet waren, reagierte Iran mit dem Abschuss hunderter Drohnen auf Israel.“

Angesichts des Umfangs der israelischen Angriffe ist schon dieses Framing problematisch. Dass die Militärschläge „gezielt“ erfolgten, sagt noch nichts darüber aus, ob sie mit dem völkerrechtlichen Gewaltverbot im Einklang stehen (das tun sie nicht) und ob sie sich ausschließlich gegen völkerrechtlich legitime Ziele richten (das ist etwa mit Blick auf die gezielt angegriffenen und getöteten Wissenschaftler höchst fraglich). Irritierend ist zudem, dass die getöteten Zivilistinnen und Zivilisten mit keinem Wort erwähnt werden.

Völkerrechtlich brisant wird die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, wenn ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit des iranischen Nuklearprogramms und dem Recht Israels auf Selbstverteidigung hergestellt wird. Denn für die Frage des Selbstverteidigungsrechts sind mögliche Verstöße des Irans gegen den Atomwaffensperrvertrag irrelevant. Sie könnten die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des Irans auslösen und ggf. Sanktionen unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt rechtfertigen, begründen aber keine Selbstverteidigungslage. Und auch die vom iranischen Nuklearprogramm ausgehende Bedrohung rechtfertigt keine militärischen Maßnahmen. Erneut: Selbstverteidigung setzt einen bewaffneten Angriff voraus, der gerade stattfindet oder zumindest unmittelbar bevorsteht. Im Widerspruch zur bisherigen Position der Bundesregierung und entgegen der eindeutigen völkerrechtlichen Lage scheint das Auswärtige Amt hingegen zumindest für möglich zu halten, dass die israelischen Angriffe durch das Selbstverteidigungsrecht gedeckt sein könnten.

Völkerrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik

Diese Position ist völkerrechtlich nicht haltbar. Der offenkundige und schwerwiegende Verstoß gegen das Gewaltverbot durch Israel führt vielmehr zu weiteren völkerrechtlichen Pflichten aller Staaten. Völkergewohnheitsrechtlich weitgehend anerkannt und in Art. 41 Abs. 1 der von der Völkerrechtskommission verabschiedeten Artikel über die Staatenverantwortlichkeit normiert ist die Verpflichtung aller Staaten zur Zusammenarbeit, um eine entsprechende Völkerrechtsverletzung zu beenden. Völkerrechtlich untersagt sind zudem Maßnahmen, die sich als Hilfeleistung oder Unterstützung bei der Begehung einer Völkerrechtsverletzung begreifen lassen. Entsprechende Maßnahmen können als Beihilfe (Art. 16 der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit) eine eigenständige Völkerrechtsverletzung begründen. Waffenlieferungen an Israel und sonstige Unterstützungsmaßnahmen sind daher nicht nur mit Blick auf die israelische Besatzung und den Gaza-Konflikt, sondern seit dem 13. Juni auch vor dem Hintergrund der militärischen Maßnahmen gegen den Iran völkerrechtlich problematisch.

Schwächung des Völkerrechts

Über den konkreten Konflikt hinaus hat die problematische Positionierung des Auswärtigen Amtes das Potential, zu einer gefährlichen Tendenz der Relativierung des Gewaltverbots beizutragen. Das Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta ist bewusst eng formuliert. Extensivere Lesarten dürfen nicht vorschnell mit geltendem Völkerrecht gleichgesetzt werden. Sie erweitern die Optionen unilateraler Gewaltanwendung und relativieren damit das völkerrechtliche Gewaltverbot. Das prominent von der US-amerikanischen Regierung unter George W. Bush in Anspruch genommene Recht auf präventive Selbstverteidigung, mit dem der Versuch einer Rechtfertigung des Irak-Kriegs von 2003 unternommen wurde, ist daher von der internationalen Gemeinschaft entschieden zurückgewiesen worden. Dasselbe gilt für viele weitere Versuche einer Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts. Dass die Bundesregierung nun an einer entsprechenden Aufweichung des Gewaltverbots mitwirkt, ist mehr als nur bedauerlich. Es ist brandgefährlich.

Die Bundesrepublik Deutschland betont regelmäßig, dass das Völkerrecht einen Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik darstellt. Ein solches Bekenntnis weckt die Erwartung, dass die Bundesregierung sich nicht nur selbst völkerrechtskonform verhält, sondern auch völkerrechtswidrige Maßnahmen anderer Staaten anprangert und Maßnahmen und Äußerungen unterlässt, die zu einer Schwächung des Völkerrechts führen können. Diese Verantwortung gilt in besonderem Maße, wenn es um die völkerrechtlichen Regeln des Einsatzes militärischer Gewalt geht.

Dass der Außenminister zur Deeskalation aufruft und in Aussicht stellt, dass Deutschland hierzu einen Beitrag leisten wird, ist ebenso zu begrüßen, wie die Kritik an der militärischen Reaktion des Irans legitim ist. Das Schweigen zur Völkerrechtswidrigkeit des israelischen Angriffs, oder schlimmer noch: die implizite Billigung der Angriffe, lässt sich hingegen nur als grundlegendes Versagen deutscher Außenpolitik bezeichnen. Es trägt zur Schwächung des Völkerrechts bei und unterfüttert die Zweifel an der Prinzipientreue der Bundesrepublik, wenn es um die Einhaltung des Völkerrechts geht. In Fragen des Völkerrechts darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Einer friedlichen Lösung des Konflikts ist diese Haltung ebenso wenig zuträglich wie der Integrität der Völkerrechtsordnung oder der ohnehin angeschlagenen Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Welt.


SUGGESTED CITATION  Payandeh, Mehrdad: Mit zweierlei Maß: Die deutsche Position zu den israelischen Militärschlägen gegen den Iran, VerfBlog, 2025/6/15, https://verfassungsblog.de/israel-iran-volkerrecht/, DOI: 10.59704/bf0a7def360076da.

4 Comments

  1. Kai Ambos Sun 15 Jun 2025 at 15:14 - Reply

    Danke für den wichtigen und richtigen Artikel. Die deutsche Regierung schweigt und trägt damit zur Unterminierung des Gewaltverbots – der Fundamentalnorm der völkerrechtlichen Ordnung –und zum Untergang der regelbasierten Ordnung Ordnung bei.

  2. Weichtier Sun 15 Jun 2025 at 17:27 - Reply

    M.P.: „Die Bundesrepublik Deutschland betont regelmäßig, dass das Völkerrecht einen Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik darstellt. Ein solches Bekenntnis weckt die Erwartung, dass die Bundesregierung sich nicht nur selbst völkerrechtskonform verhält, sondern auch völkerrechtswidrige Maßnahmen anderer Staaten anprangert und Maßnahmen und Äußerungen unterlässt, die zu einer Schwächung des Völkerrechts führen können. Diese Verantwortung gilt in besonderem Maße, wenn es um die völkerrechtlichen Regeln des Einsatzes militärischer Gewalt geht.“

    Umso wichtiger ist aus meiner Sicht, dass sich die deutsche Außenpolitik hinsichtlich ihrer Grundpfeiler in einer Zeit ehrlich macht, in der die relevanten Staaten (USA, China, Russland) ein noch offenkundigeres Desinteresse am Völkerrecht zeigen als früher. Und wann dieses Desinteresse zurück gehen sollte, ist nicht absehbar. Wie die Irrelevanz des Völkerrechts durch ein fehlendes Anprangern noch weiter geschwächt werden könnte, ist mir nicht klar.

    Für eine Außenpolitik, die auf Prinzipientreue angelegt ist, mag Schweigen zur Völkerrechtswidrigkeit des israelischen Angriffs ein Problem sein. Für eine Außenpolitik, die auf einen Rest von Wirksamkeit ausgerichtet ist, dürfte das Beschweigen der Völkerrechtswidrigkeit unproblematisch sein, weil den möglichen Adressaten (einschließlich Israels) die Völkerrechtswidrigkeit sowieso bekannt sein dürfte. Es spielt aber für das politische Kalkül dieser Adressaten offensichtlich keine Rolle.

  3. M. B. Sun 15 Jun 2025 at 19:20 - Reply

    Der Autor verkennt leider völlig, dass der Iran tagtäglich gegen das Gewaltverbot verstößt, indem es Israel jeden Tag aufs Neue mit Vernichtung droht.

    Dass der Iran zwei Wochen von einer Atombombe entfernt war und nicht nur Israel, sondern die ganze Region somit in den Abgrund hätte reißen können, ist für die Bejahung der Voraussetzungen einer präventiven Aktion Israels mehr als ausreichend.

    Nachdem Israel die komplette iranische Achse des Widerstands teilweise zerstört, zumindest jedoch stark geschwächt hat, war die Atombombe Irans letztes Ass im Ärmel, um weiterhin als Regionalmacht zu gelten und die Islamische Revolution zu exportieren, so wie es die iranische Verfassung des Mullah-Regimes vorsieht.

    Israel führt äußerst präzise Schläge gegen militärische Einrichtungen sowie militärische Schlüsselfiguren des Regimes durch.
    Im Gegensatz zum Iran warnt die IDF – wie üblich – auch die iranische Bevölkerung vor Angriffen auf größere Militärkomplexe und fordert die Menschen zum Verlassen dieser Gebäude auf.

    Dies kann vom Iran nicht behauptet werden: Das Regime begeht unterschiedslose Angriffe gegen Israel. Hierdurch sind bereits mehr als ein Dutzend Israelis ermordet worden.
    Vier arabische und neun jüdische Israelis, Stand jetzt.

    Angesichts der vom Iran propagierten staatlichen Politik der Holocaustleugnung sowie besten Kontakten des Regimes zu europäischen Rechtsextremisten verwundert die Absicht des Regimes, möglichst viele Juden zu ermorden, nicht.

    Für Kenner der Region ist jedoch auch die Ermordung von arabischen Israelis keine Überraschung.
    Schließlich ist die Politik des Regimes gegen die arabische Minderheit in Ahvaz, Iran, von anti-arabischem Rassismus geprägt.

  4. M. B. Sun 15 Jun 2025 at 21:09 - Reply

    Der Autor verkennt des Weiteren, dass iranische Offiziere der terroristischen Revolutionsgarden und damit der Iran selbst durch sein libanesisches Werkzeug Hisbollah spätestens seit dem September 2024 aktive Kampfhandlungen gegen Israel durchgeführt haben (1).

    Gewaltanwendung gegen Israel seitens des Mullah-Regimes liegt demnach bereits spätestens seit September 2024 vor.

    Ob das Maß nun beim Auswärtigen Amt oder vielleicht doch eher bei dessen Kritikern ein wenig aus dem Lot geraten ist, mögen andere beurteilen.

    (1)
    https://understandingwar.org/backgrounder/iran-update-september-29-2024

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Gewaltverbot, Israel-Iran-Krieg, Selbstverteidigungsrecht, Völkerrecht


Other posts about this region:
Iran, Israel und besetzte Gebiete