13 March 2023

Israels Staatsumbau

Eine historische Kontextualisierung der israelischen Justizreformen

Israels neue rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanyahu arbeitet an einer Justizreform, die hunderttausende Demonstranten auf die Straße treibt und in der Kritik steht, den israelischen Rechtsstaat zu zerstören. Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass es bei den Protesten nicht nur um die Reform selbst, sondern auch um grundlegende Fragen nach dem Charakter des jüdischen Staates und seiner Identität geht. Das israelische Rechtssystem steht schon immer stellvertretend für den Staat selbst. Die gespaltene israelische Gesellschaft streitet um das Verständnis von Demokratie, das Verhältnis von Religion und Staat und um die zukünftige Machtposition einzelner Gesellschaftsgruppen.

Recht als Mosaik

Das israelische Rechtssystem ist ein Mosaik aus verschiedenen Rechtstraditionen. Es besteht aus Bruchstücken des Osmanischen Rechts und des britischen Mandatsrechts. Nach der Staatsgründung im Jahr 1948 wurde es nach dem britischen Vorbild eines reaktiven Case Law-Systems aufgebaut. Es hat keine Verfassung, aber ein Verfassungsgericht. In dem gerade 75 Jahre alten Einwanderungsland, dessen heterogene Bevölkerung divergierende Ideen von Recht und Staat mitgebracht hat, kann man kaum von einer eigenen gefestigten Rechtstradition sprechen.

Mehrmalige Versuche, eine Verfassung zu verabschieden, welche die entgegengesetzten Staatsverständnisse in der israelischen Gesellschaft auf einen gemeinsamen Nenner bringen sollte, scheiterten. Stattdessen traten 14 einzelne so genannte Grundgesetze, die aufgrund des schwer herzustellenden Konsenses nur Fragmente einer benötigten Verfassung liefern konnten und stark vom jeweiligen politischen Zeitgeschehen geprägt waren. Ein Beispiel ist das Grundgesetz „Jerusalem, die (ungeteilte) Hauptstadt“ (1980), dessen Verabschiedung erst mit dem Machtwechsel von der Arbeitspartei Awoda zum konservativen Likud in 1977 möglich wurde.1)

Das Fehlen einer Verfassung beförderte zudem eine sehr dynamische Rechtsprechung, die im Wege freizügiger Rechtsinterpretationen versucht, radikal unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu vereinen. Insbesondere in den Urteilsbegründungen der Richter des Obersten Gerichts kann man diesen Spagat sehen, der ihnen den Ruf einbrachte, politisiert zu entscheiden.

Hinzu kommt der fragile Gesetzgebungsprozess. Alle israelischen Gesetze, einschließlich der Grundgesetze, können mit einer relativen oder einfachen Mehrheit verabschiedet werden. Das bedeutet im Grunde, dass jede Regierungskoalition, die 61 von 120 Abgeordnetensitze auf sich vereint, theoretisch die Möglichkeit hat, das Recht grundlegend zu verändern. Die Legislative besteht nur aus einer Kammer, der Knesset, wodurch die Verschränkung zwischen Legislative und Exekutive besonders ausgeprägt ist. Die Mehrheit der Abgeordneten gehört nicht nur der Regierungskoalition an, sondern stellt ebenfalls die Minister, die bei einem aufgeblähten Kabinett über ein Viertel der Knesset ausfüllen.

Seit der Staatsgründung stehen die Judikative und die mit der Exekutive verschränkte Legislative immer wieder in Konflikt. Mehrere Gerichtsurteile führten sogar indirekt zur Auflösung der Regierung. Rückblickend betrachtet interagierten sie jedoch über lange Zeit größtenteils erfolgreich miteinander, da ihre Vertreter eine grundsätzlich ähnliche Ausrichtung des Staates anstrebten.  Eine Art roter Faden im Verhältnis der beiden Gewalten bildet dabei der israelisch-palästinensische Konflikt.

Zur Entwicklung des israelischen Rechtssystems

Die Unabhängigkeitserklärung bildet die erste Grundlage für das israelische Recht, ist aber nicht von Gesetzesrang.2) Sie ist das einzige Dokument, das das Prinzip der „Gleichheit“ festhält. Darin wird ein jüdischer Staat beschrieben, in dem alle Bürger unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit gleiche Rechte haben.

Die Zeit nach der Staatsgründung wurde durch eine Gesetzgebung bestimmt, die die demographische Zusammensetzung regulierte. Auf Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Zuge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 folgten Gesetze zur jüdischen Einwanderung (1950), Vergabe der Staatsbürgerschaft (1952), und Zutritt zum Staatsterritorium (1952).3) Bis 1966 stand die verbliebene palästinensische Bevölkerung, seit der Staatsgründung „israelische Araber“ genannt, unter Militärverwaltung, so dass das Versprechen der Gleichheit der Unabhängigkeitserklärung für sie größtenteils fiktiv blieb.

Mit der Besetzung des Westjordanlands im Jahr 1967 als Folge des Sechstagekriegs kam zusätzlich zum bestehenden Rechtssystem im Kernland die Militärgerichtsbarkeit in den palästinensischen Gebieten hinzu. Die beiden Rechtssysteme agieren fast unabhängig voneinander –  mit der Ausnahme, dass das Oberste Gericht Israels auch von Palästinensern aus den besetzen Gebieten angerufen werden kann. In den letzten Jahren wurden die Zuständigkeiten schrittweise aus den Militärgerichten in die Zivilgerichte und Ministerien Israels überführt. Es findet eine rechtliche Integration und damit schrittweise Annexion statt, indem die Unterschiede zwischen Israel und den besetzen Gebieten verwischt werden.

Eine wichtige Änderung des Rechtssystems im Kernland kam in den 90er Jahren auf. Im Zuge der sogenannten „Konstitutionellen Revolution“ wurden 1992 und 1994 zwei Grundgesetze verabschiedet, die in Anlehnung an die Unabhängigkeitserklärung zum ersten Mal festschrieben, dass Israel ein „jüdischer und demokratischer“ Staat ist.4) Das Oberste Gericht verlieh sich zeitgleich selbst die Kompetenz, auf Grundlage dieser Gesetze als Verfassungsgericht tätig zu werden. Urteilsbegründungen aus dieser Zeit belegen, dass unter „demokratisch“ die Lesart einer liberalen Demokratie bestimmend war. Auf dieser Basis wurden Urteile gefällt, die die Gleichbehandlung der israelischen Araber vorantrieben. Gesetze, die Gruppen diskriminierten, wurden vom Gericht zur Überarbeitung an die Legislative zurückgewiesen. All das fand vor dem Hintergrund der umfassenden wirtschaftlichen und politischen Liberalisierung des Landes und dessen internationaler Öffnung statt. Im gleichen Zeitraum begann der Friedenprozess zwischen Israel und den Palästinensern, der 1993 zu den Osloer Abkommen führte.

Der Konflikt der Gewalten

Die Kritik daran, dass die Richter ihre Kompetenz in den 1990er Jahren überspannt hätten, wurde jedoch erst in diesem Jahrhundert laut. Mehrere Beschlüsse des Gerichts zugunsten von Minderheiten wurden von der Legislative durch neue Gesetze zunichte gemacht. Die Erfahrung der beiden Intifadas und das Scheitern des Friedensprozesses läuteten einen gesellschaftlichen Rechtsruck und einen Backlash in der israelischen Politik ein. Gleichzeitig wuchs die Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie und ihren universellen Werten. Seitdem stehen die Staatsgewalten zunehmend stellvertretend für eine unterschiedliche Auffassung von Demokratie und der zukünftigen Ausrichtung Israels.

Je offensichtlicher wurde, dass die Zwei-Staaten-Lösung nicht in nächster Zukunft realisierbar ist, und je gewaltbereiter der Widerstand wurde, desto intensiver wurden die nationalistischen Tendenzen und die Forderung, den exklusiven jüdischen Charakters des Staates rechtlich zu schützen. Auch die seit Anbeginn des Staates vorhandenen Trennungslinien entlang von Religion, Ethnizität und Herkunft wurden sichtbarer. Eine auf individueller Gleichheit basierende Vorstellung von einem Gemeinwesen, wie sie in Politik und Recht noch in den 90er Jahren vorherrschend war, wurde zunehmend durch eine partikulare, sich über Gruppenzugehörigkeit definierende Identität abgelöst. Während das Oberste Gericht in den 90er Jahren mit dem Verweis auf die Unabhängigkeitserklärung den demokratischen Charakter Israels noch im Sinne demokratischer „Gleichheit“ interpretierte, rückte in der Legislative nach und nach ein simpleres Verständnis von Demokratie als „Mehrheit“ in den Vordergrund. In der Folge wurde der Mehrheit in der Knesset ein größeres Gewicht eingeräumt. Eine Judikative, die sich weiterhin für individuelle Rechte einsetzte, wurde zunehmend zum Hindernis.

Als Folge verstärkte sich nicht nur die Trennung zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Auch religiöse und säkulare, europäische und orientalische Juden, Linke und Rechte konkurrierten zunehmend um eine politische Mehrheit, weil sie ihre partikulare Identität vor allem dadurch abgesichert sahen. Eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft machte aus jeder Wahl eine Entscheidung über die Identität des Staates. In einer berühmten Rede im Jahr 2015 warnte der damalige israelische Präsident Reuven Rivlin davor, dass die Bevölkerung Israels in Stammesgruppen zerfällt, die nichts mehr miteinander zu tun haben. Sie gehen auf unterschiedliche Schulen, wohnen in unterschiedlichen Städten und haben unterschiedliche Werte, die unter anderem ihre Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen prägen.5)

Im Jahr 2018 verabschiedete die Knesset das 14. Grundgesetz „Das Nationalstaatsgesetz des Jüdischen Volkes“.6) Er ist das Ergebnis 15-jähriger Beratungen – und des letzten Versuchs, eine Verfassung zu verabschieden. Der Gesetzestext klammert die arabische Minderheit aus und konstruiert den geringsten gemeinsamen Nenner innerhalb der divergierenden jüdischen Gesellschaftsgruppen. Das Gesetz ist international dadurch bekannt geworden, dass es den Charakter des Staates Israel als jüdisch festhält und gleichzeitig weder Demokratie noch Gleichheit explizit benennt. Auch hebt das Gesetz die seit der Mandatszeit bestehende Gleichstellung der beiden Amtssprachen Hebräisch und Arabisch auf. Das Nationalstaatsgesetz wurde damit begründet, dass es an der Zeit sei, das jüdische Kollektivrecht auf nationale Selbstbestimmung konstitutiv zu verankern. Mehrere linke und arabische Parteien haben sich seitdem die Annullierung dieses Gesetzes auf ihre Agenda gesetzt. Die „Regierung des Wandels“, die von 2021 bis 2022 von Naftali Bennett und Yair Lapid angeführt wurde, versuchte, das Gesetz zu verändern, scheiterte damit aber mangels regierungsinterner Einigkeit.

Die aktuelle Justizreform und was sich dahinter verbirgt

Nach den letzten Wahlen vom 1. November 2022 entstand unter der Führung von Benjamin Netanjahu eine präzedenzlose Regierungskoalition aus rechten und religiösen Parteien. Eine derartige Homogenität ist für israelische Politik selten und ermöglicht es, Gesetzesvorhaben, die sonst längere Verhandlungen in der Knesset notwendig gemacht hätten, zügig durchzubringen. Die aufwendige Kompromisssuche ist häufig unnötig. Besonders drastisch zeigt sich dies bei der vorgeschlagenen Justizreform.

Das Ziel der Reform besteht darin, das Oberste Gericht zu entmachten, indem einerseits die Richter von der Regierungsmehrheit im Parlament berufen werden sollen und andererseits ihre Urteile von der Knesset überstimmt werden können. Damit würde das majoritäre Verständnis von Demokratie rechtlich verankert werden. Tatsächlich begründen die beiden zuständigen Regierungsmitglieder, Justizminister Yariv Levin und der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Simcha Rothman, die anstehende Reform mit dem Willen der Mehrheit, der sich im Wahlergebnis niederschlug. Im Gegensatz dazu seien die Richter des Obersten Gerichts nicht vom Volk gewählt worden.

Mit einem Vorsprung von nur 0,5 Prozent an abgegebenen Stimmen vertritt die jetzige Regierungskoalition hauptsächlich religiöse und rechts eingestellte jüdische Bevölkerungsgruppen. Ihre Wähler sind überwiegend orientalische und ultraorthodoxe Juden sowie Israelis aus dem nationalreligiösen Spektrum, deren Weltanschauung theokratische und nationalistische Elemente umfasst, und die eng mit der Siedlerbewegung in den Besetzten Gebieten verbunden sind. Die andere Hälfte der Bevölkerung bestehend aus säkularen Israelis meist europäischer Abstammung und israelischen Arabern ist in der Koalition nicht repräsentiert.

Israelische Araber sehen sich dagegen traditionell nicht von der israelischen Regierung vertreten. In den letzten Jahren ist ihre Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken. Als Staatsbürger zweiter Klasse spielt es für viele von Ihnen keine Rolle, wer derzeit an der Macht ist. Zwar dient das Oberste Gericht noch als Überlebensversicherung für arabische Parteien; mehrmals konnte es verhindern, dass diese auf Grundlage des Grundgesetzes „Die Knesset“ mit dem Vorwurf, sie arbeiteten gegen den Charakter des jüdischen Staates aus der Knesset ausgeschlossen wurden.7) Allerdings ist das Gericht seit Jahren einem derartigen massiven politischen Druck ausgesetzt, dass es nicht mehr wie früher proaktiv als Beschützer der arabischen Minderheit fungiert. Selbst die Aussicht auf eine sich rapide verschlechternde Situation der Palästinenser in den Besetzten Gebieten unter der neuen Regierung hat nicht dazu geführt, dass sich arabische Israelis an den Demonstrationen beteiligen.

Tatsächlich spielt die Besatzung bei den Demonstrationen, die von einem Meer israelischer Flaggen begleitet werden, nur eine untergeordnete Rolle. Das Oberste Gericht verhält sich dazu ohnehin nur noch sehr eingeschränkt. Noch können seine Urteile die nachträgliche Legalisierung illegaler Siedlungen ausbremsen, doch urteilt es oft legalistisch und kontextlos und befürwortete beispielsweise den Abriss palästinensischer Dörfer ohne Baugenehmigung.

Zu den Demonstrationen gehen hauptsächlich säkulare Juden und einige moderate Religiöse, die weltlichen Vorstellungen von Recht und Staat anhängen. Ihre Sorgen richten sich vor allem auf ihre eigene Lebenssituation im israelischen Kernland. Für diese Bevölkerungsgruppe stellt das Oberste Gericht weiterhin eine Bastion zum Schutz ihrer Rechte dar. Ein unabhängiges Rechtssystem ist für sie sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch wichtig. Es schützt den freien Markt, die freie Meinungsäußerung sowie Rechte von sexuellen Minderheiten und Frauen, die in einer rechtsreligiösen Regierung keinen hohen Stellenwert haben. Vor allem aber ist das Oberste Gericht das Symbol für ihre eigene Gesellschaftsschicht, aus deren Kreisen sich seit der Staatsgründung die Elite des Landes rekrutierte.

Die Demonstranten sind neben Oppositionspolitikern und zivilgesellschaftlichen Organisationen vor allem Akademiker, Künstler, Ärzte, Anwälte, IT-Mitarbeiter, Reservisten und Generäle; eine Gruppe, von der Rothman sagt, dass es für sie an der Zeit ist, die Macht zugunsten der bisher unterprivilegierten Gesellschaftsgruppen abzugeben. Hinter dieser Rhetorik des „kleinen Mannes“ steckt jedoch die auch aus anderen geographischen Kontexten (USA, Ungarn) bekannte Strategie rechter Parteien; gemeint sind die rechten und religiösen Wähler der neuen Regierung.8) Flankierend zum Rechtsrutsch ist auch eine demographische Entwicklung zu beobachten, die ebenso auf einen Wechsel von der säkularen zur religiösen Mehrheit zusteuert. Während das Oberste Gericht in seinen Befugnissen eingeschränkt werden soll, sollen die Kompetenzen der religiösen Gerichte ausgeweitet werden. Im Gespräch sind eine Reihe von Gesetzen, die das Verhältnis von Religion und Staat neu definieren würden.

Vor diesem Hintergrund sprechen die Demonstranten nicht nur von einer Justizreform, sondern von einem Systemwechsel bzw. sogar von einem Putsch. Denn sollte die Reform gelingen, stünde nicht nur eine Neusortierung im Verhältnis der Gewalten an, sondern die strukturelle und ideelle Neuausrichtung des Staates Israel.


SUGGESTED CITATION  Averbukh, Lidia: Israels Staatsumbau: Eine historische Kontextualisierung der israelischen Justizreformen, VerfBlog, 2023/3/13, https://verfassungsblog.de/israels-staatsumbau/, DOI: 10.17176/20230313-185225-0.

3 Comments

  1. Lothar Zechlin Tue 14 Mar 2023 at 12:58 - Reply

    Danke für diesen nüchternen und äußerst informativen Beitrag, der die grundlegenden Probleme des israelischen Staates aufzeigt, die weit über die der gegenwärtigen Justizreform hinausweisen. Er verdient, weit verbreitet zu werden.

  2. Marx Glättli Thu 16 Mar 2023 at 14:42 - Reply

    “indem einerseits die Richter von der Regierungsmehrheit im Parlament berufen werden sollen und andererseits ihre Urteile von der Knesset überstimmt werden können. ”

    Wenn sich die Reformen darauf beschränken sollten, verstehe ich den Grund für die Aufregung nicht. Dass Parlamentsmehrheiten über die Zusammensetzung von obersten Gerichten bestimmen, ist überhaupt nichts außergewöhnliches und findet sich in diversen liberalen Demokratien. Dass das Parlament Urteile des höchsten Gerichts überstimmen kann, findet sich ebenfalls beispielsweise in der Notwithstanding clause der Kanadischen Charter. Dieses Modell wurde über Jahrzente in der Literatur zur judicial review als ideales Modell zur Vereinbarung von Rechtsstaat und Demokratie gelobt. Wieso soll ein Modell, welches so lange so stark gelobt wurde, jetzt schlecht sein?

  3. Helmut Suttor Fri 17 Mar 2023 at 14:57 - Reply

    Der „Staatsumbau“ im Lichte des israelischen Staatsgründungsprojekts

    Dr. Lidia Averbukhs möchte „eine historische Kontextualisierung der israelischen Justizreformen“ präsentieren. Diesem Anspruch genügt ihr im Übrigen informativer Text nicht. Die grundlegenden Defizite kommen schon in den einleitenden, spätere Fehlinterpretationen vorprogrammierenden, Ausführungen zum Ausdruck:

    „Die Unabhängigkeitserklärung bildet die erste Grundlage für das israelische Recht, ist aber nicht von Gesetzesrang. Sie ist das einzige Dokument, das das Prinzip der ‚Gleichheit‘ festhält. Darin wird ein jüdischer Staat beschrieben, in dem alle Bürger unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit gleiche Rechte haben“.

    Die Unabhängigkeitserklärung Erklärung bezweckte nicht eine „Grundlage für das israelische Recht“ zu legen, sondern gehorchte einer außenpolitischen Notwendigkeit. Von einer Grundlage für das Recht zu sprechen, wenn diese noch nicht einmal Gesetzesrang hat, erscheint außerdem in sich widersprüchlich.

    Die UN-Teilungsresolution vom November 1947 verpflichtete die beiden neu zu gründenden Staaten auf eine demokratische, an universalistischen Prinzipien orientierte, d.h. auch einen Minderheitenschutz beinhaltende Verfassung. Mit der Gründungserklärung intendierte die politisch-militärische Elite Israels nicht eine für das Rechtssystem bestimmende, normative Grundlage für Grundrechte oder -freiheiten zu legen. Spätere Versuche des Obersten Gerichts das Gründungsdokument als Grundlage mit Verfassungstatus zu implementieren scheiterten daran, dass hinreichender politische Wille zur Veränderung fehlte.

    Moshe Smoira, erster Präsident des Obersten Gerichts Israels (von 1948 bis 1954), brachte den Zweck der Gründungserklärung klar zum Ausdruck:

    “…der einzige Zweck der Unabhängigkeitserklärung war es, die Grundlagen und die Errichtung des Staates zu bekräftigen, um seine Anerkennung durch das Völkerrecht zu ermöglichen. Sie [die Erklärung] bringt die Vision des Volkes und seinen Glauben zum Ausdruck, aber sie enthält kein verfassungsrechtliches Element, das die Gültigkeit der verschiedenen Verordnungen und Gesetze oder deren Aufhebung bestimmt.“ (Schmidt / 123)

    Von einer angemessenen „historischen Kontextualisierung“ kann offensichtlich nicht die Rede sein. Das gilt für die allgemeinhistorische ebenso wie die rechtshistorische Ebene.

    Das Rechtssystem eines Staates spiegelt, wie in jedem Staat, dessen politische Programmatik wider. Von einem nachhaltigen politischen Willen der Eliten Israels ein Rechtssystem zu etablieren, das den universalistischen Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung genügt, kann zu keinem Zeitpunkt der Geschichte Israels die Rede sein. Ein derartiges, einer liberalen Demokratie gemäßes Rechtssystem, stand in diametralen Gegensatz zum israelischen Staatsgründungsprojekt, einen zionistischen Staat zu gründen, der demografisch von Juden dominiert wird. Das israelische Justizwesen war von Anfang an diesem politischen Paradigma untergeordnet. Man kann nicht 750.000 von 910.000 palästinensische „Staatsbürger“ vertreiben, nach der Vertreibung an der Rückkehr hindern, enteignen und gleichzeitig einen liberal-demokratischen Grundrechtskatalog einschließlich des Gleichheitsgrundsatz im Rechtssystem einklagbar verankern.

    Auf die Konstellation bei Staatsgründung 1948 ebenso wie auf die bis in die jüngste Zeit hineinreichende rechtshistorische Kontinuitität wird in einer Dissertation (2001) zu den Grundlagen bürgerlicher Rechte in Israel und den besetzten Gebieten hingewiesen. Die Verhinderung einer demokratischen Verfassung erfolgte aus wohl erwogenem Eigeninteresse der israelischen Eliten in Politik, Militär und Religion insgesamt.

    „Hätte es die geforderte Verfassung mit einem Grundgesetz gegeben, das allen Einwohnern völlige Gleichheit garantiert, hätte es all die diskriminierenden Gesetze, die vor allem gegenüber der palästinensisch-arabischen Bevölkerung angewandt wurden, kaum geben können (…) Nach Durchsicht der israelischen Gesetze, der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sowie der Reden und Debatten in der Knesset konnte ich feststellen, dass – obwohl der Widerstand der religiösen Parteien einer der stärksten Gründe war, keine Verfassung zu erlassen – in Wirklichkeit die vom Verteidigungsestablishment vorgebrachten Argumente die wirksamsten und ausschlaggebendsten waren, die – bis heute – die Verabschiedung einer verankerten Verfassung einschließlich eines umfassenden Grundrechtskatalogs, der Gleichheit und demokratische Rechte und Freiheiten für alle Bürger des Staates garantiert, verhindert haben.“ (Schmidt/145):

    Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts ergibt sich aus Averbukhs Ausführungen zunächst: Das Prinzip „Gleichheit“ ist in keinem israelischen Dokument mit für die Rechtsprechungspraxis relevanten Status nieder gelegt. Es geht insofern nicht in erster Linie darum, dass Israel keine Verfassung hat, wie Großbritannien oder Neuseeland. Eine Verfassung ohne einen darin verankerten Gleichheitsgrundsatz würde die Lage nicht verändern. Großbritannien hat keine Verfassung aber ein Rechtsystem, das den Gleichheitsgrundsatz respektiert. Die Einführung einer Verfassung mit Gleichheitsgrundsatz würde in Großbritannien so gut wie nichts, in Israel aber sehr viel ändern.

    Aus historischer Perspektive unterläuft Frau Averbukh ein typischer Fehler. Sie nimmt die Nakba als relevante Weichenstellung für die (Rechts)Geschichte Israels nicht hinreichend in den Blick. Dies geschieht einerseits dadurch, dass die Unabhängigkeitserklärung als Ausdruck eines ernsthaften politischen Willen i.S. einer Selbstverpflichtung auf universalistische Werte interpretiert und andererseits, in dem die zwischen 1948 und 1952 verabschiedeten Gesetze in technokratischer Sprache als Maßnahmen zur Regulierung der demographischen Zusammensetzung des israelischen Staatsvolks bezeichnet werden.

    Dahinter verschwindet die Tatsache, dass diese Gesetze in keinem demokratisch verfassten Rechtsstaat Bestand gehabt hätten. Hinzu kommt, die Gesetze, die als Legitimationsfassade für die Enteignung der Palästinenser in Israel herhalten mussten, werden überhaupt nicht genannt: Die Emergency Regulations (Absentees’ Property) von 1948 und das darauf aufbauende Absentees’ Property Law, von 1950. Nach dem Gesetz von 1950 war es auch Palästinensern, die es schafften, aller „legaler“ Hindernisse zum Trotz, in ihre Dörfer zurückzukehren, nicht ohne weiteres möglich, an ihr Eigentum zu gelangen (Schmidt 475).

    Das ganze Ausmaß der Enteignung der Palästinenser wird aber erst deutlich, wenn man nicht nur die Ebene der staatlichen Landaneignung, sondern auch die der staatlichen Landvergabe in den Blick nimmt. In Israel in den Grenzen von 1967 und in den besetzten Gebieten wurden Palästinenser bis 1995 bei der Vergabe von Staatsland zu einem etwa gleichen Prozentsatz von ca. 0,25 % bedacht, bei einem palästinensischen Bevölkerungsanteil von ca. 86 % / 20 % Israel/besetzte Gebiete.

    Im Rahmen einer rechtshistorischen Betrachtung mit dem Ziel, den gegenwärtig stattfindenden „Staatsumbau“ in einen angemessenen rechts-historischen Kontext zu stellen sollte die Dimension der systematischen Entrechtung der Palästinenser auf allen Ebenen bürgerlicher Freiheits- und Grundrechte verdeutlicht werden. Das Gewicht des Obersten Gerichtshofs Israel als Faktor zur Wahrung und Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit hat sich letztlich zu in einem Vergleich mit der Verfassungswirklichkeit. Die Rede von der Unabhängigkeitserklärung als eine „Grundlage für das israelische Recht“ die das „Prinzip der Gleichheit festhält“ wird durch einen solchen Vergleich ad absurdum geführt.

    Von der Staatsgründung 1948 bis zum „Staatsumbau“ dieser Tage lassen sich Kontinuitäten belegen. Die Gesetze der Jahre 1948-1952 dienten als Blaupause für die Implementierung des Besatzungsregimes nach 1967. Am Umgang mit den sog. Outposts, der auch nach israelischem Recht (nicht nur nach dem Völkerrecht) illegalen Siedlungen, wird in exemplarischer Weise deutlich, wie sich die Enteignung der Palästinenser (mit und ohne formallegaler Legitimationsfassade) durch die Geschichte Israels bis in die Gegenwart zieht. Die Outposts waren ein Instrument um die Siedlungspolitik auch nach dem Oslo-Friedensprozess fortzusetzen – im Widerspruch zu eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen und eigenem Recht.

    In einem 2005 von Talia Sasson (25 Jahre lang Generalstaatsanwältin am Obersten Gerichtshof Israels) erstellten Bericht wird beschrieben, wie in orchestrierter Kooperation zwischen israelischen Behörden und Ministerien die Outposts gebaut und finanziert wurden. Rechtsverletzungen – so Sasson – wurden zu institutionalisiertem Standardverhalten, Zionismus identifizierte sich praktisch selbst mit Rechtsbruch:

    „Wir sehen uns keinem Schwerverbrecher oder einer Gruppe von Schwerverbrechern gegenüber, die gegen das Gesetz verstoßen. Das Gesamtbild ist eine kühne Verletzung von Gesetzen durch bestimmte staatliche Behörden, Behörden, Regionalräte in Judäa, Samaria und Gaza und Siedler, während sie gleichzeitig ein ordentliches Rechtssystem vorgaukeln. Dies sendet eine Botschaft an die israelischen Streitkräfte, ihre Soldaten und Kommandeure, die israelische Polizei und Polizisten, die Siedlergemeinschaft und die Öffentlichkeit. Und die Botschaft ist, dass das Ansiedeln in nicht autorisierten Außenposten, obwohl illegal, eine zionistische Tat ist.“

    Als sich der Oberste Gerichtshof daran machte diese Praktiken zu unterbinden und am 25.12.2016 die Zerstörung des illegalen Außenpostens Amona anordnete, verabschiedete die Knesset im Eilverfahren am 6.2.2017 das „Gesetz zur Regelung der Besiedlung Judäas und Samarias“ zur nachträglichen Legalisierung der Outposts.

    Weil die „historische Kontextualisierung“ falsch einfädelt wurde, produziert Frau Averbukh Fehlbewertungen und unscharfe Formulierungen, die solche begünstigen.

    Der „exklusive jüdische Charakters des Staates“ Israel wird in erster Linie geschützt, weil sich dies aus dem Staatsgründungsprojekt Israels ergibt und nicht weil es „gewaltbereiten“ palästinensischen Widerstand gibt.

    Eine auf „individueller Gleichheit basierende Vorstellung von einem Gemeinwesen, wie sie in Politik und Recht noch in den 90er Jahren vorherrschend war“ war, gab es nicht. Ein politischer Willen zu einer liberal-demokratischen Veränderung war weder im Justizwesen, noch bei den politischen Entscheidungsträgern und Institutionen „vorherrschend“. Die „Konstitutionelle Revolution“ der Jahre 1992-1994 nannte der israelische Verfassungsjurist Prof. David Kretzmer etwas bescheidener eine „Minirevolution“ (Schmidt / 161). In den beiden hier einschlägigen „Grundgesetzen“ seien wichtige Menschenrechte nicht erwähnt, die gerichtliche Gesetzes-Überprüfung beschränke sich auf Rechtsvorschriften, die nach Inkrafttreten erlassen wurden.

    Welches Gewicht der Oberste Gerichtshof in nachrevolutionären Zeiten bei der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit hatte, zeigt das angeführte Beispiel der Outposts, zeigen auch Entscheidungen zu Verwaltungshaftanordnungen. Trotz hunderter höchstrichterlicher Überprüfungen bis 2021 wurde eine einzige widerrufen, so die Harvard Law School in ihrem Bericht über Apartheid in der Westbank. Die restriktive Handhabung von Haftanordnungen vorsehende Papierform ist hier zu unterscheiden von einer den Imperativen des Besatzungsregimes gehorchenden Praxis, der sich der Oberste Gerichtshof geflissentlich zu beugen pflegt.

    „In der Praxis hat die Rechtsprechung des israelischen Obersten Gerichtshofs jedoch immer wieder gezeigt, dass er den Entscheidungen des israelischen Militärs großen Respekt entgegenbringt.

    Die im Rahmen der „Konstitutionellen Revolution“ beschlossene Immunität von Gesetzen (also deren Herausnahme aus höchstrichterlicher Überprüfung), die vor 1992 verabschiedet wurden, macht das großspurig angepriesene Projekt vollends zur Farce.

    „Alle Rechtsakte, die in der Vergangenheit vor diesem Gesetz erlassen wurden und nie für ungültig erklärt wurden, bleiben automatisch und völlig unverändert in Kraft, obwohl sie oft ungerechtfertigte und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen darstellen und gegen das Völkerrecht und allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze verstoßen.“ (Schmidt / 166).

    Vor diesem Hintergrund von Urteilsbegründungen zur berichten, für die, gestützt auf die universellen und demokratischen Prinzipien der Unabhängkeitserklärung „die Lesart einer liberalen Demokratie bestimmend war“ ist irreführend, um es freundlich zu formulieren. Auch wenn es solche Urteile gegeben hat, fehlt hier die gewichtende Einordnung in die israelische Verfassungwirklichkeit insgesamt.

    Wenn es um die Frage des Vorrangs jüdischer vs. universeller Werte ging, scheinen sich die Obersten Richter Israels auch in nachrevolutionären Zeiten nicht wesentlich zu unterscheiden. Bei Menachem Elon (Amtszeit 1997-1993) wird der Vorrang jüdischer Werte „die nicht unbedingt universelle Werte sind“ klar zum Ausdruck gebracht. Bei Aharon Barak (Amtszeit 1995-2006), einer der Protagonisten der „Konstitutionellen Revolution“ kommt dies etwas umständlicher, aber im Ergebnis ähnlich zum Ausdruck. Barak versucht mit einer sehr widersprüchlichen Äußerung offensichtlich, „seine Revolution“ wenigstens rhetorisch zu retten (Schmidt / 166).

    Das „simplere Verständnis von Demokratie als ‚Mehrheit‘“, von dem Frau Averbukh meint, es sei in den 1990er Jahren in der Legislative in den Vordergrund getreten, im Unterschied zu einem den Idealen der Unabhängigkeitserklärung verpflichteten Obersten Gericht, ist nicht sehr überzeugend. Dieses simplere Verständnis war nie im Hintergr und, sondern in Justiz, Politik und Gesellschaft strömungsübergreifend stets bestimmend, weil es der Architektur und Statik des israelischen Staatsgründungsprojekts entspricht.

    Es geht nicht um eine Kinderkrankheit, sondern um einen Geburtsfehler. Wenn man sich dieser Realität nicht stellt, kann eine angemessene historische Kontextualisierung des gegenwärtig stattfindenden „Staatsumbaus“ in Israel nicht gelingen.

    Fußnoten:
    1. Yvonne Schmidt (inzwischen Prof. Yvonne Karimi-Schmidt): Foundations of civil and political rights in Israel and the occupied territories Doctoral Thesis, S. 123; https://www.academia.edu/1967765/Foundations_of_civil_and_political_rights_in_Israel_and_the_occupied_territories; aus dieser Arbeit wird häufiger zitiert in der Weise wie hier: Schmidt / Seitenzahl)

    2. Für Israel in den Grenzen von 1967: Sandy Kedar The Legal Transformation of Ethnic Geography: Israeli Law and The Palestinian Landholder 1948-1967, FN 199; https://www.academia.edu/6515051/The_Legal_Transformation_of_Ethnic_Geography_Israeli_Law_and_The_Palestinian_Landholder_1948_1967; Für die besetzten Gebiete: State Land Allocation in the West Bank — For Israelis Only 17.7.18 / 99.8% of state lands allocated in the West Bank were given to Israelis; Palestinians were given almost nothing, https://peacenow.org.il/en/state-land-allocation-west-bank-israelis

    3. Die Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen seit 1967 in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und Ost-Jerusalem, Fakten und völkerrechtliche Einschätzung, Wissenschaftlicher Dienst Deutscher Bundestag, Az: WD 2 – 3000 – 026/17 https://www.bundestag.de/resource/blob/515092/aeb99cfc8cadd52da68d65b50a725dec/WD-2-026-17-pdf-data.pdf

    4. David Kretzmer, The New Basic Laws on Human Rights: A Mini-revolution in Israeli Constitutional Law?, veröffentlicht in Public Law in Israel (herausgegeben von Itzhak Zamir und Allen Zysblat, Clarendon Press, Oxford, 1996)

    5. Apartheid in the Occupied West Bank: A Legal Analysis of Israel’s Actions, http://hrp.law.harvard.edu/wp-content/uploads/2022/03/IHRC-Addameer-Submission-to-HRC-COI-Apartheid-in-WB.pdf

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