Ist CETA der „Golden Standard“? EuGH hält CETA-Gericht für unionsrechtskonform
Das heute verkündete Gutachten des EuGH im Verfahren 1/17 war mit Spannung erwartet worden: Würde der Gerichtshof seine gegenüber internationalen Gerichten skeptische Haltung, die in den Urteilen zum Europäischen Patentgericht (Gutachten 1/09), zum EMRK-Beitritt (Gutachten 2/13) und zuletzt zu Investor-Staat-Schiedsgerichten in bilateralen Investitionsschutzabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten (Rechtssache C-284/16, Achmea) deutlich wurde, fortsetzen und auch ein CETA-Gericht nicht neben sich dulden? Oder würde er den Schlussanträgen des Generalanwalts Yves Bot vom 29. Januar 2019 folgen, der keine Probleme mit dem EU-Recht erkennen konnte? Oder würde der EuGH gar Bedingungen und Auflagen formulieren, die zu komplizierten Nachverhandlungen mit Kanada führen würden?
In seinem Gutachten vom 30.4.2019 erweist sich der EuGH – anders als im Gutachten zum EU-Singapur-Abkommen (Gutachten 2/15), in dem er den Investitionsschutz als zwischen der EU und den Mitgliedstaaten geteilte Materie ansah – als großer Freund und Helfer der Bemühungen der Europäischen Kommission um eine Neugestaltung der Streitbeilegung in Investitionsschutzverfahren. Weder das im CETA vorgesehene Gerichtssystem noch der bereits angedeutete Multilaterale Investitionsgerichtshof verletzen Unionsrecht, jedenfalls wenn – wie im CETA – gewisse Bedingungen erfüllt sind.
Worum ging es in dem Verfahren?
Der Streit um Handels- und Investitionsabkommen wird seit geraumer Zeit nicht nur politisch, sondern auch juristisch geführt: Der EuGH hatte sich bereits mehrfach damit zu befassen; vor dem Bundesverfassungsgericht sind ebenfalls Klagen anhängig.
In Belgien führte CETA zu einer schweren politischen Krise, da die Region Wallonien die Zustimmung zu CETA zunächst verweigerte. Als Kompromiss rief Belgien darauf den EuGH an und beantragte ein Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV, mit dem der EuGH die Vereinbarkeit des CETA-Gerichtssystems mit dem Unionsrecht überprüfen sollte.
Belgien hatte im wesentlichen drei Bedenken: Erstens, das im CETA vorgesehenene Gerichtssystem beeinträchtige die Autonomie der Unionsrechtsordnung. Zweitens, das CETA-Gerichtssystem verletze den Grundsatz der Gleichbehandlung und drittens, das CETA-Gerichtssystem sei mit dem Grundsatz des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht unvereinbar.
Gegenstand des Verfahrens vor dem EuGH war also ausschließlich das CETA-Gerichtssystem für ausländische Investoren und die Frage, ob dieses mit dem Primärrecht der Union vereinbar sei. Andere Streitbeilegungsmechanismen wie klassische Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren oder andere Kritikpunkte an CETA wie die geplante regulatorische Kooperation standen nicht zur Debatte.
Die Argumente des EuGH zur Vereinbarkeit des CETA-Gerichtssystems mit Unionsrecht
Der EuGH setzt sich in seinem Gutachten mit allen drei Einwänden auseinander und weist sie allesamt zurück.
Beeinträchtigung der Autonomie des Unionsrechts durch das CETA-Gerichtssystem
Bezüglich der Frage der Beeinträchtigung der Autonomie des Unionsrechts stellte der EuGH zunächst darauf ab, dass das CETA-Gericht Unionsrecht weder auslegen noch anwenden darf (Rz. 121-123), sondern Streitigkeiten ausschließlich auf der Grundlage des CETA und damit Völkerrecht entscheiden soll. Damit unterscheidet sich das CETA-Gerichtssystem zwar vom ehemals geplanten EU-Patentgericht, worauf der EuGH auch hinweist (Rz. 123-124), allerdings nicht vom EGMR, was der EuGH jedoch geflissentlich verschweigt. Tatsächlich hatte der EuGH im Gutachten 2/13 zum EMRK-Beitritt auch angenommen, dass der EGMR bei der Anwendung der EMRK auf das Unionsrecht dessen Autonomie beeinträchtigen könne (2/13, Rz. 187-189).
Mit Blick auf die Kompetenzen des CETA-Gerichts wies der EuGH auch darauf hin, dass dieses Unionsrecht lediglich als Tatsache zur Kenntnis nehmen dürfe und dabei die Rechtsprechung durch die Unionsgerichte berücksichtigen müsse (Rz. 130-131). Allerdings kann die CETA-Rechtsbehelfsinstanz die Auslegung des Unionsrechts auch auf offenkundige Fehler überprüfen und damit in der Sache eben doch auslegen. Das scheint den EuGH allerdings nicht zu stören: Er meint aus dieser Kompetenz nicht die Absicht der CETA-Vertragsparteien ableiten zu können, „der CETA-Rechtsbehelfsinstanz eine Zuständigkeit für die Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu übertragen“ (Rz. 133). Warum dies so ist und warum die Absicht der Vertragsparteien schon ausreichend sein soll, wird nicht erläutert.
Als weiteres Argument einer möglichen Beeinträchtigung der Autonomie des Unionsrechts führten Belgien und einige Mitgliedstaaten die Tatsache an, dass das CETA-Gericht die EU oder die Mitgliedstaaten zu Schadensersatz verurteilen könnte, so dass bestimmte Regelungen von diesen nicht mehr getroffen würden. Der EuGH erkannte die Möglichkeit eines derartigen „regulatory chills“ angesichts der Weite des Anwendungsbereichs des Investitionsschutzes durchaus an (Rz. 149) und meinte sogar, dass ein Abkommen, welches die EU zwingen würde, auf bestimmte Regelungen im allgemeinen Interesse zu verzichten, unionsrechtswidrig sei (Rz. 150). Der EuGH bestätigte somit die grundsätzliche Kritik vieler BeobachterInnen an der Wirkungsweise des internationalen Investitionsschutzes.
Allerdings sah der EuGH in den Ausnahmebestimmungen des CETA, den Einschränkungen der investitionsschutzrechtlichen Schutzstandards und weiteren Erklärungen der Vertragsparteien, dass CETA allgemeine Regelungen nicht ausschließe, einen hinreichenden Schutz davor, dass ein derartiger Effekt eintreten würde (Rz. 151-159). Ob damit nur ein frommer Wunsch formuliert ist, wird man erst in Zukunft sehen. Jedenfalls ist klargestellt, dass die EU kein Investitionsschutzabkommen schließen darf, das hinter dieses Niveau des CETA zurückfällt.
Grundsatz der Gleichbehandlung
CETA berechtigt ebenso wie alle anderen Investitionsschutzabkommen nur ausländische Investoren zur Klage vor einem Streitbeilegungsorgan, nicht dagegen inländische Unternehmen. KritikerInnen sehen darin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung wie er in Art. 20 der EU-Grundrechtecharta verankert ist. Der EuGH hält jedoch inländische und ausländische Unternehmen nicht für vergleichbar, so dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zur Anwendung komme (Rz. 180). Vergleichbar seien vielmehr kanadische Investoren in der EU und europäische Investoren in Kanada. Diese bereits vom Generalanwalt und von vielen Befürworten des Investitionsschutzes angeführte Behauptung missachtet jedoch das grundlegende Prinzip des Grundsatzes der Gleichbehandlung, nachdem Bezugsgröße immer der gleiche Hoheitsakt sein muss. Insofern sind EU-Unternehmen und kanadische Unternehmen, die von einer Maßnahme des EU betroffen sind, in einer vergleichbaren Lage. EU-Unternehmen in Kanada und kanadische Unternehmen in der EU stellen dagegen gerade kein Vergleichspaar im Sinne des Gleichheitssatzes dar.
Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht
Schließlich misst der EuGH das CETA-Gerichtssystem noch am Grundsatz des Zugangs zu einem unabhängigen Gericht nach Art. 47 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta (Rz. 189). Der EuGH untersucht hier sowohl den Zugang kleiner und mittelständischer Unternehmen zum CETA-Gericht als auch die persönliche Unabhängigkeit der Mitglieder des CETA-Gerichts. Zu ersterem meint der EuGH, dass das CETA-Gerichtssystem nur dann unionsrechtskonform sei, wenn der von den CETA-Vertragsparteien geplante Unterstützungsmechanismus für kleine oder mittlere Investoren vor der Genehmigung des CETA durch die EU umgesetzt wird (Rz. 221). Bezüglich der Unabhängigkeit der RichterInnen genügt dem EuGH der im CETA vorgesehene Mechanismus der Ernennung. In der ggf. in der Anfangsphase noch möglichen fallbezogenen Bezahlung sieht der EuGH kein grundsätzliches Problem (Rz. 239).
Was folgt daraus für CETA und die Gemeinsame Handelspolitik der EU?
Das EuGH-Gutachten räumt eine wichtige Hürde für die endgültige Ratifikation des CETA aus dem Weg. Viele Mitgliedstaaten hatten auf das Gutachten gewartet und dürften nun die Ratifikationsfrage wieder auf die Tagesordnung setzen. Damit werden auch manche bislang auf Eis gelegten politischen Auseinandersetzungen um CETA wieder an Bedeutung gewinnen.
Für zukünftige EU-Handels- und Investitionsabkommen bedeutet das Urteil vor allem, dass die EU nicht mehr hinter den Stand des CETA zurückfallen darf. Die bereits neu ausgehandelten Abkommen mit Singapur und Vietnam dürften dem entsprechen. Für das noch zu verhandelnde Investitionsabkommen mit Japan dürfte das EuGH-Gutachten hohe Hürden aufstellen, da sich Japan eher kritisch gegenüber dem CETA-Gerichtssystem geäußert hat. Immerhin hat die EU-Kommission nun einen Trumpf in der Hand: Entweder Investitionsschutz zu den Bedingungen des EuGH oder gar nicht. Damit werden jedoch auch Handlungsspielräume eingeschränkt.
Dagegen stärkt das EuGH-Gutachten die Bemühungen der EU-Kommission, einen Multilateralen Investitionsgerichtshof auf globaler Ebene zu etablieren und bestätigt die Kommission in ihrem Ansatz, in CETA den „Golden Standard“ zu sehen. Den derzeit laufenden Verhandlungen im Rahmen der UNCITRAL dürfte das Gutachten daher zusätzliche Dynamik verleihen. Ob die anderen UN-Mitglieder CETA auch als „Golden Standard“ ansehen, ist allerdings fraglich.
Welche Auswirkungen hat das EuGH-Gutachten auf das CETA-Verfahren vor dem BVerfG?
Die Frage der Vereinbarkeit des CETA-Gerichtssystems mit EU-Recht spielte in dem Verfahren vor dem BVerfG zu CETA zwar auch eine Rolle, entscheidend war die Frage nicht. Sicher wird man in Karlsruhe auf das Gutachten gewartet haben und sich nun wieder intensiver mit dem CETA befassen. Die von den Klägern gerügten Verfassungsverletzungen und die weiteren im Raum stehenden EU-rechtlichen Fragen wurden durch das EuGH-Gutachten 1/17 jedoch nicht berührt. Insofern wird Karlsruhe die Frage, ob CETA verfassungsrechtlich als „Golden Standard“ taugt, noch beantworten müssen.