„It’s the End of the World as We Know it” – Schulpflicht vs. Versammlungsfreiheit
I.
Am 20. August 2018 setzte sich die Schülerin Greta Thunberg am ersten Schultag nach den Sommerferien mit einem Schild mit der Aufschrift „Skolstrejk för klimatet” vor das Schwedische Parlament. Weltweit folgen ihr seitdem immer mehr Schüler_Innen. Anstatt sich am Ende einer anstrengenden Schulwoche im Geschichtsunterricht mit der doch eher komplexen Frage nach der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges auseinanderzusetzen, sich in Mathe mit den Untiefen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu befassen oder sich in Deutsch von dem insgesamt doch eher depressionsfördernden Woyzeck das bevorstehende Wochenende vermiesen zu lassen, gehen auch in Deutschland Kinder und Jugendliche freitags zur Schulzeit auf die Straße, um für einen besseren Schutz des Klimas zu demonstrieren. Während sie damit auf die Unterstützung von Klimaforscher_Innen und anderen Wissenschaftler_Innen stoßen, pochen viele (Bildungs-) Politiker_Innen auf die Schulpflicht. Klimaschutz sei selbstverständlich ein wichtiges Anliegen und politisches Engagement junger (wenn auch nicht immer für mündig gehaltener) Menschen ja auch grundsätzlich zu begrüßen, gehöre aber in die Freizeit und rechtfertige keinesfalls das Schulschwänzen.
II.
So einfach ist es aus schul- und grundrechtlicher Sicht freilich nicht. Sicherlich werden die meisten derjenigen Schüler_Innen, die innerhalb der Schulzeit freitags an Demonstrationen für einen besseren Schutz des Klimas teilnehmen, schulpflichtig sein. Denn die Dauer der Schulpflicht erstreckt sich in der Regel auf einen insgesamt mindestens zwölf Jahren dauernden Besuch der Grundschule und einer auf die Grundschule aufbauenden weiterführenden Schule. Sie erfasst alle Kinder und Jugendlichen, die in dem jeweiligen Bundesland ihren Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Ausbildungs- bzw. Arbeitsstätte haben. Mit der Schulpflicht verbunden ist die Pflicht zur regelmäßigen Teilnahme am Unterricht und an den übrigen verbindlichen Veranstaltungen der Schule. Wird die Schulpflicht verletzt, stehen der Schule bzw. der Schulaufsichtsbehörde unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Reichen niedrigschwellige und schwach formalisierte Erziehungsmaßnahmen nicht aus, kann auf die in den Schulgesetzen aller Bundesländer katalogartig aufgezählten Ordnungsmaßnahmen zurückgegriffen werden. Diese setzen in der Regel eine schwerwiegende Pflichtverletzung oder eine Beeinträchtigung der Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Schule voraus und reichen vom vergleichsweise harmlosen schriftlichen Verweis („blauer Brief“) über den zeitweisen Ausschluss von einzelnen Fächern, Veranstaltungen oder vom gesamten Unterricht bis hin zur Entlassung aus oder Überweisung in eine andere Schule. Gegenüber Schüler_Innen, die ihre Teilnahmepflichten verletzen, aber auch gegenüber deren Erziehungsberechtigten kommt daneben die Anwendung verwaltungsvollstreckungsrechtlicher Zwangsmittel, mit denen zumindest die physische Anwesenheit eines Schülers im Unterricht sichergestellt werden soll, in Betracht. Zudem können Verstöße gegen die Schulpflicht als Ordnungswidrigkeit oder in manchen Bundesländern – insbesondere bei wiederholten Verstößen – sogar als Straftat geahndet werden. Bei Eltern, die die Teilnahme ihrer Kinder am Unterricht beispielsweise aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen komplett verweigern, sind schließlich familiengerichtliche Maßnahmen wie die partielle Entziehung des Sorgerechts möglich.
III.
So weit, so nah an der rechtlich, politisch und tatsächlich unzureichenden Erklärung der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1973, in der ebenso apodiktisch wie mit autoritärem Ton dekretiert wird, dass die Teilnahme an Demonstrationen nicht das Fernbleiben vom Unterricht rechtfertige und das Demonstrationsrecht in der unterrichtsfreien Zeit ausgeübt werden könne. Denn in rechtlicher Hinsicht steht zunächst einmal außer Frage, dass sich die Schüler_Innen ungeachtet der Tatsache, dass sie sich im „Sonderstatus“ Schulverhältnis befinden, auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG berufen können. Abgesehen davon, dass die einzelne Schülerin zumeist keinen Einfluss auf die Planung einer konkreten Demonstration haben wird, ist von jenem Grundrecht neben der Wahl des Ortes ebenso zweifelsfrei auch die Bestimmung der Zeit einer Versammlung geschützt. Findet die Demonstration in der Schulzeit statt, hat man es verfassungsdogmatisch mit einer Kollision zweier Verfassungsgüter zu tun: dem den Schüler_Innen zustehenden Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG, dem auch die Schulpflicht bzw. die Befugnis der Länder zur Normierung der Pflicht der Schüler_Innen zur Teilnahme am schulischen Unterricht entnommen werden kann.
IV.
Im Rahmen eines bei einer Kollision von Verfassungsgütern geforderten „möglichst schonenden Ausgleichs“ wäre im Falle der Teilnahme von Schüler_Innen an Demonstrationen zunächst einmal an die in allen Schulgesetzen und untergesetzlichen Bestimmungen vorgesehene Möglichkeit einer kurzfristigen Beurlaubung zu denken. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen eines wichtigen bzw. dringenden Grundes, der in der Praxis häufig bejaht wird bei familiären Anlässen (runder Geburtstag, Todesfall), religiösen Veranstaltungen, Konferenzen der regionalen Schülervertretungsorgane oder sportlichen Wettkämpfen. Betrachtet man die in den Landesverfassungen und Schulgesetzen normierten Bildungs- und Erziehungsziele und führt sich nur kurz die Funktion der Schule in einer demokratischen und grundrechtsbasierten Gesellschaft vor Augen, will nicht einleuchten, warum der Besuch von Opas achtzigstem Geburtstag zwar regelmäßig die Befreiung vom Unterricht rechtfertigt, die Teilnahme an einer Demonstration zum Schutz des Klimas aber nicht. Was hier ernst genommen werden würde, wäre die oftmals poetisch-idealistische Semantik der Bildungs- und Erziehungsziele, welche von politischer Verantwortlichkeit, freiheitlich-demokratischer Gesinnung, selbständigem Handeln und Denken sowie Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt sprechen. Politische Mündigkeit mag sich auch im schulischen Unterricht vermitteln lassen, ist aber nicht weniger angewiesen auf praktische Erfahrungen. Diese müssen sicherlich nicht zwingend in der Schulzeit stattfinden. Das Verfassungs- und Schulrecht steht dem aber nicht per se entgegen. Ob die Schule (oder die sich gerade in den Medien hierzu äußernden Politiker_Innen) dem Anliegen der jeweiligen Demonstration positiv gegenüberstehen oder welche Bedeutung sie dem Anliegen beimessen, ist rechtlich irrelevant und darf bei der Entscheidung über die Beurlaubung keine Berücksichtigung finden, da entsprechende Wertungen dem Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber den Inhalten grundrechtsgeschützter Versammlungen widersprächen. Problematisch ist es daher nicht, wenn Verwaltungsgerichte feststellen, dass Schüler_Innen die politische Betätigung in einem angemessenen Rahmen zu gestatten ist, weil sie nur so zu mündigen Staatsbürger_Innen erzogen werden können. Problematisch ist, wenn im gleichen Atemzug darauf abgestellt wird, dass es bei einer Demonstration um die „Wiederherstellung des Weltfriedens“ gehe (VG VG Hannover, NJW 1991, 1000) oder im Rahmen der Abwägung der kollidierenden Verfassungsgüter allgemeiner danach gefragt wird, ob „das mit der Versammlung verbundene Anliegen von allgemeiner Bedeutung und ganz besonderem Gewicht ist“ (VG Saarlouis, Urt. v. 28.8.2000, Az.: 1 K 257/98 – juris, Rn. 31).
Auf der anderen Seite ist in der Abwägung selbstverständlich dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Sicherlich darf der Ablauf des Unterrichts nicht dauerhaft zur Disposition demonstrierender Schüler_Innen gestellt werden. Zu fragen wäre insbesondere nach den – in der derzeitigen Diskussion aus meiner Sicht grandios überschätzten – Auswirkungen der Beurlaubungen auf den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Über jene Auswirkungen lassen sich seriöserweise kaum allgemeingültige Aussagen treffen, können sie von Klasse zu Klasse doch ganz unterschiedlich sein. Sie sind abhängig zum Beispiel vom Leistungsstand der Klasse, der Zahl der demonstrationswilligen Schüler_Innen, dem Umfang und der Häufigkeit der Absenzen oder von bereits angesetzten Klassenarbeiten.
V.
Versäumen es Schüler_Innen bzw. deren Erziehungsberechtigte, eine entsprechende Beurlaubung zu beantragen oder nehmen Schüler_Innen trotz zuvor abgelehnter Beurlaubung während der Schulzeit an einer Demonstration teil, bleibt den Schulen als Reaktionsmöglichkeit vor allem die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen. Diese unterliegen dem Opportunitätsprinzip, d.h. sie können, müssen aber nicht getroffen werden. Ob und wie die Schule auf eine Störung reagiert, ist im Wesentlichen eine Frage der Zweckdienlichkeit. Zweckdienlich scheinen mir Ordnungsmaßnahmen in den Fällen der Teilnahme an einer Demonstration während der Unterrichtszeit jedoch gerade nur sehr eingeschränkt. Die verhängten Ordnungsmaßnahmen müssen zunächst an ein individuelles Fehlverhalten anknüpfen, dürfen also nicht als Kollektivstrafe verhängt werden und im Übrigen auch keinen Straf- oder Vergeltungscharakter haben. Werden sie anknüpfend an ein Fehlverhalten und mit einer erzieherischen Intention verhängt, gleichwohl aber gegenüber einer Vielzahl von Schüler_Innen, dürften sie von den Betroffenen wohl nicht besonders ernst genommen werden oder bei diesen gar zu Solidarisierungs- und Bestärkungseffekten führen. Bestimmte Ordnungsmaßnahmen, wie etwa der zeitweise Unterrichtsausschluss, erscheinen als pädagogisch geleitete Reaktion auf die nicht erwünschte Teilnahme an einer Demonstration während der Unterrichtszeit schlicht sinnwidrig und könnten gegenüber Eltern und der Öffentlichkeit vermutlich auch nicht lange durchgehalten werden. Würde man aber nicht schon über die Beurlaubungsmöglichkeiten zu einem Ausgleich der kollidierenden Verfassungspositionen kommen, müsste schließlich das Grundrecht der Versammlungsfreiheit von der Schule zwingend im Rahmen der Entscheidung über die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme berücksichtigt werden. Viel rauskommen dürfte dann, zumal angesichts der Geringfügigkeit des begangenen Verstoßes und dessen geringer Auswirkungen auf den Unterrichtsbetrieb, wohl kaum.
VI.
Das (Schul-)Recht im Allgemeinen und die Schulpflicht im Besonderen erweisen sich damit bei genauerer Betrachtung keineswegs als Instrumente, mit denen das politische Engagement von Kindern und Jugendlichen, die freitags für einen besseren Schutz des Klimas auf die Straße gehen, unterbunden werden kann.
Servus, Felix! Musste lachen, weil ich vor ein paar Wochen zu ähnlichen Schlüssen kam: https://www.manuela-rottmann.de/dialog/blog/fridays-for-future-was-kann-mir-passieren-wenn-ich-streike/ Einmal Goethe-Uni, immer Goethe-Uni. Danke für den Beitrag!
Hallo Manuela, danke für den Link zu Deinem Beitrag! In der Tat, beinahe identische Schlussfolgerungen. Das kann wohl wirklich nur an der akademischen Sozialisation liegen 😉 Viele Grüße, Felix
Die Anwesenheitspflicht während der Versammlung an einem anderen Ort ist doch sachlich vom Schutzbereich viel zu weit entfernt, als dass man hier abwägen müsste. Ansonsten würde jede Ladung zu einer Gerichtsverhandlung zugleich meine Meinungsäußerungsfreiheit beschränken, weil ich nicht zur Terminsstunde der ReNo einen Vortrag halten kann.
Sehr geehrter Herr Bohr,
der Unterschied scheint mir darin zu liegen, dass die Anwesenheitspflicht infolge einer Ladung zu einer Gerichtsverhandlung in zeitlicher Hinsicht und hinsichtlich der Intensität des Eingriffs in Grundrechte der jeweils Betroffenen nicht vergleichbar ist mit der über Art. 7 Abs. 1 GG legitimierten Pflicht zur Anwesenheit in der Schule. LG, Felix Hanschmann
Lieber Felix, danke für Deinen schönen Beitrag. Meine jüngere Tochter wird sich freuen. Ich halte es dennoch mit Klaus-Rainer Röhl, der in den Fußstapfen von Kriele meint, dass Opferbereitschaft demonstriert sein will. https://www.rsozblog.de/gratulation-an-greta-thundberg/
Viele Grüße
Olaf