Karlsruhe lädt Sarrazin zum Klagen ein
Heute hat der Bannstrahl aus Karlsruhe eine Institution getroffen, der meine ganze Sympathie gehört: die gute brave Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) nämlich. Die mit den schönen schwarzen Heftchen. Die mit den tollen Büchern in scheußlichen Pappeinbänden zum Abholerpreis. Die mit dem fantastischen Wahl-o-mat.
Die BpB lässt im Bertelsmann-Verlag die Zeitschrift Deutschland-Archiv erscheinen, eins der wichtigsten Organe für zeithistorische Forschung zu deutsch-deutschen Themen. Diese Zeitschrift brachte 2004 einen Aufsatz des Politikwissenschaftlers Konrad Löw mit dem Titel “Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte”.
Den Artikel findet man hier. Ich habe ihn durchgelesen, was mir nicht leichtgefallen ist. Ich hatte die ganze Zeit einen Kotzgeschmack im Mund. Ich will nicht wiedergeben, was drin steht. Das kann die Junge Freiheit machen, aber ich nicht.
Ich schäme mich für diesen Artikel. Ich bin der Meinung, er hätte nie in einer von deutscher öffentlicher Hand unterstützten Zeitschrift erscheinen dürfen.
Der gleichen Ansicht war die BpB. Sie schrieb gemeinsam mit dem Verlag einen Brief an alle Abonnenten, in dem sie sich bei allen, die sich durch den Artikel “verunglimpft” fühlen, entschuldigte und ankündigte, den noch nicht verkauften Rest der Auflage einzustampfen.
Schutz vor Regierungsschimpfe
Das, so die 1. Kammer des Ersten Senats in einer heute veröffentlichten Entscheidung, ging zu weit. Das sei keine bloße Distanzierung mehr. Damit habe die BpB das allgemeine Persönlichkeitsrecht Professor Löws verletzt. Und zwar aus folgendem Grund:
Jedenfalls dem unmittelbar an die Grundrechte gebundenen Staat verbietet es das allgemeine Persönlichkeitsrecht (…), sich ohne rechtfertigenden Grund herabsetzend über einen Bürger zu äußern, etwa eine von diesem vertretene Meinung abschätzig zu kommentieren.
Holla.
Mir scheint, mir scheint, im Ersten Senat verspürt man große Lust, sich machtvoll in die Sarrazin-Debatte einzuschalten. Oder sollte es reiner Zufall sein, dass das seit vier Jahren anhängige Verfahren gerade jetzt seinen Abschluss findet?
Das Kanzlerinnen-Wort, Sarrazins Äußerungen seien “nicht hilfreich” gewesen, hat manchen FAZ-Kommentator schließlich schon zu den düstersten Prophezeiungen über die Zukunft der Meinungsfreiheit im Lande verlockt.
Na, für die Zulässigkeit reicht’s. Man müsste Sarrazin ja nicht Recht geben, um der Kanzlerin obiter dictum ein paar Hinweise an die Hand zu geben, was sie darf und was nicht.
Zum Fall selbst: Was nach Ansicht der Kammer nicht geht, ist die Position des Professor Löw als “außerhalb des hinnehmbaren Meinungsspektrums” hinzustellen. Der Brief lege nahe, dass man sich mit dem Aufsatz nicht diskursiv auseinandersetzen, sondern ihn nur noch makulieren kann.
Namentlich im Zusammenhang mit Fragen des angesichts der deutschen Geschichte besonders sensiblen Themas Antisemitismus kann dies eine erhebliche Stigmatisierung des Betroffenen mit sich bringen, die im Falle des Beschwerdeführers, der unwidersprochen die Ausladung von Vortragsveranstaltungen geltend macht offenbar bereits praktische Folgen gezeitigt hat.
Na, wenn einer schreibt, dass die deutschen Juden sich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs sich in Deutschland eigentlich alle pudelwohl gefühlt haben und am Antisemitismus wegen ihrer kommunistischen Revoluzzerei selber mitschuld sind, dann kann das schon mal vorkommen, dass man von Vortragsveranstaltungen ausgeladen wird. Da muss jetzt nicht der Brief der BpB dran schuld sein. (Oder ist das schon wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Sarrazin?)
Recht auf Distanzierung, nicht auf Diffamierung
Aber gleichviel. Die Kammer stellt klar, dass die BpB nicht jede nationalreaktionäre Knalltüte in ihren Publikationen abdrucken muss. Es sei ihr
nicht grundsätzlich verwehrt, Extremmeinungen am Rande des politischen Spektrums und solche, die von der Wissenschaft nicht ernst genommen werden, nicht zu berücksichtigen, sie als solche zu bezeichnen und sich demgegenüber auf die Präsentation von Hauptströmungen zu konzentrieren.
Überdies könne es
ein legitimes Interesse darstellen, sich von ihr zuzurechnenden Beiträgen, die von dem Anspruch einer ausgewogenen Informationstätigkeit auffällig abweichen, weil sie etwa extreme oder extremistische Meinungen vertreten, zu distanzieren, um so die eigene Reputation wiederherzustellen. Bei der Frage, ob und welche Maßnahmen als öffentliche Reaktion auf einen drohenden Glaubwürdigkeitsschaden zu ergreifen sind, steht der Bundeszentrale ein Einschätzungs- und Handlungsspielraum zu.
Aber ein Recht auf Distanzierung berechtigt nicht zur Diffamierung. Und die Entschuldigung bei allen, die sich “verunglimpft” fühlten, sei eine solche. Ebenso die Ankündigung, die Zeitschriftenauflage zu makulieren.
Na, ich weiß nicht. Was die Makulaturankündigung betrifft, meinetwegen: Wenn die den Fehler begangen haben, das zu drucken, müssen sie das auch gedruckt lassen. Aber dass es nicht erlaubt sein soll, sich bei Juden für eine Position zu entschuldigen, die nach allen Definitionen als eklatant antisemitisch durchgeht (“Die Juden waren mitschuldig am Antisemitismus”)?
Ob da nicht die drei Kammermitglieder der Politically-Incorrect-Hafer gestochen hat?
Disclosure: Ich hatte und habe beruflich Kontakt zur BpB. (Aber ich würde sie auch sonst sympathisch finden.)
Foto: (c) gravitat-on, Flickr Creative Commons
Die Arbeit der BPB in allen Ehren, doch der Wahlomat war gut gedacht, aber leider schlecht gemacht, da sich die Fragen zu sehr am Rechts-Links-Schematismus orientierten und dann z.B. bei meiner Wenigkeit das doch leicht überraschende Ergebnis einer großen Nähe zu FDP, Linkspartei und Piraten herauskam.
Die Entscheidung des BVerfG begrüße ich, da ich ja für sehr weite Grenzen der Meinungsfreiheit eintrete: Auch falsche, dumme und unbegründete Gedanken sollen zum Ausdruck kommen dürfen. Je falscher, dümmer oder unbegründeter, umso leichter lassen sie sich doch widerlegen! Meine Position untermauere ich so:
1. Wer außer dem (Verfassungs-)Gesetzgeber könnte legitimiert sein, die Grenzen des hinnehmbaren Meinungsspektrums festzulegen? Die Medien sind es sicher nicht, einzelne Politiker auch nicht und die BPB schon gar nicht.
2. Die Einschränkung von Freiheiten ist nur dann zu billigen, wenn sie eine andere Freiheit, die als schutzwürdiger zu erachten ist, beeinträchtigt. Bei falschen, dummen, unbegründeten Meinungen, die nicht direkt verleumdend oder unmittelbar verhetzend sind, sehe ich eine solche Freiheitsbeeinträchtigung nicht.
3. Exkommunizierte Meinungen erhalten den Nimbus der unterdrückten Wahrheit. Warum hat man nicht einfach im Folgeheft eine kritische Auseinandersetzung mit den Thesen Löws nachgeschossen? Das wäre die einer pluralistischen Gesellschaft angemessene Reaktion gewesen. Im außenpolitischen Bereich wird der Dialog doch als Allheilmittel beworben, warum soll er dann in einer wissenschaftlichen Diskussion bzw. wenn es gegen alte Verschwörungstheorien geht, falsch sein?
Und übrigens: Die Mär, dass die Juden selbst am Antisemitismus schuld seien, löst regelmäßig nur dann Empörung aus, wenn sie sich auf tote Juden bezieht. Im Hinblick auf lebende Juden ist diese Bezichtigung die im linken Spektrum herrschende Meinung. So kann der Bürgermeister von Malmö – ohne einen Proteststurm zu entfachen – die Behauptung aufstellen, dass die jüdische Bevölkerung der Stadt weit weniger unter Pöbeleien und Gewalttätigkeiten leiden müsste, wenn sie sich eindeutig von der Politik Israels distanzieren würde.
Doch solange so etwas (die Sicherheit von Staatsbürgern eines europäischen Landes wird von deren öffentlich zu bekundender Einstellung zu einem in Asien stattfindenden Konflikt abhängig gemacht) im Namen des wahren, linken Glaubens gesagt wird, ist es natürlich über jeden Widerspruch und über den in die Sinne fallenden Verdacht des Antisemitismus erhaben. Und genau diese beschissene, doppelmoralistische Dialektik ist es, auf die meine abgrundtiefe Verachtung für die europäische Mainstream-Linke gründet.
Mit Sarrazin hat das mit Sicherheit nichts zu tun, der Beschluss stammt schon vom 17. August.
[…] Marxismus-Kritikers”, als “Ansammlung antijüdischer Klischees”. Lesetipp: Verfassungsblog über das Urteil zu Konrad-Löw. Dort heißt […]
Ich würde bereits bezweifeln, dass man Frau Merkels Aussagen über Herrn Sarrazin als Äußerungen des Staates ansehen würde. Ähnlich wie bei den Fällen wo ein Jugendschutzreferent über angebliche “Jugendsekten” herzieht halte ich es für wesentlich wahrscheinlicher, dass die Gerichte solche Äußerungen der Privatperson Angela Merkel und nicht dem Bundeskanzler als Organ des Staates zuordnen würden.
Könnten sie mir bitte die Stelle verraten, bei dem der Autor die Juden als “mitschuldig am Antisemitismus” bezeichnet?
@ertzul: Zitat aus dem Aufsatz (mit zugehaltener Nase): “Die turbulenten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die Vorgänge in Rußland, die Massenimigration von Juden aus dem Osten, die von Juden angeführte Räterepublik in Bayern gaben dem Antisemitismus auftrieb”
@Johannes Lemken: Gut möglich. Ich glaube auch nicht, dass Sarrazin tatsächlich Recht bekommen müsste. Aber das braucht er auch gar nicht, wenn es um die Gelegenheit geht, ein Obiter Dictum zur Frage Kanzlerkritik an Meinungsäußerungen loszuwerden.
@Matthias Bäcker: Stimmt. Vielleicht tue ich der Kammer auch bitter unrecht und sie hat im Gegenteil mit der Veröffentlichung gewartet, bis sich die Sarrazin-Wellen ein bisschen geglättet haben. Kann auch sein…
Und warum sollen “die turbulenten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, die Vorgänge in Rußland, die Massenimigration von Juden aus dem Osten, die von Juden angeführte Räterepublik in Bayern dem Antisemitismus” keinen Auftrieb gegeben haben?
Ist Antisemitismus also nach Ihrer Meinung angeboren? Gibt es ein Antisemitismus-Gen? Anstatt mir die linke Nase zuzuhalten, würde ich an Ihrer Stelle mal das Gehirn einschalten. Antisemitismus gab es in der Geschichte immer in Wellen, mal weniger, mal mehr, und natürlich spielen äußere Ereignisse eine Rolle! Nachdem die Israelis neulich 9 Demonstranten auf dem türkischen Gazaschiff gekiillt haben, rollte in Facebook eine richtige Welle voller Israelhass und explizitem Hitlerlob! Die Schreiber waren Migranten aus Deutschland mit vollem Namen!
@ Max Steinbeis:
Dieses Zitat ist ein deskriptiver Satz. Eventuell lagen dem Autor Statistiken vor, die das Ansteigen des Antisemitismus in diesen Jahren und aus den genannten Gründen belegen.
Selbst wenn dem nicht so ist: Wie, um alles in der Welt, gelangen Sie aufgrund dieser Aussage zu der Überzeugung, dass der Autor das Ansteigen des Antisemiti