Karlsruhe lässt Landtage abblitzen
Landtage sind im Regelfall eine ziemlich trübe Sache. Es passiert nicht viel von Relevanz in den Landesparlamenten, schon deshalb nicht, weil die Länder nur noch wenig substanzielle Gesetzgebungskompetenzen besitzen. Die Macht liegt bei der Regierung, die über die Exekutive befiehlt und über den Bundesrat in der großen Politik mitmischt.
Das wird gelegentlich, wenn auch selten mit großer Leidenschaft, als föderaler und demokratischer Missstand bejammert: Schließlich sind die Parlamente doch am unmittelbarsten demokratisch legitimiert, womit ihre politische Bedeutungslosigkeit schlecht vereinbar zu sein scheint.
Aber wenn die Landtagsabgeordneten geglaubt haben sollten, im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts auf Sympathie für ihr Elend zu stoßen, dann haben sie sich getäuscht: Der hat nämlich heute dem Landtag von Schleswig-Holstein in denkbar kühler und knapper Form mitgeteilt, dass sie sich ihre Vorstellung, etwa auf eigene Faust den Bund wegen eines Eingriffs in die Rechte des Landes verklagen zu können, an den Hut stecken können.
In dem Streit ging es um die Schuldenbremse im Grundgesetz: Die war von der Föderalismuskommission II beschlossen worden, an der bekanntlich Vertreter von Bundestag und Bundesrat teilnahmen, die Landtage aber nicht bzw. nur in Feigenblattform von vier nicht stimmberechtigten Mitgliedern. Die Schuldenbremse schränkt, wie der Name schon sagt, das Recht der Länder ein, Schulden zu machen – und damit das Haushaltsrecht, das auf Landesebene den Landtagen zusteht.
Dieses Recht wollte der Kieler Landtag in Karlsruhe direkt einklagen, ohne den Weg über die Landesregierung zu gehen. Dem steht aber § 68 BVerfGG entgegen, der nur der Regierung das Recht gibt, einen Bund-Länder-Streit vom Zaun zu brechen, und niemandem sonst. Womit sich die Landtage nach dem Bescheid des Zweiten Senats gefälligst abzufinden haben: Sollen sie halt ihre Regierung per Organstreit darauf verklagen, dass sie ihr Budgetrecht gegenüber dem Bund mit einer Bund-Länder-Klage verteidigt.
Budgetrecht ? Das hatten wir doch gerade erst…
Wenn der Zweite Senat sich diesem “Königsrecht” des Parlaments auch auf Landesebene so innig verbunden fühlt wie im europäischen Kontext dem des Bundestags, so lässt er dies jedenfalls im heute veröffentlichten Beschluss mit keiner Zeile erkennen.
Sie schaffen es durch ihre pointiert-klugen Kurzbesprechungen immer wieder, dass ich einen heute schon gelesenen BVerfG-Beschluss noch einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel lese. Vielen Dank hierfür.
Nur kurz zur Entscheidung: Der BVerfG-Beschluss erklärt § 68 BVerfGG für verfassungsgemäß. Das ist angesichts der offenen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG nicht selbstverständlich, allerdings wegen des klaren Wortlauts des § 68 BVerfGG und der dahinter stehenden Konzeption (die Gesetzeshistorie wird im Beschluss sehr präzise wiedergegeben) wohl aber nicht anders vertretbar. Ansonsten hätte man das (höchstens aus der Position des BVerfGs als Verfassungsorgan ableitbare) Recht auf Verfahrensautonomie schon arg überspannen müssen.
Die Frage ist aber tatsächlich, ob sich der Zweite Senat hier nicht innerlich widerspricht (zu dieser Zwiespältigkeit übrigens ein interessanter Beitrag von Chr. Schönberger im jüngst erschienenen Sammelband “Das entgrenzte Gericht”): Warum also einerseits hüben (Lissabon-Urteil) die sakrosankte Integrationsverantwortung des Parlaments, das notfalls die Regierung “notbremsen” kann, andererseits aber drüben (Beschluss vom 19.08.11) die Charakterisierung der “Rolle [der Regierung] als typischerweise nach außen auftretendes Verfassungsorgan” (Rdnr. 36). Dass dies gewaltenteilungstheoretisch nicht (mehr) zutrifft, belegt nicht zuletzt der antiquierte Verweis auf den Kommentar von Geiger zum BVerfGG als einzigen Beleg dieser Feststellung.
Im Ergebnis wohl aber eine juristisch und methodisch vollends überzeugende Entscheidung (bilde ich es mir ein, oder kann man tatsächlich den Duktus und die Präzision von Frau Lübbe-Wolff als Berichterstatterin herauslesen?). Auch die schroffe Absage an eine Prozessstandschaft (Rdnr. 57 ff.) ist wohl nur konsequent.
Verfassungspolitisch erscheint eine Änderung des § 68 BVerfGG jedoch gerade auch angesichts von § 76 Abs. 2 BVerfGG durchaus angebracht, will man die Parlamentsverantwortung auch in der Landesverfassungssphäre ernst nehmen.
Von Bund-Länder-Streitigkeiten würde das BVerfG auch so weiterhin zahlenmäßig recht verschont bleiben.
Die Entscheidung ist nach gegenwärtiger Rechtslage prozessual richtig. Wie bec bin ich der Meinung, daß sie durchaus zum Anlaß genommen werden könnte, die Klagemöglichkeiten der Parlamente zu erweitern. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG ist unnötig eng gefaßt.
Warum der Landtag nicht richtigerweise die Regierung verpflichtet hat, einen Bund-Länder-Streit zu führen, ist schon seltsam, aber vielleicht Ergebnis eines politischen Kuhhandels. Irgendjemand hat vielleicht gesagt: “Wir stimmen nur für diese Konstruktion (in der Erwartung, daß der Antrag eh an der Zulässigkeit scheitert).”
Materiell-rechtlich wäre der Antrag wohl begründet gewesen: Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG dürfte gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen, weil er ohne tragfähigen Grund den Ländern eine Haushaltspolitik verbietet, die dem Bund erlaubt ist (Verstoß gegen den föderalen Gleichbehandlungsgrundsatz).
Im vorliegenden Fall kann der Landtag immer noch die Regierung verpflichten, gegen die “Schuldenbremse” beim BVerfG vorzugehen. Die Sechs-Monats-Frist gemäß § 69 in Verbindung mit § 64 Abs. 3 BVerfGG ist zwar abgelaufen und deshalb ist ein Bund-Länder-Streit nicht mehr zulässig. Die Landesregierung kann aber gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle stellen. Dieser ist nicht fristgebunden.
Und wie verhält es sich, wenn die lediglich durch den Organstreit getriebene Landesregierung das Gesetz nicht im Sinne des §76 I BVerfGG (als potentiell zulässiger Konkretisierung des Art.93 I Nr. 2 GG) für nichtig hält?
Ich bin ganz froh, dass sich das BVerfG dem Budgetrecht des Bundestages “so innig verbunden fühlt”, wie Sie mokant feststellen. Hier aber geht es doch um die Landesebene. Und das BVerfG ist eben nicht (jedenfalls nicht mehr) das Verfassungsgericht von Schleswig-Holstein.
Der schleswig-holsteinische Wahlbürger kann gegen einen Ausverkauf der Rechte seines Parlaments übrigens schon deswegen nicht klagen, weil ihm auf Landesebene keine Verfassungsbeschwerde zusteht. Finden Sie das Fehlen dieses Klagerechts (im Ergebnis) eigentlich wirklich so einleuchtend? Dass Entsprechendes auf Bundesebene möglich ist, versteht ja angeblich “kein Mensch”…