„Keine leichte Kost“
Das BVerfG zwingt die EZB zur Rechenschaft
Mitten in einer der größten globalen Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erklärt das Bundesverfassungsgericht das billionenschwere PSPP-Staatsanleihekaufprogramm der EZB ultra-vires. Das Urteil, das in den Worten des scheidenden Präsidenten Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung „keine leichte Kost“ ist, markiert eine der wichtigsten Entscheidungen des BVerfG zur europäischen Integration und hat potenziell weitreichende Folgen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die Rolle der EZB in der institutionellen Architektur der EU, den gegenwärtigen europäischen Desintegrationsprozess und das BVerfG selbst.
Das Urteil ist, darauf deuten die ersten Reaktionen hin, aus vielerlei Hinsicht von herausragender Bedeutung: Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das BVerfG einen EU-Rechtsakt – und dazu noch ein EuGH-Urteil – als unvereinbar mit dem deutschen Grundgesetz qualifiziert. Bislang hatte das BVerfG stets davon abgesehen, seine vielfältigen Verfassungsvorbehalte gegen das Unionsrecht tatsächlich zu aktivieren, wenngleich zuletzt im OMT-Urteil mit unverhohlenem Widerwillen. Zwar ist das BVerfG nicht das erste mitgliedstaatliche Höchstgericht, welches der Maßnahme eines Unionsorgans die Anwendung in der nationalen Rechtsordnung verweigert: Bereits der Conseil d’État in Cohn-Bendit, der dänische Oberste Gerichtshof in Ajos und das tschechische Verfassungsgericht in Holubec hatten EuGH-Urteile für ultra vires erklärt. Allerdings enthält keine dieser nationalen Entscheidungen eine sorgfältige und prinzipienorientierte Herleitung und Begründung der verfassungsgerichtlichen Ultra-vires-Kontrolle. Dagegen ist die Entscheidung des BVerfG ein Grundsatzurteil, von dem eine erhebliche Ausstrahlungswirkung in Europa zu erwarten ist. Sie könnte die Bereitschaft nationaler Verfassungs- und Höchstgerichte erhöhen, Verfassungsvorbehalte gegenüber dem Unionsrecht zu aktivieren.
Darüber hinaus wirft das Urteil grundlegende Fragen zur Rechtmäßigkeit der Staatsanleihekaufprogramme der EZB auf – und zwar nicht nur des PSPP, sondern implizit auch des zur Bewältigung der Corona-Krise aufgelegten PEPP-Programms. Es geht also auch um den Fortbestand eines zentralen Mechanismus der EU zur Bewältigung von Finanzkrisen. Zuletzt könnte das Urteil auch Anstoß zu einem Paradigmenwechsel in der bislang eher spärlichen öffentlichen Begründungskultur der EZB und anderer Notenbanken geben, indem es von der EZB die rechtliche sanktionierte Durchführung und Dokumentation einer Verhältnismäßigkeitsprüfung fordert.
Das PSPP-Urteil in groben Zügen
Das Urteil des BVerfG zum PSPP-Staatsanleihekaufprogramm der EZB ist ein komplexer und hochdifferenzierter – sich über sich über 237 Randnummern erstreckender – Text, der eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung erfordert, ja verdient, und Juristen, Politiker und Ökonomen noch für lange Zeit beschäftigen wird. Dieser Blog-Beitrag kann nicht mehr sein als ein erster Aufschlag.
Gegenstand des Urteils ist das durch mehrere EZB-Beschlüsse aufgesetzte Public Sector Purchase Programme (PSPP), ein Staatsanleihekaufprogramm, in dessen Rahmen die EZB Staatsanleihen der Euro-Mitgliedstaaten in Höhe von über zwei Billionen Euro auf dem Sekundärmarkt erworben hat. Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung erblickt das BVerfG hierbei – trotz kritischer Einwände – nicht. Der Schwerpunkt des BVerfG-Urteils liegt woanders, nämlich auf der Prüfung, ob das Programm noch vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem währungspolitischen Mandat der EZB gedeckt ist.
Bei der Prüfung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung geht das BVerfG in zwei Schritten vor: Zunächst untersucht es, ob das auf den Vorlagebeschluss des BVerfG im PSPP-Verfahren vom 18. Juli 2017 hin ergangene Weiss-Urteil des EuGH, das die Unionsrechtskonformität des PSPP-Programms prüft und an welches das BVerfG grundsätzlich gebunden ist, ultra vires ergangen ist. Anschließend überprüft das BVerfG selbst die Handhabung des PSPP-Programms durch EZB. In beiden Prüfungsschritten kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass ein in der deutschen Rechtsordnung unanwendbarer Ultra-vires-Akt vorliegt.
Generalabrechnung mit der währungspolitischen Gerichtskontrolle durch den EuGH
Der fortwährende Verfassungsgerichtsdialog zwischen dem BVerfG und dem EuGH über die Staatsanleihekaufprogramme der EZB nahm seinen Anfang mit dem OMT-Vorlagebeschluss des BVerfG vom 14. Januar 2014. Darin setzte das BVerfG zunächst auf einen erstaunlichen Kollisionskurs gegenüber dem EuGH und handelte sich damit in der rechtswissenschaftlichen Literatur den Vorwurf ein, es verwickle den EuGH in ein verhängnisvolles „game of chicken“. In den nachfolgenden Entscheidungen machten sich beide Gerichte dann aber gegenseitige Zugeständnisse: Der EuGH intensivierte vorsichtig seine gerichtliche Kontrolle der EZB, das BVerfG akzeptierte im Grundsatz die vom EuGH entwickelten Kontrollinstrumente. Jetzt hat sich erwiesen, dass die Konzessionen des EuGHs – jedenfalls aus der Sicht des BVerfG – nicht weit genug gingen. Und nicht nur das: Das BVerfG-Urteil ist Ausdruck eines tiefen – und angesichts des unvermeidlichen Interessengegensatzes zwischen beiden Gerichten auf dem Feld der gerichtlichen Kontrolle der unionalen Kompetenzgrenzen sicherlich auch nicht völlig unbegründeten – Misstrauens gegenüber dem EuGH in seiner Rolle als Hüter des unionsrechtlichen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung, in dem das BVerfG „die maßgebliche Rechtfertigung für den Einschnitt in das demokratische Legitimationsniveau der durch die Europäische Union ausgeübten öffentlichen Gewalt“ erblickt (Rn. 158).
Der EuGH kontrolliert die Einhaltung des währungspolitischen Mandats der EZB anhand der vom EuGH im Gauweiler-Urteil entwickelten „Garantien“ zur Verhinderung einer Umgehung des Verbots monetärer Staatsfinanzierung und anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Während das BVerfG diese Kontrollinstrumente akzeptiert, gleicht seine Kritik am EuGH wegen der Handhabung dieser Instrumente einer Generalabrechnung eines vom währungspolitischen Verfassungsgerichtsdialog mit dem EuGH zutiefst frustrierten BVerfG. Es ist unverkennbar, dass sich das Lavieren des EuGH hinsichtlich des währungspolitischen Mandats der EZB zwischen den divergierenden Interessen der südlichen und der nördlichen Mitgliedstaaten, zwischen dem BVerfG und der EZB, rechtshermeneutisch nicht zu einer stichhaltigen Konzeption verdichtet hat. Mit scharfsinniger Argumentationskraft und juristischer Präzision sowie aus einem spürbaren Überlegenheitsgefühl heraus seziert das Gericht den aus seiner Sicht völlig unzureichenden Kontrollansatz des EuGHs.
Insbesondere kritisiert das Gericht, dass der EuGH bei seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung des PSPP-Programms „die tatsächlichen Wirkungen außer Acht“ lasse und „auf eine wertende Gesamtbetrachtung“ verzichte, wodurch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die ihm zukommende „Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen“ könne (Rn. 123). Vor diesem Hintergrund stellt das BVerfG – teilweise bedingt durch das von ihm selbst im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle entwickelte Kriterium der Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung – fest, dass die Handhabung der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und insoweit ultra vires“ sei (Rn. 116). Ob mit diesem scharfen Ton dem „Kooperationsverhältnis“ zwischen den beiden Gerichten gedient ist, lässt sich durchaus infrage stellen.
Pflicht der EZB zur Verhältnismäßigkeitsprüfung
An der Handhabung des PSPP-Programms durch die EZB bemängelt das BVerfG, dass die EZB ihr erklärtes währungspolitisches Ziel, die Inflationsrate auf unter, aber nahe 2% zu steigern, nicht mit den erheblichen wirtschaftspolitischen Auswirkungen nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwäge. Vielmehr missachte die EZB offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem sie die mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen ausgeblende; das Verhalten der EZB sei angesichts dieser (allerdings heilbaren) Abwägungs- und Begründungsdefizite als Ultra-vires-Akt zu qualifizieren (Rn. 165). Demgegenüber beantwortet das BVerfG (noch) nicht die Frage, ob das PSPP-Programm auch materiell verhältnismäßig ist und zwar mit der keineswegs zwingenden Begründung, dass gerade weil die EZB bislang keine hinreichenden Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit angestellt und dokumentiert habe, dem BVerfG die Grundlage für eine eigene Verhältnismäßigkeitsprüfung fehle.
Vor diesem Hintergrund sind die rechtlichen Folgen des Urteils zunächst stark begrenzt und zeugen von einem verantwortungsvollen Umgang des Gerichts mit den praktischen Folgen seines Grundsatzurteils: Die Bundesregierung und der Bundestag sind im Zuge ihrer Integrationsverantwortung verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, „auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken“ (Rn. 232). Mit anderen Worten geht es dem BVerfG darum, die EZB zur Rechenschaft zu ziehen und eine fundierte öffentliche Begründung für das PSPP-Programm zu erzwingen. Erst wenn der EZB-Rat nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten „in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen“ (Rn. 235), was schwer vorstellbar ist, wird es brenzlig. Dann – und nur dann – wäre es der Bundesbank verfassungsrechtlich untersagt, an dem PSPP-Programm mitzuwirken.
Das lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass auch das PSPP-Urteil des BVerfG nur eine weitere Etappe im verfassungsgerichtlichen Aushandlungsprozess zwischen dem EuGH und dem BVerfG über das Mandat der EZB darstellt. Entsprechend sprach Voßkuhle bei der Urteilsverkündung von einem „wahrscheinlich nur vorläufige[n] Endpunkt“. Denn auch wenn die EZB ihre prozeduralen Begründungsdefizite nachträglich heilen kann, lässt das BVerfG durch die an verschiedenen Stellen im Urteil deutlich artikulierten, grundsätzlichen Bedenken gegen das PSPP-Programm wenig Zweifel daran, dass in zukünftigen Verfahren nur eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung der EZB oder anderweitige symbolpolitische Zugeständnisse nicht ausreichen dürften, um die grundlegenden Einwände des Gerichts zu entkräften. Vielmehr scheint das BVerfG in der Sache von der EZB und von der Bundesregierung nicht weniger als eine substanzielle Beschränkung der Rolle der EZB in der institutionellen Architektur der EU zu verlangen.
Pfadabhängigkeiten des bisherigen „Ja, aber“-Ansatzes
Das Urteil liest sich, soweit man die problematischen Prämissen der Ultra-vires-Kontrolle einmal außer Acht lässt, überzeugend. Dennoch lässt sich der Eindruck gewinnen, dass das BVerfG selbst ein Getriebener der Pfadabhängigkeiten seines bisherigen „Ja, aber“-Ansatzes sowie der sukzessiven dogmatischen Ausweitung der Ultra-vires-Kontrolle geworden ist. Zum einen erhöhen fortgesetzte „Ja, aber“-Urteile zur europäischen Integration den Druck, zur Wahrung der verfassungsgerichtlichen Autorität auch einmal „Nein“ zu sagen. Anderenfalls drohen Glaubwürdigkeits- und Autoritätseinbußen, wenn das BVerfG die Rechtsakte der EU und die Urteile des EuGHs immer nur kontrolliert, ohne jemals zu sanktionieren. In seiner Urteilsverkündung hat BVerfG-Präsident Voßkuhle selbst betont, dass die „Möglichkeiten der Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle ihren Sinn“ verlören, „wenn sie niemals Erfolg haben dürften“. Zum anderen kann die Selbstbindung an die eigene Ultra-vires-Rechtsprechung durch normative Verselbständigung und selbstverstärkende Eigenlogik des verfassungsgerichtlichen Entscheidens eine Pfadabhängigkeit in Gang setzen, die in eine institutionelle Grenzüberschreitung resultieren kann.
Der politische und ökonomische Kontext
Auch wenn man die staatsfräulichen und -männischen Fähigkeiten der Bundesverfassungsrichter nicht unterschätzen sollte, bestehen Zweifel daran, ob das Gericht den hochkomplexen politischen und ökonomische Kontext der Covid-19-Pandemie, den nicht mehr nur schleichenden, sondern immer rapideren Desintegrationsprozess der EU sowie seine eigene institutionelle Funktionsbestimmung adäquat berücksichtigt hat – ohne ihm damit gleich „eine an Verschrobenheit grenzende Weltferne und Selbstüberschätzung“ unterstellen zu wollen. Das BVerfG zeigt insgesamt wenig Sensibilität für die kritische Lage und komplexe politische Gemengelage der EU, offenbart wenig institutionelle Selbstreflektion und lässt wenig Raum für eine europäische Solidarität, die aus der Corona-Krise erwachsen kann, vielleicht erwachsen muss.
Zwar sind die tiefgehenden Bedenken des Gerichts gegen die verfassungsrechtlichen, politischen und ökonomischen Folgen der Staatsanleihekaufprogramme EZB nachvollziehbar: Die einer funktionalistischen Eigenlogik folgende, in ein politisches Vakuum stoßende sukzessive Kompetenz- und Rollenausweitung der EZB seit der europäischen Staatsschuldenkrise ist aus legitimationstheoretischer Perspektive höchst problematisch. Zudem ist die gesellschaftliche Tragweite der Staatsanleihekäufe groß, wie das BVerfG zutreffend darlegt, wenn es davon spricht, dass es um die „Verteilung von Macht und Einfluss in der Europäischen Union“ ginge (Rn. 159) und jedenfalls mittelbar „nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, […] etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer“ betroffen seien (Rn. 173). Wenn die Bewältigungen der europäischen Staatsschulden- und der Corona-Krise Beispiele für politische Schnelllebigkeit, für eine Dominanz der Exekutive und der EZB und für die Strapazierung der Regeln der europäischen Finanzverfassung sind, dann kann der verfassungsgerichtliche Entscheidungsprozess, der institutionell auf Prinzipienorientierung und Unabhängigkeit vom politischen Tagesgeschäft ausgerichtet ist, ein sinnvolles Gegengewicht zu den Entscheidungen von Regierungschefs und Notenbankern bilden und zu einem rechtsordnungsübergreifenden System der checks and balances beitragen.
Allerdings können gute Absichten auch schlechte Folgen haben und ein nationales Verfassungsgericht kann bei der Kontrolle der EZB im Zuge einer schweren europäischen Krise an seine institutionellen Grenzen stoßen. Das gilt erst recht deshalb, weil die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Währungspolitik der EZB letztlich von einer spezifisch deutschen Perspektive auf die Rolle der EZB im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise geprägt sind, die die Belange der EU und der anderen Mitgliedstaaten, wie etwa Griechenlands, Spaniens und Italiens, nicht hinreichend berücksichtigt. Es ist höchst zweifelhaft, ob ausgerechnet eine unabhängige Experteninstitution wie ein Verfassungsgericht die demokratischen Legitimationsdefizite der gegenwärtigen institutionellen Architektur der EU durch seine Kontrolle der unabhängigen Experteninstitution EuGH und EZB zu kompensieren vermag. Viel wahrscheinlicher ist es hingegen, dass beide beteiligten Gerichte, der EuGH und das BVerfG, einen erheblichen legitimatorischen Preis für diesen schweren Rechtsprechungskonflikt zahlen müssen. Das BVerfG muss aufpassen, dass sein ehrenwerter Einsatz für die Bewältigung der demokratietheoretischen Probleme der europäischen Integration nicht zum Kampf des Don Quijote gegen die Windmühlen wird.
wie wärs mit:
Andreas Fisahn dazu:
https://makroskop.eu/2020/05/karsruhe-und-die-anleihekaeufe-der-ezb
u Heiner Flassbeck: https://makroskop.eu/2020/05/droehnendes-schweigen-aus-berlin
-sowie zur weltweiten einordnung des geschehens zb:
zb https://michael-hudson.com/2020/04/the-use-and-abuse-of-mmt
“The choice between the two perspectives, at the end of the day, rests on a Werturteil in a Weberian sense, or on a political choice just like Kelsen described”
– … or maybe, in contrast to Weberian or Kelsenian relativism, the choice might also be a question of political philosophy without all hopes of finding an answer being futile …?