Keine ‘self-executing’ Ausgangssperre
Zur Freiheitsbeschränkung im Infektionsschutzrecht unmittelbar durch Gesetz
Mit der jüngsten Reform des Infektionsschutzgesetzes gilt in Landkreisen, sobald die „Notbremse“ greift, eine Ausgangsbeschränkung von „22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags“ (§ 28b I 1 Nr. 2 IfSG). Anders als bei den bisher erlassenen, gleichgerichteten Verordnungen auf Landesebene stellt sich die Frage, ob ein Gesetz eine solche Beschränkung unmittelbar anordnen kann. Wie von den Sachverständigen Möllers und Kießling im Gesundheitsausschuss des Bundestags kritisch angemerkt, vollzieht § 28b I 1 Nr. 2 IfSG den Eingriff selbst, als self-executing Maßnahmegesetz. Art. 2 II 3 und Art. 104 I GG erlauben allerdings eine Einschränkung des Grundrechts der Freiheit der Person nur auf Grund eines Gesetzes, nicht durch Gesetz. Weil § 28b I 1 Nr. 2 IfSG diese wichtige formelle Schranke nicht beachtet, ist die Ausgangsbeschränkung jenseits von Verhältnismäßigkeitsfragen verfassungsrechtlich unzulässig.
Ausgangsbeschränkung als Eingriff in Art. 2 II 2 GG
In geltender Grundrechtsdogmatik schützt die Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) die „persönliche Bewegungsfreiheit im engeren Sinne“, wie es im Herrenchiemseer Entwurf hieß (JöR 1951, 63). Den elementaren Kern dieses Grundrechts stellt die Freiheit dar, den gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen (statt aller Brunner JURA 2020, 1328, 1330/1). Die Frage nach dem Eingriff ist in vielerlei Hinsicht umstritten und wird erschwert durch die in Art. 104 GG angelegte Differenzierung zwischen Freiheitsbeschränkung, Art. 104 I GG, und Freiheitsentziehung, Art. 104 II-IV GG (Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 18 ff.). Dass die Ausgangsbeschränkung keine Freiheitsbeschränkung sei, lässt sich allerdings nur dann behaupten, wenn man für einen Eingriff einen unmittelbaren Zwang fordert (so Gerichte hier Rn. 46 ff. und hier Rn. 32).
Aber: dass das Grundrecht in der ideengeschichtlichen Tradition des habeas corpus primär Freiheit vor physischem Zwang bieten sollte, kann nicht dazu führen, andere, vergleichbar schwere Eingriffe abzulehnen. Ein Verstoß gegen § 28b I 1 Nr. 2 IfSG wäre eine Ordnungswidrigkeit (§ 73 Ia Nr. 11c IfSG), für die man bis zu 25.000 Euro Bußgeld zahlen müsste (§ 73 II Hs. 2 IfSG, Einzelheiten nach § 17 OWiG), weil der Entwurf die neuen Ordnungswidrigkeiten nicht in die ausnahmsweise Reduktion der Höhe auf 2.500 Euro nach § 73 II Hs. 1 IfSG aufnimmt. Die Rhetorik rund um die „Notbremse“ und ihre Symbolwirkung dürften zudem auf viele einen darüberhinausgehenden psychischen Druck, die Ausgangsbeschränkung einzuhalten, bewirken. Schließlich ist zu bedenken, dass man sich nach § 74 IfSG strafbar macht, wenn man gegen den § 28b I 1 Nr. 2 IfSG vorsätzlich verstößt und dabei das Corona-Virus „verbreitet.“ Ungeachtet der strafrechtlichen Probleme beim Thema Virus-Übertragung wird der dazu erforderliche Kausalitätsnachweis einer Übertragung in der Praxis kaum zu erbringen sein (Lorenz/Oğlakcıoğlu in: Kießling, IfSG, 2020, Vor §§ 73 ff. Rn. 19) – die von § 74 IfSG in Aussicht gestellten bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe dürften bei den meisten Leuten aber für Abschreckung sorgen. Spätestens hier wird der Eingriffscharakter evident. Trotzdem einen unmittelbaren, d.h. physischen Zwang zu fordern, würde damit der speziellen Sachlage keinesfalls gerecht (vgl. insb. Kießling in: dies., a.a.O., § 28 Rn. 33; allgemein ähnlich Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 104 Rn. 25; Mehde in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 67; Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, a.a.O., Art. 104 Rn. 22/3). Richtigerweise haben Verwaltungsgerichte bei der Prüfung von Ausgangsbeschränkungen immer wieder einen Eingriff in Art. 2 II 2 GG angenommen (etwa hier Rn. 72; hier; hier Rn. 31/2; weitere Nachweise bei Kämmerer/Jischkowski GesR 2020, 341, 345/6).
Die Begründung zum § 28b I 1 Nr. 2 IfSG ist anderer Ansicht. Es handle sich „nicht um eine Freiheitsentziehung, sondern lediglich um eine Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit zu regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten, die sich als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit auswirkt“ (S. 12). Die Aussage muss irritieren – immerhin ist die persönliche Bewegungsfreiheit Inhalt des klassischen Schutzbereichs der Freiheit der Person, und dies auch nachts. § 28b XI IfSG nennt auch die Freiheit der Person als Grundrecht, das durch den neuen Paragraphen eingeschränkt werden darf. Bis auf die Ausgangsbeschränkung ist allerdings keine Maßnahme ersichtlich, die in dieses Grundrecht eingreifen könnte – man möchte meinen, der Gesetzgeber hat den hier vorgetragenen Einwand antizipiert und hilfsweise das Zitiergebot aus Art. 19 I 2 GG schon einmal erfüllt. Dass ein Eingriff in Art. 2 II 2 GG in Form der Freiheitsbeschränkung vorliegt, ist demnach ersichtlich.
Zur Unterscheidung zwischen Eingriffen auf Grund eines Gesetzes und durch Gesetz
Soweit mithin ein Eingriff in Form der Freiheitsbeschränkung vorliegt, stellt sich die Frage der Rechtfertigung. Anders als bei den restlichen Grundrechten wird die Schranke des Art. 2 II 3 GG überlagert durch Art. 104 GG. Als formelle Anforderung gestattet Art. 2 II 3 GG einen Eingriff „nur auf Grund eines Gesetzes“; Art. 104 I 1 GG „auf Grund eines förmlichen Gesetzes.“ Wie bei einigen anderen (Art. 6 III, Art. 10 II, Art. 13 VII, Art. 16 I 2 GG), aber im Gegensatz zu den meisten Grundrechten ist die Einschränkung durch Gesetz nicht zulässig. Worin liegt der Unterschied? Wird ein Grundrecht durch Gesetz eingeschränkt, vollzieht das Gesetz den Eingriff selbst; bei einer Einschränkung auf Grund eines Gesetzes ist eine weitere Stelle zwischengeschaltet (vgl. Jarass in: ders./Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Vor Art. 1 Rn. 42). Das mag wie abstrakte Begriffsjurisprudenz klingen, allerdings sollten die Unterschiede in der Sache aber nicht aus den Augen geraten. Beide Formeln eint, dass die den einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt normieren. Die „auf Grund“-Formel hat aber einen darüberhinausgehenden Bedeutungsgehalt: die Legislative soll in dieser Formulierung nicht absolute Verfügungsgewalt über den Eingriff erhalten. Vielmehr wird die Freiheit auch ihr gegenüber abgesichert, indem keine selbstvollziehenden Gesetze erlassen werden dürfen – checks and balances im besten Sinne. Auch Legislative und Exekutive sind durch Art. 1 III GG an die Grundrechte gebunden und können sich gegenseitig (in begrenztem Rahmen freilich) in Schach halten, ohne dass ein Gericht eingreifen muss, wie auch das Bundesverfassungsgericht (Rn. 51) betont. Der sicherlich nicht freiheitsaffine Carl Schmitt hat diesen Punkt präzise ausformuliert: „Auf der Unterscheidung von genereller gesetzlicher Regelung und Anwendung dieser Regeln durch den Richter oder eine Verwaltungsbehörde beruht die eigenartige Konstruktion des rechtsstaatlichen Schutzes. Der Eingriff in Freiheit und Eigentum geschieht nicht durch Gesetz, sondern auf Grund eines Gesetzes“ (Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 152; Hervorhebung im Orig.). Kann diese Unterscheidung auf Art. 2 II 3, 104 I GG übertragen werden?
Wider zwei grundsätzliche Einwände
Erster Einwand: Art. 2 II 3 GG erlaube nur den Eingriff auf Grund eines Gesetzes, weil ein Gesetz gar nicht unmittelbar jemanden „gefangen nehmen“ könne (Kunig/Kämmerer in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. I, 7. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 145). Das Argument ist in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen ist das ein offensichtlicher Zirkelschluss: dass die Grundrechtsschranke gewisse Eingriffsmodalitäten nicht für zulässig erklärt, kann normlogisch nicht zur Beschränkung des Eingriffsbegriffs auf zulässige Modalitäten führen. Zum anderen ist die Aussage mit Blick auf weitere Grundrechte nicht zwingend. So wird bei Art. 16 I 2 GG, der den Verlust der Staatsangehörigkeit auf Grund eines Gesetzes erlaubt, niemand behaupten wollen, ein Gesetz selbst wäre nicht in der Lage, die Rechtsfolge direkt anzuordnen (vgl. v. Arnauld/Martini in: v. Münch/Kunig, a.a.O., Art. 16 Rn. 40/1). Warum das Argument dann aber gerade bei Art. 2 II 3 GG überzeugend sein soll, ist nicht ersichtlich.
Zweiter Einwand: Eine Beschränkung auf Eingriffe auf Grund eines Gesetzes könne nicht richtig sein, immerhin werde die Verfassungsmäßigkeit von § 142 StGB (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) oder § 323c I StGB (Unterlassene Hilfeleistung) niemand bezweifeln wollen (Wittreck in: HbStR VII, 3. Aufl. 2009, § 151 Rn. 27 mit Anm. 129). Die Antwort dürfte in dem Erfordernis eines Finalitätscharakters des Eingriffs liegen (Rixen in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 233). Der Strafgrund der Strafgesetze besteht in der Verletzung der einschlägigen Rechtsgüter; in Art. 2 II 2 GG wird also nicht eingegriffen. Die Ausgangsbeschränkung hat aber die Freiheitsbeschränkung zum finalen Ziel.
Gewaltenteilung als funktionaler Freiheitsschutz
Das Bundesverfassungsgericht nivelliert den Unterschied zwischen den verschiedenen Eingriffsmodalitäten für die meisten Grundrechte (hier Rn. 197/8 zu Art. 10 II GG). Lässt sich wenigstens das auf Art. 2 II 3, 104 I GG anwenden? Man könnte meinen, die Differenzierung sei sinnlos (Wittreck a.a.O.). Jedenfalls für Art. 2 II 3, 104 I GG kann das nicht behauptet werden (und ist es vom Bundesverfassungsgericht bislang auch nicht). Die grundrechtsdogmatische Begründung liegt an der Schranken-Systematik des Art. 104 GG, der der materiellen Freiheitsgarantie des Grundrechts aus Art. 2 II 2 GG eine funktionale Freiheitsgarantie in Form der Gewaltenteilung an die Seite stellt (vgl. insb. Di Fabio in: Maunz/Dürig, a.a.O., Art. 2 II 2 Rn. 42).
Der Blick auf die Schranken-Schranken der Freiheitsentziehung nach Art. 104 II-IV GG mag das verdeutlichen. Die Systematik ist ersichtlich getragen von der Idee, Entziehungen der Freiheit mithilfe der Gewaltenteilung abzusichern, indem ein Zusammenspiel von vollziehender Gewalt und Richtervorbehalt ausgearbeitet wird. Art. 104 I 1 GG, der für Freiheitsbeschränkungen wie -entziehungen gleichermaßen gilt, erweitert das um den Aspekt, dass dies nur „auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen“ geschehen darf. Diese Formulierung hat also eine zweifache Schutzrichtung. Zum einen wird ein Eingriff in Art. 2 II 2 GG nur aufgrund eines Parlamentsgesetzes ermöglicht; zum anderen ist das Parlament aber wiederum auf den Vollzug durch eine funktionell verschiedene Stelle angewiesen. Die Freiheitsentziehung erfordert damit, soweit unstrittig, ein Zusammenspiel aller drei Gewalten; die Freiheitsbeschränkung verzichtet zwar auf den Richtervorbehalt, hält aber die Zweiteilung in Gesetzgebung und Gesetzesvollzug durch verschiedene Stellen aufrecht (i.E. ähnlich Mehde in: Maunz/Dürig, a.a.O., Art. 104 Rn. 41).
Dass das kein verfassungstheoretisches Hirngespinst aus der Studienkammer ist, zeigt sich ganz unmittelbar in Fragen des Rechtsschutzes. Ließen sich die einschlägigen Normen der Verordnungen auf Landesebene bis dato jedenfalls per Normenkontrollverfahren (soweit nach § 47 I Nr. 2 VwGO statthaft; ansonsten Feststellungsklage) vor dem jeweiligen OVG prüfen, steht gegen das IfSG als Bundesgesetz nur die Möglichkeit der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zur Verfügung. Damit einher geht ein aufgrund der erheblichen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde substantiell erschwerter Zugang zum Rechtsschutz. Die „Bekanntmachung“ durch die zuständige Landesbehörde, wann die „Notbremse“ im jeweiligen Landkreis gilt (§ 28 I 3, 4 IfSG), ändert an der Rechtslage nichts, denn sie soll zwar Rechtssicherheit bieten, aber ausdrücklich das „unmittelbare Eingreifen der Notbremse“ nicht berühren (S. 19).
Schlussfolgerung
Die Grundrechtsdogmatik hat in der Pandemie keinen leichten Stand. Schwierige Prognoseentscheidungen und massive Gefahren für Leib und Leben zwingen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eine defensive Position. Gerade deswegen wäre es umso wichtiger, dort grundrechtsdogmatische Pflöcke als Grenzen einzuschlagen, wo es keinen Abwägungsspielraum gibt. Die Gesetzgebung der vergangenen Monate im Bereich des Infektionsschutzes ist in vielerlei Hinsicht kein Glanzstück. Der neue § 28b I 1 Nr. 2 IfSG aber hat in der Hinsicht eine neue Qualität: er ist, schon weil er gegen die Schrankenanforderung der Art. 2 II 3, Art. 104 I 1 GG verstößt, verfassungswidrig. Angesichts der angekündigten Verfassungsbeschwerden wird sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur mit der Verhältnismäßigkeit, sondern auch mit diesem Problem auseinandersetzen müssen.
Ein beeindruckender Artikel, der zeigt, wie wichtig exaktes Arbeiten mit dem Text des Grundgesetzes ist. Der Notbremsengesetzgeber meint, dem Verbot gesetzesunmittelbarer Freiheitsbeschränkungen dadurch entgehen zu können, dass er das mit bis zu 25.000 Euro bewehrte Verbot, nach 22 Uhr ohne triftige Gründen das Haus zu verlassen, als bloßen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit wertet, die Ausgangsbeschränkung also gewissermaßen dem Taubenfüttern gleichstellt. Das ist absurd. Gedankenspiel: Angenommen der Gesetzgeber hätte die Ausgangsbeschränkung ganztägig angeordnet (mit den gleichen engen Ausnahmen). Würde man das auch “nur” als Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ansehen? Nicht ernsthaft.
Herzlichen Dank, Herr Lindner, für die netten Worte und die anschauliche Verdeutlichung, zu welchem Ergebnis die Ansicht des Gesetzgebers konsequent zu Ende gedacht führte. In der Tat wirkt das befremdlich, da bin ich ganz Ihrer Meinung.
Es handelt sich bei zeitlich begrenzten Ausgangsbeschränkungen m.E.n. eher um mit Platzverweisen vergleichbare Beschränkungen der Freizügigkeit gemäß Art.11 Abs.2.
Hier wurde bewusst schon vom Parlamentarischen Rat von möglicherweise notwendigen Beschränkungen im Rahmen des ,,Seuchenschutzes” ausgegangen.
Zweitens und das ist hier wohl das Entscheidende, können Sie Art.2 Abs.2 S.2/3 nicht ohne Satz 1 interpretieren: Die Beschränkung dient ja gerade der Verwirklichung des aus S.1 erwachsenden Schutzauftrages. Bei wortwörtlicher Interpretation von S.3 bräuchten also, bei entsprechender epidemischer Lage, die potentiellen Infektionsträger eine separate Ermãchtigung zur Gefährdung ihrer Mitmenschen, ,,auf Grund eines Gesetzes”: Das wiederum wäre dann am ehesten -schon im Grundgesetz selbst- bereits erwähnter Art.11; der aber den genannten Beschränkungensmöglichkeiten, auch ,,durch Gesetz”, unterliegt.
Zur den eingeschränkten Klagemöglichkeiten: Die vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen treten nach Veröffentlichung der Inzidenzwerte durch das RKI in Kraft und nicht durch direkte Benennung der betroffenen Gebiete im Gesetz selbst. Die Richtigkeit dieser kann sehr wohl beim für dieses zuständigen Verwaltungsgericht angefochten werden.
Die Gewaltenteilung bleibt also gewährt.
Da geht, mit Verlaub, aber einiges durcheinander. Daß eine pauschale Ausgangssperre – selbst wenn man Art. 2 Abs. 2 GG so interpretieren könnte, daß Satz 1 eine unmittelbare Beschränkung von Satz 2 enthielte – einen konkreten Nutzen für das Leben und die körperliche Unversehrtheit eines Einzelnen haben soll, wäre noch nachzuweisen.
Grundsätzlich stellt das IfSG natürlich i.S.v. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG eine Grundlage für konkrete Maßnahmen zum Infektionsschutz dar, jedenfalls dann, wenn AUFGRUND dieses Gesetzes Verordnungen oder Verwaltungsakte erlassen werden. Ein Zusammenhang mit Art. 11 GG besteht wohl nicht, auch der Platzverweis nach Polizeirecht stellt lediglich einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar.
Im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz ist darauf hinzuweisen, daß die RKI-Veröffentlichung der – wie auch immer zustande gekommenen – Meldungen zu den Inzidenzwerten keine gesondert anfechtbare Entscheidung der Exekutive im Rahmen der ohne weitere Prüfung und Abwägung irgendwelcher Kriterien DURCH Gesetz angeordneten freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Ausgangssperre darstellt.
Vielen Dank, Herr Gottschalck, für das Eingehen auf die aufgeworfenen Fragen. Ihrer Antwort kann ich mich nur umfänglich anschließen.
Was das Rechtsschutzargument angeht: Man kann sich durchaus vor den Verwaltungsgerichten gegen ordnungsbehördliche Durchsetzungsmaßnahmen wehren. Dafür ist auch Raum, weil § 28b IfSG eine Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe verwendet und zudem auf konkrete Situationen abstellt, was durchaus eigene ‘Subsumtionsleistungen’ der Exekutive verlangt (statt aller: § 28b Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f IfSG – @Josef Franz Lindner: bitte nicht nur GG, sondern auch IfSG genau lesen!). Sollte es auf die Verfassungsmäßigkeit des § 28b IfSG ankommt, kann das VG dem BVerfG vorlegen oder der Betroffene Verfassungsbeschwerde erheben – was er wegen der Strafbewehrtheit (soweit diese reicht) wohl auch ungeachtet konkreter Maßnahmen direkt gegen das Gesetz tun könnte.
Was den funktionalen Freiheitsschutz durch Gewaltenteilung angeht: Wenn es wirklich um die pauschale Vermeidung genereller Regeln gehen soll (was man aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ja erstmal begrüßen könnte), wären dann nicht auch generelle Regelungen der Exekutive verboten, weil schon formell verfassungswidrig? Oder anders herum gefragt: Worin läge der Gewinn für den Freiheitsschutz, wenn der Gesetzgeber die Verhängung einer Ausgangssperre in die Regelungsmacht der Bundesregierung legte? Wirklich weiterführenden Freiheitsschutz würde man wohl nur dann erreichen, wenn man “auf Grund eines Gesetzes” mit “durch konkret-individuelle Entscheidung” übersetzte. Dann allerdings stünden Gesetz- und mglw. auch Verordnungsgeber vor dem Dilemma, einerseits Ermächtigungsgrundlagen schaffen zu müssen, die dem Bestimmtheitsgebot genügen, ohne andererseits aber selbst unmittelbar in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG einzugreifen. (denn das dürfte ja nur der nachfolgende Verwaltungsakt). Wollte man Gesetz- und Verordnungsgeber hierauf verweisen, mag das womöglich die hohen Ansprüche des Verfassers (und derjenigen, auf die er sich beruft) an die Schrankenauslegung erfüllen, stieße aber evident zugleich an rechtsstaatliche und auch demokratische (Parlamentsvorbehalt!) Grenzen.
Der Auffassung des Autors kann nicht beigetreten werden: Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG steht in einem systematischen Kontext zu den anderen dort verbürgten Grundrechten (Leben und körperliche Unversehrtheit), die ihrerseits dem Schutz der Person und der persönlichen Sphäre des Individuums dienen, indem sie für “unverletzlich” erklärt werden. Dieser Schutzrichtung entspricht die Eingriffsmodalität: In die genannten Rechtsgüter wird durch reale (Einzel-) Akte eingegriffen, nicht aber durch (regelnde) Rechtsakte in Form von Ge- und Verboten. Der Umstand, dass Eingriffe nur aufgrund eines Gesetzes (und nicht „durch“ Gesetz) möglich sind, ist daher auch unschwer dadurch zu erklären, dass tatsächliche Handlungen eben nicht „durch“ ein Gesetz, sondern allenfalls aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen können.
Es handelt sich daher weder um ein Redaktionsversehen noch bedarf es eines komplexen Rekurses auf ein Zusammenwirken verschiedener Staatsfunktionen, um Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in stimmiger Form auszulegen: Muss eine Person sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufhalten (zB Vorladung durch Polizei oder Gericht), liegt eine Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit vor, wird (physisch) verhindert, dass eine Person sich entfernen kann (Einsperren), ist Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG einschlägig.
Der Gesetzesbegründung zu § 28b I 1 Nr. 2 IfSG ist daher darin zu folgen, dass Ausgangsbeschränkungen nur an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen sind. Dass ihr abwegige Vorstellungen zu „regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten“ zugrunde liegen, steht auf einem anderen Blatt.
Der in der Tat sehr gründlichen Analyse und dem überzeugend begründeten Ergebnis des Autors ist wenig hinzuzufügen. Vielleicht nur die Hoffnung, dass das BVerfG seine seit Jahrzehnten gefestigte Rechtsprechung zur Freiheit der Person nicht einer falsch verstandenen staatlichen Pandemieräson opfern möge. Möglicherweise bietet Art. 104 GG dem Gericht sogar einen guten Weg, zumindest die hoch umstrittene Ausgangssperre schon formal für unvereinbar mit der Verfassung zu erklären und auf diese Weise schnell einen Beitrag zum Rechtsfrieden zu leisten, ohne sich zu diesem Punkt mit den Details der (Un)Verhältnismäßigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung befassen zu müssen.
Dass eine entsprechende Entscheidung den Akzeptanzverlust auch anderer Corona-Maßnahmen beschleunigen würde, hätte die Mehrheit im Deutschen Bundestag zu vertreten, die vor einem solchen Kollateralschaden allerdings nicht nur von der Opposition, sondern auch von zahlreichen Experten deutlich gewarnt worden ist.
Guten Tag, Herr Wißgott,
Ihr Artikel ist sehr gut geschrieben. Rechtlich kenne ich mich nicht aus, daher kann ich es dieser Warte nicht beurteilen.
Mich machen aber (11) in Bezug auf Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes oder Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes viel nervöser.
Verstehe ich das etwas falsch oder warum lese ich nirgends eine Diskussion darüber?
Guten Tag Herr Offt,
vielen Dank für die netten Worte. Sie haben natürlich Recht mit der Annahme, dass die Ausgangsbeschränkung noch in weitere Grundrechte eingreift. Das wirft allerdings ganz andere Fragen auf als die, die ich hier versucht habe zu beantworten. Ich darf Sie verweisen auf die Verfassungsbeschwerden der Gesellschaft für Freiheitsrechte und der FDP, die Sie beide leicht zugänglich online finden und die die Grundrechtseingriffe ausführlich diskutieren. Im Übrigen finden Sie unter dem Stichwort “Ausgangssperre” auf diesem Blog weitere erhellende Beiträge zum Thema.
Sehr geehrter Herr Wißgott,
den Antrag der FDP habe ich noch nicht gesichtet, wohl aber den der Prof. Dr. Anna Katharina Mangold. Hier wird explizit Art. 2 (2) Satz 1 = “Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.” nicht angeführt, welche in §28b (11) “eingeschränkt” wird. Zusammen mit dem Art. 13 (1) “Die Wohnung ist unverletzlich.” sehe ich das als Vorbereitung weitere grundrechtsverletzender Massnahmen. Leider konnte mir noch niemand sagen, was hierbei “eingeschränkt” sagen soll und falls eine weitere Anführung in einem noch zu tätigenden Gesetz erfolgen muss, warum das dann überhaupt in dem §28b (11) IfSG eingeschränkt wird?
Der Autor übertreibt es mit seiner Philippika. Wenn ein Grundrechtseingriff “aufgrund eines Gesetzes” möglich ist, dann erst Recht direkt “durch ein Gesetz”. Das neue IfSG ist wie jedes andere Gesetz auf Vollzug (durch die Länder) angewiesen (§ 54 IfSG) und enthält Bußgeldvorschriften (§ 73 IfSG). Von “selfexecuting” kann also keine Rede sein. Auch der Vergleich mit dem StGB, den der Autor nicht gelten lassen will, ist richtig und zeigt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Keineswegs hat die Ausgangsbeschränkung “die Freiheitsbeschränkung zum finalen Ziel”. Das “finale Ziel” ist vielmehr das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung, was der Autor trotz bereits – gefühlt – ewiger Corona-Abwehr immer noch noch nicht verstanden zu haben scheint.
Den Ausführungen von Dr. Rübenach kann ersichtlich nicht beigetreten werden. Wenn ein Grundrechtseingriff „aufgrund eines Gesetzes” möglich ist, ist es freilich nicht erst Recht „durch Gesetz“ möglich. Schon der eindeutige Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG widerspricht einer solchen Annahme. Dort heißt es: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Das Wort „nur“ heißt eben auch „nur“ – wie „ausschließlich“ oder „einzig“ bzw. „allein“ – und eben nicht „auch“ und schon gar nicht „erst Recht“. Hinzukommt, dass im Gesetzestext zu anderen Grundrechten, bei denen beide Beschränkungsmöglichkeiten in Betracht kommen, eben auch beide aufgeführt sind. Beispielsweise heißt es in Art. 8 Abs. 2 GG: „… kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Warum hätte der Grundgesetzgeber in diesen Fällen die Möglichkeit der Beschränkung „durch Gesetz“ neben jener „aufgrund eines Gesetzes” ausdrücklich aufführen sollen, wenn entsprechend der Ansicht von Dr. Rübenach ein Grundrechtseingriff ohnehin erst Recht „durch Gesetz“ möglich wäre, obwohl im Grundgesetzestext nur die Rede von „aufgrund eines Gesetzes“ ist? Vielmehr zeigt dieser Umstand im Umkehrschluss, dass der Grundgesetzgeber bei Art. 2 Abs. 2 GG gerade nicht die Möglichkeit des Grundrechtseingriffs unmittelbar durch Gesetz schaffen wollte, denn ansonsten hätte er dies in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ausdrücklich hineingeschrieben, wie er es bei jenen Grundrechten gemacht hat, in jene Eingriffe sowohl „aufgrund eines Gesetzes“ als auch „durch Gesetz“ möglich sein sollen.
Natürlich hat die Ausgangsbeschränkung die Freiheitsbeschränkung zum finalen Ziel. Das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung ist der (legitime) Zweck, dem über das finale Ziel der Freiheitsbeschränkung durch Ausgangsbeschränkung gedient werden soll. Dass einem legitimen Zweck auch ein eigenes finales Ziel innewohnt, ändert an der Finalität der Freiheitsbeschränkung nichts. Die Ausführungen von Herrn Wißgott sind juristisch sauber und überzeugend. Seiner Einschätzung zur Verfassungswidrigkeit von § 28b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 IfSG ist – und zwar nicht nur aus dem von ihm aufgezeigten Grunde – beizupflichten.
Haben Sie vielen Dank, U. Kranitz, für die überzeugende Widerlegung des vorgeschlagenen Erst-Recht-Schlusses. Ihren Ausführungen kann ich nur beitreten.
Ergänzend an Dr. Rübenach möchte ich einwenden, dass weder §§ 54 oder 73 IfSG noch sonstige Vorschriften etwas daran ändern, dass der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht durch das Gesetz erfolgt, das jedenfalls insoweit “self-executing” ist. Inwieweit der § 28b IfSG jenseits dieser Frage als Maßnahmegesetz problematisch oder unzulässig ist, ist ein anderes Thema. Herr Kluckert hat auf diesem Blog am 27. diesen Monats viele gute Argumente gegen diese These genannt, die Frage nach dem Eingriff in Art. 2 II 2 GG aber ausdrücklich als “problematisch” mit Blick auf die hier vorgetragenen Bedenken bezeichnet.
Herr Dr. Rübenach,
Ihr Kommentar liest sich wie der eines Online-Beauftragten der Bundesregierung.
Ich bin in Rechtsfragen nur Laie, aber wenn es um den gesundheitlichen Schutz geht, warum musste dann in §28b (11) Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes eingeschränkt werden. In Zeiten einer Pandemie wäre für mich als Bürger zu erwarten gewesen, dass die GG besondere Beachtung geschenkt würde.
Inwieweit wird denn eine Pandemie verhindert, indem die Unverletzlichkeit der Wohnung des Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes eingeschränkt wird?
Das BVerfG hat in der Entscheidung vom 05.05.21 über die Eilanträge den hier diskutierten Punkt zwar erwähnt in der Zusammenfassung der Angriffsgründe (unter A.III. – erster Absatz), nimmt hierzu aber unter B.II.2.b.aa (keine offensichtliche formelle Verfassungswidrigkeit) keinerlei Stellung…