Demokratie beginnt bei den Jüngsten
Warum Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe riskant sind
Der Bundeskanzler erklärte kürzlich, der Sozialstaat sei in seiner aktuellen Form „nicht mehr finanzierbar“ – doch der Sozialstaat ist keine Kür, sondern gemäß Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG Grundlage der demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik. Insbesondere die angedeuteten Kürzungen in der Kinder- und Jugendhilfe sind rechtsstaatlich riskant, demokratiepolitisch kurzsichtig und haushaltspolitisch nicht angezeigt.
Denn die Angebote tragen entscheidend zum demokratiebewussten und -kompetenten Heranwachsen junger Menschen bei (demokratische Dimension) und können schnell gegensteuern, wenn in frühen Jahren Entwicklungsrisiken sichtbar werden (rechtsstaatliche Dimension). Steigende Kosten erfordern, soweit sie überhaupt zu verzeichnen sind, keine Kürzungen – sie spiegeln primär steigende Bedarfe wider, die präventive Investitionen verlangen (haushaltspolitische Dimension).
Das Recht auf Persönlichkeitsentwicklung
Die Kinder- und Jugendhilfe hat den Auftrag, junge Menschen – und mittelbar deren Personensorgeberechtigte – bei der eigenen Entwicklung hin zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu unterstützen (§ 1 SGB VIII). Die Angebote des SGB VIII umfassen offene, gemeinwesenorientierte Leistungen und Einzelfallhilfen; alle dienen dem in § 1 SGB VIII genannten Zweck. Damit verwirklicht das SGB VIII das kinderspezifische Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet hat (BVerfG, NJW 1968, S. 2233, S. 2235; zur Diskussion „Kinderrechte ins Grundgesetz“ siehe Donath 2020 und Wapler 2021). Bei der völkerrechtsfreundlichen Auslegung der Grundrechte ist die UN-Kinderrechtskonvention heranzuziehen (BVerfG, Beschluss vom 05. Juli 2013 – 2 BvR 708/12).
Die Verfassung ordnet die Primärzuständigkeit für Pflege und Erziehung der Kinder deren Eltern zu (Art. 6 Abs. 2 GG). Ein Eingriff (Trennung oder Entzug) ist nur zulässig, „wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“ (Art. 6 Abs. 3 GG). Konkretisiert werden diese Vorgaben u.a. in den §§ 27 ff. SGB VIII. Gemäß § 27 Abs. 1 hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Erziehungshilfen sind damit im Zusammenspiel mit dem Gesamtauftrag des SGB VIII ein zentraler Beitrag zur reaktiven Fürsorge für Kinder und Jugendliche im Land.
§ 1666, 1666a BGB stellen die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Eingriffe in die Erziehung sicher. Dabei ist der Vorrang milderer Mittel zentral: Die öffentliche Hand ist gehalten, mildere Mittel vorrangig auszuschöpfen und öffentliche Hilfen so zu gestalten, dass Gefährdungen ohne Trennung abgewendet werden können. Pauschale Kürzungen, die die Realisierung dieser milderen Mittel strukturell erschweren, sind somit verfassungsrechtlich riskant.
Das Narrativ der „Kostenexplosion“ in der Kinder- und Jugendhilfe
Was das Sozialstaatsprinzip konkret erfordert, ist schon immer umstritten: Der Staat ist den Bürgerinnen und Bürgern zwar zur Fürsorge verpflichtet – doch wie weit diese Pflicht reicht, bleibt offen. In der Praxis führt dieser unbestimmte Rechtsbegriff regelmäßig zu Verwerfungen (Thiele 2018, 2019). Der Bundestag beschreibt das Sozialstaatsprinzip als Verpflichtung, sich um soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit „kümmern“ zu müssen (Dt. Bundestag); der Gesetzgeber hat es im Sozialgesetzbuch ausgestaltet (dazu sogleich).
Zuletzt kritisierte der Bundeskanzler Friedrich Merz bis zu zehn Prozent Kostenanstieg jährlich, unter anderem in der Kinder- und Jugendhilfe. Dies sei so „nicht länger akzeptabel“ (Bundesregierung 2025, S. 6). Damit stellte er neben der Sozialstaatlichkeit im Allgemeinen die Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) im Speziellen infrage. Dieses Kostennarrativ setzt gerade an denjenigen präventiven und reaktiven sozialstaatlichen Maßnahmen an, mit denen der Staat die positive Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen sicherstellen möchte. An dieser Stelle werden entscheidende Weichen für Lebensverläufe gestellt. Zwar erklärte Merz, den Rechten Betroffener Rechnung tragen zu wollen (Bundesregierung 2025, S. 6). Doch dieser Hinweis relativiert nicht, dass die sozialstaatlichen Maßnahmen infrage gestellt werden – eine Kürzung der finanziellen Mittel bleibt implizit.
Merz‘ Äußerungen fallen in eine Zeit, in der Medien immer häufiger über die angespannte Situation insbesondere im Bereich der Hilfen zur Erziehung und in den Jugendämtern berichten (bspw. Tagesschau 2025, WDR 2025). Wie den Rechten der Betroffenen entsprochen werden soll, wenn dem jetzt schon angespannten Bereich Mittel entzogen werden sollten, ist kaum nachvollziehbar – zumal Kürzungen in einem personalintensiven Dienstleistungssektor und dessen Verwaltung (TU Dortmund) faktisch Personalabbau bedeuten.
In Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe ist es zunächst korrekt, dass die Ausgaben im Zeitraum 2022 auf 2023 um 9,2 % gestiegen sind (Statistisches Bundesamt), während der Bundeshaushalt um knapp 5 % gesunken ist (Bundesfinanzministerium 2025). Dies ist im Kontext der Nachwirkungen der Coronavirus-Pandemie eine logische Entwicklung. Im langfristigen Mittel liegt der jährliche Zuwachs der absoluten Kosten seit 2015 bei rund 7,2 %. Der letzte deutlich überdurchschnittliche Sprung – knapp 11 % von 2015 auf 2016 – lässt sich durch die sog. Flüchtlingskrise und die damit einhergehende Einreise von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten erklären (Statistisches Bundesamt).
Im internationalen Vergleich der OECD-Länder liegen die Steigerungen der Sozialausgaben Deutschlands insgesamt zwischen 2002 und 2022 auf dem drittletzten Platz. Die Sozialleistungsquote (Summe aller Sozialleistungen in % des BIP) Deutschlands liegt in derselben Vergleichsgruppe im Jahr 2019 im Mittelfeld (Dullien und Rietzler 2024) und ist in den letzten 15 Jahren nicht nennenswert gestiegen (BMAS 2024). Auch wenn der Sprung zwischen den Jahren 2022 und 2023 in den Zahlen von Dullien und Rietzler nicht berücksichtigt ist, wird deutlich, dass sich eine grundsätzliche Unverhältnismäßigkeit der deutschen Sozialausgaben im Verlauf der letzten 23 Jahre nicht validieren lässt. Vielmehr stellen schon seit Jahren die Vereinten Nationen Verbesserungsbedarf bei der finanziellen Absicherung, Bildung und Teilhabe junger Menschen in Deutschland fest (UN 2018, S. 8).
Zusätzlich ist zu bedenken, dass die steigenden Kosten in der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere den Erziehungshilfen, primär mit höheren Fallzahlen zusammenhängen: Der schon im letzten Jahrzehnt zu beobachtende Anstieg der Fallzahlen ist lediglich um die Coronavirus-Pandemie herum zwischenzeitlich stagniert bzw. leicht zusammengebrochen – erklärbar ist dies durch die kontaktvermeidenden Präventivmaßnahmen im Zuge der Pandemiebekämpfung. Zuletzt stieg die Fallzahl der betreuten Menschen 2024 gegenüber dem Vorjahr um 4 % (TU Dortmund). Das zeigt: Immer mehr junge Menschen drohen schon früh Entwicklungsrisiken, die sich potenziell negativ auf die komplette Lebenszeit auswirken können.
Neben den steigenden Fallzahlen treiben auch Kostensteigerungen und Inflation die Kosten in die Höhe. Grundsätzliche Kostensteigerungen sind also erklärbar und deuten mitnichten auf Einsparpotenzial hin. Viel eher müssen sie als Auswirkung und damit als Alarmsignal für steigenden Bedarf gewertet werden
Kürzungen verlagern die Kosten in die Zukunft: Wo frühe, verfahrenssensible Hilfen ausgedünnt werden, steigt erfahrungsgemäß die Komplexität späterer Reaktionen – etwa durch längere, intensivere Hilfeverläufe, Transferleistungen sowie justizielle und gesundheitliche Aufwendungen. Ein Mangel an Bildungs- und Teilhabechancen senkt zudem mittel- bis langfristig das Einkommen und damit die Einkommensteuer. Das erzeugt Opportunitätskosten (NZFH S. 15 f., prognos 2016, S. 102 ff.).
Das Erfahren der rechtsstaatlichen Praxis
Darüber hinaus gibt es auch enorme ideelle Kosten, die den sozialen Rechtsstaat betreffen. Das SGB VIII zur Kinder- und Jugendhilfe operationalisiert den Sozialstaatsauftrag, indem es Leistungen durch faire Verfahren sichert und die persönlichen Rechte (und Pflichten) konkretisiert. Dabei ist die Beteiligung der betroffenen jungen Menschen obligatorisch (§ 8 SGB VIII). Das Hilfeplanverfahren bündeltden organisierten Ablauf von Zielformulierung, Interventionsentscheidung und Zielüberprüfung (§ 36 SGB VIII). Ombudsstellen bieten im Konfliktfall einen unabhängigen Beschwerde- und Korrekturweg (§ 9a SGB VIII). So wird der Sozialstaat justiziabel und erfahrbar – gelingt das Verfahren, erleben die beteiligten Kinder und Jugendlichen Selbstwirksamkeit und Institutionenvertrauen.
Dabei ist die konkrete Erfahrung zentral. Hilfeplanverfahren und daran anschließende Maßnahmen sind nicht nur Verwaltungsakt und Dienstleistung – sondern eine Berührung zwischen Bürgerinnen bzw. Bürgern und Staat in einer ausgesprochen vulnerablen Abhängigkeitssituation: Für junge Menschen geht es um die eigene höchstpersönliche Entwicklung, für Personensorgeberechtigte steht schnell das Gefühl im Raum, versagt zu haben. Außerdem wirkt sich das Verfahren auf weitere Familienangehörige und Freundeskreise aus.
So intim ist der Kontakt zwischen Bürgerinnen bzw. Bürgern und Staat nur selten – positive Erfahrungen in dieser verletzlichen Situation können Vertrauen in den Sozialstaat aufbauen, negative es entsprechend nachhaltig verletzen. Und dieses Vertrauen zu erhalten und aufzubauen ist wichtig: Schon heute liegen Vertrauen in und Zufriedenheit mit Staat und Verwaltung in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt (OECD 2025, Körber-Stiftung 2025).
Dabei kommt es auf Details an: Wie fühlt sich das Verfahren an? Wer spricht wie? Nimmt man sich Zeit? Besteht glaubwürdiges Interesse – und stehen geeignete Hilfsmaßnahmen überhaupt zur Verfügung?
Pauschale Kürzungen wirken genau hier: Sie verringern die Zeit für Menschlichkeit und erhöhen die Fallzahl pro Fachkraft; Gespräche werden kürzer, Vor- und Nachbereitung bleibt rudimentär, Hausbesuche werden seltener. Die Erreichbarkeit verschlechtert sich – und die Beteiligung von jungen Menschen und deren Familien gerät zur Formsache.
Demokratiekompetenz
Die Kürzungen haben schließlich auch demokratische Kosten: Bekanntlich lebt nach Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann (Ingenfeld S. 12 ff.). Allerdings kann er durchaus der Erfüllung dieser Voraussetzungen mit sozialstaatlichen Mitteln einen fruchtbaren Boden bereiten – und ist dafür auch verantwortlich, um seine eigene Stabilität zu sichern (Wieland 2019).
Sozialleistungen dienen dabei keineswegs nur den Einzelnen, sondern sichern demokratische Kompetenzen der heranwachsenden Bürgerinnen und Bürger im Sinne einer funktionierenden und stabilen Demokratie.
Der Europarat empfiehlt die Förderung entsprechender „Schlüsselkompetenzen“ bereits ab jungem Alter (2018, S. 4). Die OECD wird konkreter: Soziale und emotionale Kompetenzen sollen früh gefördert werden – insbesondere bei sozioökonomisch benachteiligten jungen Menschen. Dies sei genauso wichtig wie die Förderung kognitiver Kompetenzen (OECD 2015, S. 90).
Eine tragende Säule ebendieser Förderung ist in Deutschland die Kinder- und Jugendhilfe. Was § 1 SGB VIII als Ziel formuliert – die Förderung von Entwicklung und Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit – stiftet Demokratiekompetenz: So erzeugt das Hilfeplanverfahren durch Anhörung, Begründung und Beschwerdemöglichkeiten schon früh Beteiligungsmöglichkeiten, die demokratische Verfahren einüben, und zwar in den durch das Hilfeplanverfahren vereinbarten Maßnahmen ganz individuell zugeschnitten auf die persönliche Situation der Betroffenen. So bietet die Kinder- und Jugendhilfe Lern- und Übungsräume für das, was der Europarat als Kompetenzen für eine demokratische Kultur zusammenfasst: „Werte“, „Haltungen“, „Fähigkeiten und Fertigkeiten“ und „Wissen und kritisches Verstehen“ – als „Vorbereitung auf das Leben als aktive Bürger:innen in demokratischen Gesellschaften“ (Europarat 2024, S. 9, 15).
Zu beachten ist: Das Hilfeplanverfahren leitet individuelle Einzelfallhilfen ein und setzt dort an, wo bei den betroffenen jungen Menschen bereits Entwicklungsrisiken in Hinblick auf Kindeswohl oder Erziehung anklingen – konkret: beim Aufbau der in § 1 i. V. m. § 27 Abs. 1 SGB VIII genannten Persönlichkeitsmerkmale. Ebendiese Merkmale bilden jene Kompetenzen, die später demokratische Teilhabe tragen. Ist ihre Ausbildung bedroht, ist der demokratische Sozialstaat daher gefordert, frühzeitig einzugreifen.
Fazit
Sozialstaatliches Handeln ist verfassungsmäßiger Grundsatz: Der Staat soll ein sozial gerechtes und sozial sicheres Leben ermöglichen, auch zu seinem Selbsterhalt. Dem SGB VIII kommt hier eine besondere Bedeutung zu: Im Fokus stehen junge Menschen, die sich noch am Anfang ihrer Lebenszeit befinden – die Konsequenzen werden lange wirken.
Anstelle von Kürzungen braucht es daher gezielte Mehrausstattung: Den steigenden Fallzahlen und der wachsenden Belastung von freien und öffentlichen Trägern ist mit leistungsfähigen Verfahren und ausreichend Personal zu begegnen. Wer hier kürzt, setzt gesellschaftliche Teilhabe, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aufs Spiel. Am Ende steigen die Kosten – nicht nur monetär.