Klebstoff als Lösungsmittel
Erstaunliches aus Moabit
Die Beratung und Abstimmung gerichtlicher Entscheidungen unterliegt in Deutschland nach § 43 DRiG der Geheimhaltung; dafür gibt es einige Gründe ebenso wie solche dagegen. Liest man manche Beschlüsse und Urteile, wünscht man sich jedenfalls bisweilen, man hätte (heimlich) zuhören können, um zu erfahren, ob die bei der Lektüre aufkommende Vermutung, die Entscheidung sei nicht einstimmig ergangen, tatsächlich berechtigt ist. So liegt der Fall mit Blick auf den Beschluss der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 31. Mai 2023 (Az.: 502 Qs 138/22), um eine juristische Floskel zu gebrauchen.
Meine von Maximilian Steinbeis für Blogposts angemahnte Eingangsthese lautet: Die Begründung der genannten Entscheidung legt nahe, dass sie lediglich im ersten Teil – mit Blick auf die Nötigungsstrafbarkeit – im Brustton der Überzeugung verfasst wurde, während sie im zweiten Teil zum behaupteten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte abgerungen erscheint.
Sachverhalt
Dem Beschluss liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeschuldigte habe sich am 30. Juni 2022 im Zuge einer Protestaktion der Letzten Generation gemeinsam mit fünf anderen Personen zwischen 08:50 Uhr und 09:05 Uhr an der Blockade einer vielbefahrenen Straße beteiligt. Wie von vornherein beabsichtigt, sei es hierdurch zu „einer erheblichen Verkehrsbehinderung in Form eines Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge“ (Rn. 3 des Beschlusses) gekommen. Im Zuge dessen habe sich der Angeschuldigte „zur Erschwerung der erwarteten polizeilichen Maßnahmen“ (a.a.O.) mit Klebstoff auf der Straße befestigt. Das Ablösen habe „jeweils nicht nur ganz unerhebliche Zeit in Anspruch genommen“ (a.a.O.). Konkret habe die Polizei den Angeschuldigten binnen zwei Minuten (Rn. 22 a.a.O.: „in der Zeit von 8.59 bis 9.01 Uhr“) mit dem Lösungsmittel Aceton vom Asphalt gelöst und sodann von der Straße getragen; die Autobahnausfahrt A 10 am Tempelhofer Damm sei in südlicher Richtung „für mindestens 15 Minuten blockiert gewesen“ (Rn. 3 a.a.O.).
Verfahrensgang
Die Staatsanwaltschaft hatte wegen des geschilderten Geschehens einen Strafbefehl wegen Nötigung und tateinheitlich dazu begangenen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte beantragt, dessen Erlass das Amtsgericht Tiergarten mit Beschluss vom 20. Oktober 2022 (Az.: (298 Cs) 237 Js 2481/22 (167/22)) aus rechtlichen Gründen rundweg abgelehnt hat. Der amtsgerichtliche Beschluss selbst ist nicht veröffentlicht.
Den insoweit kurzen Ausführungen im landgerichtlichen Beschluss ist zu entnehmen, dass das Amtsgericht das Verhalten des Angeschuldigten bei Auslegung des § 240 StGB im Lichte des Art. 8 Abs. 1 GG weder als verwerflich i.S.d.§ 240 Abs. 2 StGB ansah, noch der Ansicht war, das Festkleben auf die Straße habe Gewalt i.S.d. § 113 Abs. 1 StGB dargestellt (Rn. 5 des landgerichtlichen Beschlusses).
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts hat die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde eingelegt.
Zum Vorwurf der Nötigung
Die Kammer teilt die Ansicht des Amtsgerichts, dass keine Nötigung vorliege. Sie führt aus, das Verhalten des Angeschuldigten sei zwar im Lichte der „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs als Gewalt i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB anzusehen, allerdings mangels Verwerflichkeit nicht rechtswidrig. Das Gericht betont, dass die verfahrensgegenständliche Blockade in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG falle und subsumiert sodann eingehend die zunächst abstrakt erwähnten Abwägungsparameter, die das Bundesverfassungsgericht zur Beurteilung der Verwerflichkeit von Sitzblockaden für maßgebend hält.
Speziell zum Einsatz des Klebstoffs äußert die Kammer:
„Dem Festkleben als solchem ist im Zusammenhang mit der Abwägung im Rahmen des § 240 Abs. 2 StGB hier keine eigenständige größere Bedeutung zuzumessen. Das Festkleben wirkte sich in rechtlich relevanter Weise nämlich erst nach der Anordnung der Auflösung der Versammlung durch die Polizei aus. Zwar wurde so der Polizei die Durchsetzung dieser Anordnung erschwert (…) – die Ablösung des Angeschuldigten von der Fahrbahn war jedoch innerhalb sehr kurzer Zeit möglich. Vom Zeitpunkt der Auflösung der Versammlung (8.55 Uhr) bis zum Ablösen des Angeschuldigten und dessen Verbringung von der Fahrbahn (9.01 Uhr) vergingen nur wenige Minuten, in denen die Fortbewegungsfreiheit der betroffenen Verkehrsteilnehmer länger beeinträchtigt war als es ohne das Festkleben der Fall gewesen wäre.“ (Rn. 29 a.a.O.)
Das Gericht formuliert für den „hier allein zu bewertenden konkreten Einzelfall“ (Rn. 20 a.a.O.) das Fazit wie folgt:
„In einer Gesamtschau der genannten Umstände, insbesondere einer zwar sehr großen Zahl an beeinträchtigten Verkehrsteilnehmern mit teils sicherlich dringlichen Fahrten, einem Maß an tatsächlicher Beeinträchtigung, welches jedoch den tagtäglich in Berlin vorkommenden Verkehrsbeeinträchtigungen entspricht, und einem sehr konkreten Bezug des Protestgegenstandes zum Straßenverkehr, ist in einer Gesamtschau [sic!] nur eine so große Beeinträchtigung von Rechten von Verkehrsteilnehmern festzustellen, dass die verursachte Beschränkung ihrer Fortbewegungsfreiheit als sozial-adäquate (Neben-) Folge der rechtmäßig durchgeführten Versammlung hinzunehmen ist und hinter der Versammlungsfreiheit zurücktreten muss.“ (Rn. 30 a.a.O.)
Kraftäußerung durch Weglaufen? Zum Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte
Hingegen meint die Kammer, dass nach Aktenlage aus zwei Gesichtspunkten heraus eine Verurteilungswahrscheinlichkeit für einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte besteht – und zwar „bereits aus tatsächlichen Erwägungen“ (Rn. 31 a.a.O.). Nach der zeugenschaftlichen Äußerung eines Polizeibeamten habe der Angeschuldigte, nachdem die Versammlung aufgelöst worden und er von der Fahrbahn getrennt worden sei
„während der Zuführung unter die Autobahnbrücke immer wieder versucht (…), sich aktiv auf die Fahrbahn zu setzen. Er soll mehrfach versucht haben, wieder auf die Fahrbahn zu gelangen, was durch ‚Anwendung von Zwang, Schieben und Drücken‘ durch die Polizeibeamten unterbunden werden konnte. Durch diese Versuche, sich erneut auf die Fahrbahn zu begeben, hat der Angeschuldigte durch tätiges Handeln eine Kraftäußerung gegenüber den Polizeibeamten bewirkt, die offenbar auch geeignet war, die polizeiliche Maßnahme zu erschweren. Denn die Polizeibeamten mussten durch die erneuten Versuche des Angeschuldigten durch Anwendung nicht unerheblicher Kraft – in Form von Schieben und Drücken – unterbinden. Ein Fall des bloßen Ungehorsams liegt gerade nicht vor.“ (Rn. 33 a.a.O.)
„Durch tätiges Handeln eine Kraftäußerung gegenüber den Polizeibeamten“? Herr Steinbeis, übernehmen Sie die Schlussredaktion, ist man geneigt zu rufen. Es ist aber mehr als nur eine sprachliche Verdrehung, die dem Gericht hier unterläuft.
Es bleibt bereits unklar, gegen welche polizeiliche Vollstreckungsmaßnahme sich der Angeschuldigte konkret widerständig gezeigt haben soll. In dem Beschluss ist insoweit nur pauschal von einem Geschehen „während der Zuführung unter die Autobahnbrücke“ die Rede. Auch auf welche Weise er Gewalt gegen die vollstreckenden Polizeibeamtinnen und -beamten eingesetzt haben soll, wird nicht deutlich. Was genau der Angeschuldigte gemacht haben soll – ob er sich während des Wegtragens losgerissen hat oder nach dem Verbringen an den Straßenrand erneut angesetzt hat, auf die Straße zu gelangen, lässt sich dem Beschluss nicht entnehmen.
Soll nach Auffassung der Kammer der Bürger, der sich wieder auf die Fahrbahn setzen möchte, per se Gewalt einsetzen, indem er „Anwendung von Zwang, Schieben und Drücken“ auf Seiten der Polizei provoziert? An dieser Stelle verschleift das Gericht mit seinen Formulierungen die Grenze zwischen dem widerständigen (ungehorsamen) und dem widerständigen gewalttätigen Bürger. Liest man § 113 Abs. 1 StGB so, wie es die 2. Große Strafkammer ausweislich ihrer Formulierungen tut, dann erscheinen kaum mehr Fälle denkbar, in denen der Bürger „nur“ ungehorsam, nicht aber zugleich in einem strafrechtlich relevanten Sinne renitent agiert. Der Begriff der Gewalt wäre damit ohne Bedeutung.
Wie Martin Heger kürzlich – veranlasst durch den Beschluss des Landgerichts Berlin – allgemein dargelegt hat, sind die Anforderungen, die die obergerichtliche Rechtsprechung an die Annahme von Gewalt durch ein Sich-Losreißen stellt, durchaus strenger.
Kleben als Gewalt? Die Widerstandshandlung i.S.d. § 113 Abs. 1 StGB?
Vielleicht war das Gericht von seiner Begründung selbst nicht ganz überzeugt? Womöglich hielt die Kammer die Behauptung eines tatsächlichen Geschehensablaufs ohne Hauptverhandlung lediglich auf der Basis der (vagen) Angaben der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in der Ermittlungsakte für gewagt?
Was auch immer der Grund für die ergänzende Argumentation sein mag: Die Kammer führt zusätzlich aus, der Angeschuldigte habe sich zudem i.S.d. § 113 Abs. 1 StGB widersetzt, indem er sich auf die Fahrbahn geklebt habe:
„Die durch das Auftragen des Sekundenklebers bewirkte Kraftäußerung des Angeklagten erschwerte das Wegtragen durch die Polizei, da zunächst die Ablösung der Hand von der Fahrbahn – wenngleich dies nur etwa zwei Minuten dauerte – erforderlich war.“ (Rn. 35 a.a.O.)
Wiederum ist die Sprache verräterisch. Es bleibt offen, welcher Person oder Sache gegenüber genau das „Auftragen von Sekundenkleber“ (gemeint offensichtlich: das Ankleben) eine „Kraftäußerung“ darstellen soll. Sind es die Autofahrerinnen und Autofahrer? Die Beamtinnen und Beamten der Polizei? Die Straße? Die Formulierungen der Kammer erinnern an diejenigen einer anderen Kammer des Landgerichts Berlin, die mit Beschluss vom 21.11.2022 (534 Ws 80/22, BeckRS 2022, 40639), ausgeführt hat:
„Die tatbestandsmäßige Widerstandshandlung kann in jedem gegen die Vollstreckungsbeamten gerichteten Verhalten bestehen, das zumindest subjektiv geeignet erscheint, die Durchführung der Vollstreckungsmaßnahme zu vereiteln oder mindestens zu erschweren, wobei Gewalt im Sinne dieser Vorschrift eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftäußerung erfordert, die gegen die Person des Vollstreckenden gerichtet ist. Das Festkleben auf der Fahrbahn stellt gegenüber den Polizeibeamten eine durch den Sekundenkleber bewirkte Kraftäußerung der Angeschuldigten dar, die das Wegtragen der Angeschuldigten durch die eingesetzten Polizeibeamten erschwerte, da die Beschaffung eines Lösungsmittels sowie dessen vorsichtige Anwendung durch die Beamten zur Vermeidung einer Verletzung der zu lösenden Hand erforderlich war, wenngleich der Lösungsvorgang nur ca. zehn Minuten andauerte.“ (Beschluss vom 21.11.21022, Rn. 9)
Scheute die 2. Große Strafkammer einen Vergleich der Einzelfälle? Hier zwei Minuten (und offenbar bereits von der Polizei mitgeführtes Aceton), dort zehn Minuten und zuvor erforderliche Beschaffung des Lösungsmittels?
Und warum geht sie nicht auf die abweichende Rechtsauffassung der 3. Großen Strafkammer des LG Berlin in dessen Beschluss vom 20.04.2023 (Az.: 503 Qs 2/23) ein, in dem es mit Blick auf einen Fall vergleichbaren Klimaprotests („Muttis gegen den Klimawandel“) unter Verweis auf das Analogieverbot heißt:
„Ein bloßer Zeitaufwand bei der Überwindung des Widerstandes, selbst wenn dieser erheblich wäre, und die damit verbundene Lästigkeit für die Vollstreckungsbeamten wäre danach nicht ausreichend. Es würde in diesen Fällen zwar Widerstand geleistet, jedoch kein im Sinne von § 113 StGB gewaltsamer Widerstand (a.A. LG Berlin, Beschluss vom 21.11.2022 (…)).“ (Rn. 9 a.a.O. – zit. nach juris)
In dem zugrundeliegenden Fall hatte das Ablösen der Demonstrierenden, die sich an der Eingangstür einer Bank festgeklebt hatten, ganze drei Minuten pro Person gedauert.
In der Entscheidung der 3. Großen Strafkammer heißt es weiter:
„Darin unterscheidet sich der vorliegende Fall von den von der Staatsanwaltschaft in der Beschwerdebegründung angeführten Fällen. Wenn sich Personen an Gegenständen festhalten, sich daran anketten oder mit den Füßen gegen den Boden stemmen, werden den Beamten Schwierigkeiten bereitet, die entweder selbst durch den nicht unerheblichen Einsatz von Körperkraft gekennzeichnet sind oder jedenfalls durch nicht unerheblichen Krafteinsatz überwunden werden müssen. Letzteres gilt etwa für den Kraftaufwand, welcher für das Durchtrennen etwa einer Kette erforderlich ist. Dass ein auch nur annähernd vergleichbarer Kraftaufwand im vorliegenden Fall erforderlich gewesen wäre, ist nicht erkennbar.“(Rn. 11 a.a.O. – zit. nach juris)
Das ficht die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin nicht an, die, im Gegenteil, zur Untermauerung der Behauptung, es liege Gewalt vor, auf eine Entscheidung des OLG Stuttgart vom 30. Juli 2015 (Az.: 2 Ss 9/15) Bezug nimmt, welche einen Fall der Ankettung betraf (Demonstrierende, die sich „nebeneinander mit der Vorderseite ihres Körpers auf den gefrorenen Boden gelegt und jeweils einen Arm in ein PVC-Rohr mit einem Durchmesser von 100 bis 120 mm, welches am unteren Ende mit einer Stahlkette und einem Bügelschloss einbetoniert war, gesteckt [hatten]. An dem Bügelschloss fixierten sie sich mittels einer am Handgelenk angebrachten Manschette und einer Kette.“ (Rn. 8 bei OLG Stuttgart; zit. nach juris)).
Eine angekettete Person ist allerdings nicht im Ansatz mit einer auf die Fahrbahn geklebten Person vergleichbar, bei der das vorsichtige Ablösen unter Nutzung von Aceton zwei Minuten in Anspruch nimmt und in erster Linie deshalb erfolgt, um befürchtete körperliche Schäden des Angeklebten zu minimieren und damit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.
Unklar bleibt schließlich in diesem Zusammenhang, warum die durch das Ankleben bewirkte Verlängerung der Blockade für die betroffenen Autofahrerinnen und Autofahrer rechtlich vernachlässigenswert sein soll, die zwei Minuten „Diensthandlungsverlängerung“ für die im Einsatz befindlichen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten hingegen für den Angeschuldigten strafbarkeitsbegründend wirken sollen.
„Bei“ der Vornahme einer Diensthandlung?
Das Landgericht führt weiter aus: „Das Festkleben erfolgte auch ‚bei der Vornahme einer Diensthandlung‘“ (§ 113 Abs. 1 StGB). Der Begriff sei nicht formal vollstreckungsrechtlich zu verstehen, führt das Gericht unter Bezugnahme auf eine Kommentierung von Bosch aus, sondern bereits dann zu bejahen, wenn sich der Amtsträger im „‘Kontakt- und Herrschaftsbereich‘‘ des von der Amtshandlung Betroffenen befinde. Eine solche Sachlage habe „nach Aktenlage“ bestanden (Rn. 39 des Beschlusses), wobei nicht mitgeteilt wird, wann genau der Angeschuldigte sich angeklebt haben soll. Weiter heißt es:
„Nach obergerichtlicher Rechtsprechung genügt es jedoch, wenn die bei der Widerstandsleistung notwendige Kraftentfaltung auch schon vor dem Beginn der erwarteten Amtshandlung vorgenommen wird, wenn der Betroffene mit entsprechendem Vorsatz handelt, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten (BGH, Urt. vom 16.11.1962 a.a.O.; OLG Stuttgart, Urt. v. 30. Juli 2015 a.a.O.).“ (Rn. 38 des Beschlusses)
Dass eine solche Ausdehnung des Wortlauts des § 113 Abs. 1 StGB mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist, muss man bezweifeln. Die angeführten Fundstellen können diese Zweifel nicht beseitigen – im Gegenteil. Der von der Kammer zitierte Bosch führt in seiner Kommentierung eine Randnummer nach der in Bezug genommenen Stelle aus:
„Wenig überzeugen kann allerdings die Einbeziehung der Fälle des sog ‚vorweggenommenen Widerstandes‘, in denen der Betroffene in der Erwartung einer bevorstehenden Vollstreckungshandlung Vorkehrungen gegen diese trifft, die bis zum Zeitpunkt ihrer Durchführung fortwirken; etwa einen Gebäudezugang verbarrikadiert, um den Zugang zu verhindern oder sich Stunden vor einer beabsichtigten Räumung am Boden festkettet. (…)“ (MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, StGB § 113 Rn. 14)
Bosch führt an dieser Stelle weiter aus, dass die Ausdehnung dem Bestreben geschuldet sei, die Privilegierungswirkung des § 113 StGB (verglichen mit § 240 StGB) auszudehnen. Allerdings würde hier eine solche Ausdehnung über den Wortlaut des § 113 I StGB strafbarkeitsbegründend wirken.
Und liest man die Begründung der von der Kammer zitierten Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1962 nach, so heißt es:
„Dieses Ergebnis entspricht der Gerechtigkeit. Es ist nicht einzusehen, warum der vorbereitete, also geplante Widerstand anders behandelt werden soll, als der nicht vorbereitete, der erst im Augenblick der Amtshandlung beginnt. Der vorbereitete Widerstand, der oft wirksamer und deshalb mindestens ebenso strafwürdig ist wie der nicht vorbereitete, müßte bei gegenteiliger Entscheidung zur Straflosigkeit führen. Dieses Ergebnis wäre auch in rechtspolitischer Hinsicht unerfreulich.“ (NJW 1963, 769, 770)
Mit Morgenstern ist man geneigt zu sagen; weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Fehlende Berücksichtigung des Versammlungscharakters
Was bei der Lektüre der Ausführungen des Landgerichts Berlin zu § 113 Abs. 1 StGB schließlich auffällt, ist, dass im Gegensatz zu denjenigen zu § 240 StGB jedwede rechtliche Berücksichtigung des Versammlungscharakters des Protests fehlt – obwohl die Kammer den Charakter des Geschehens als einheitlichen Lebensvorgang betont (Rn. 40 des Beschlusses).
Dass das Ankleben womöglich dazu gedient haben könnte, dem Protest eine größere Dramatik zu verleihen, um auf diese Weise den an der Weiterfahrt gehinderten Autofahrerinnen und Autofahrern die Dringlichkeit von mehr Klimaschutz zu verdeutlichen, wird von der Kammer lediglich gestreift (Rn. 35 a.a.O.), um dann zu behaupten, auch bei dieser Annahme habe der Angeschuldigte es billigend in Kauf genommen, dass das Ankleben die polizeiliche Maßnahme erschweren würde – eine angesichts eines schweigenden Angeschuldigten (Rn. 4 a.a.O.) und der von der Berliner Polizei inzwischen entwickelten Routine beim Lösen von Klebstoff steile These.
Abgesehen davon: Wenn das Kleben auf die Straße bereits vor der Auflösung der Versammlung erfolgt ist, wie es die Ausführungen des Gerichts nahelegen, so kommt man meines Erachtens nicht umhin, sich zur Frage, ob Art. 8 Abs. 1 GG womöglich Anlass gibt, bei § 113 Abs. 1 StGB einen (gesteigerten) Erheblichkeitsvorbehalt vorzusehen, sowie zur Frage, ob das Grundrecht Einfluss auf die Beurteilung des Tatbestandsmerkmals „bei Dienstausübung“ hat, jedenfalls zu verhalten.
Wäre eine komplexere Auseinandersetzung naheliegend gewesen?
Hätte es für das Beschwerdegericht nahegelegen, seine Argumentation profunder zu gestalten? Häufig kann man das nicht beantworten, weil nicht bekannt ist, wie eingehend sich das Gericht, dessen Entscheidung zur Debatte steht, mit den verfahrensgegenständlichen Fragen beschäftigt hat.
Der vorliegende Fall ist allerdings insoweit besonders, als die amtsgerichtliche Entscheidung zwar, wie ausgeführt, nicht veröffentlicht ist, jedoch Preuß in ihrem in NZV 2023, 60 publizierten Beitrag auf S. 64 die Ausführungen des Gerichts zu § 113 StGB wie folgt – größtenteils mittelbar – wiedergibt:
„Der hinreichende Tatverdacht hinsichtlich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte scheitere daran, dass kein Widerstandsleisten durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt erfolgt sei. Unter Widerstand wird eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten verstanden, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll. Widerstand mit Gewalt werde – so das AG unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH [hier gibt Preuß BGHSt 65, 36 an] – geleistet, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Gewalt, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolge, das geeignet sei, die Vollstreckung der Diensthandlung zumindest zu erschweren. Die Gewalt müsse gegen den Amtsträger gerichtet oder für ihn – unmittelbar oder mittelbar über Sachen – körperlich spürbar sein, sodass er seine Amtshandlung nicht ausführen könne, ohne seinerseits eine nicht ganz unerhebliche Kraft aufwenden zu müssen. An einer solchen Kraftaufwendung fehle es, zumal die einzige körperliche Tätigkeit der Beamten im Anheben der festgeklebten Hand zum Auftragen des Lösungsmittels bestanden habe. Bezugnehmend auf die Judikatur des OLG Stuttgart und des BVerfG führt das AG aus, dass das Ankleben gerade nicht mit dem Festketten an einem Gegenstand [Zitat hier: OLG Stuttgart NStZ 2016, 353] oder dem Stemmen der Füße gegen den Boden sowie Festhalten an Gegenständen [hier Zitat von BVerfG NJW 2006, 136] vergleichbar sei. Letzteres führe jeweils zu einem erheblichen Kraftaufwand der Beamten. Unter Bezugnahme auf den bereits erörterten Beschluss des AG Tiergarten vom 5.10.2022 [Preuß stellt zuvor die Entscheidung (303 Cs) 237 Js 2450/22 (202/22) dar, abgedruckt in NStZ 2023, 239 und StV-S 2023, 8] nimmt das AG an, das Bestreichen der Finger bzw. Hand mit einem mit Lösungsmittel getränkten Pinsel oder Lappen seitens der Beamten vermittelt durch den Angeschuldigten unter den Gewaltbegriff zu subsumieren, verstieße gegen das Analogieverbot. Überdies fehle es am Tatbestandsmerkmal ‚bei‘ der Vornahme einer solchen Diensthandlung. Erforderlich sei, dass die Vollstreckungshandlung bereits begonnen habe und noch nicht beendet gewesen sei, wobei die Begriffe des Beginns und der Beendigung nicht rein förmlich zu verstehen seien, sondern auch Ereignisse erfassen könnten, die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehen und mit ihnen einen einheitlichen Vorgang bilden. Maßgeblicher Anhaltspunkt für die Zugehörigkeit zur Vollstreckungstätigkeit gegen eine bestimmte Person oder Sache sei, dass sich der Amtsträger bei seinem Handeln im – möglichen – ‚Kontaktbereich‘ des von der Amtshandlung Betroffenen bzw. der zu vollstreckenden Amtshandlung befinde. [Zitat hier: Unter Bezugnahme auf LK/Rosenau, 13. Aufl. 2021, § 113, Rn. 18]. Letzteres verneint das Gericht, da die Vollstreckungshandlung im Zeitpunkt des Anklebens weder begonnen, noch unmittelbar bevorgestanden habe und sich die Beamten weder im Kontakt- noch im Herrschaftsbereich befunden hätten. Das AG weist zwar darauf hin, dass auch Fälle vorweggenommenen Widerstands erfasst werden, bei denen die eigene Kraftentfaltung des Täters gleichsam als ‚vorweggenommener Widerstand‘ gegen eine alsbald erwartete Vollstreckung schon vor Beginn der Diensthandlung erfolgt, sofern sie sich als Widerstand gegen den Amtsträger im Zeitpunkt dessen Tätigwerdens auswirkt, [Zitat hier: BGH NJW 1963, 769] und nennt hierfür als Beispiel u. a. das Abschließen der Wohnung in Erwartung des später eintreffenden Gerichtsvollziehers. Anders als in einem derartigen Fall sei vorliegend eine Erwartung oder Absicht des Angeschuldigten, sich bewusst und gewollt gegen eine unmittelbar bevorstehende Vollstreckungshandlung zur Wehr setzen zu wollen, nicht ersichtlich. Es führt aus:
‚Unabhängig davon, dass die gegenteilige Auffassung vorliegend zu einem Gesinnungsstrafrecht führt, erfolgte das Ankleben auf der Fahrbahn zunächst im Rahmen der von der Versammlungsfreiheit geschützten Demonstration […], um über einen möglichst langen Zeitraum besondere Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Anliegen der ‚Letzten Generation‘ zu erlangen. Will § 113 StGB die Durchführung des Staatswillens, mithin auch das staatliche Gewaltmonopol sichern, wobei es primär um den Schutz der Autorität staatlicher Vollstreckungsakte geht, ist nicht ersichtlich, dass sich der Angeschuldigte durch das Ankleben gegen diese wendet. Vielmehr dürfte es dem Angeschuldigten und den gesondert verfolgten Personen darum gegangen sein, ein einfaches ‚Entfernen‘ durch Autofahrerinnen und Autofahrern (sic!) von der Straße zu vermeiden, um so im Rahmen der Demonstration über einen möglichst langen Zeitraum auf die Ziele aufmerksam machen zu können. Dass es dem Angeschuldigten gerade nicht darum ging sich gegen mögliche Vollstreckungshandlungen zu wenden, belegt auch das vorliegende passive Verhalten, bei dem sich dieser nach dem Ablösen seiner Hand ohne weiteres von der Fahrbahn tragen ließ. Schließlich zeigen auch die weiteren Aktionen der ‚Letzten Generation‘, bei der sich Aktivistinnen und Aktivisten unter anderem an Kunstwerke kleben, dass es diesen, also auch dem Angeschuldigten als Teil des Aktionsbündnisses ausschließlich um öffentlichkeitswirksame Maßnahmen geht, die das staatliche Gewaltmonopol nicht in Frage stellen, sondern Politik und Öffentlichkeit zum Nachdenken bringen sollen.‘
Schließlich sei aus Sicht des Gerichts die Einbeziehung der Fälle des ‚vorweggenommenen Widerstandes‘, in denen der Widerstandsleistende in der Erwartung einer bevorstehenden Vollstreckungshandlung Vorkehrungen gegen diese trifft, die bis zum Zeitpunkt ihrer Durchführung fortwirken, [Zitat: unter Bezugnahme auf MüKoStGB/Bosch, 4. Aufl. 2021, § 113, Rn. 14] auch nicht ausnahmsweise erforderlich, da nicht erkennbar sei, ‚wieso sich die Vollstreckungsunterworfenen in einer privilegierungswürdigen Ausnahmesituation befinden sollen.‘ Ein Rückgriff auf § 240 StGB komme nicht in Frage, wenn § 113 StGB danach nicht erfüllt sei. § 113 StGB sei als abschließende Spezialregelung anzusehen, sodass ein Rückgriff auf § 240 StGB dessen Privilegierungsfunktion unterlaufe. [Zitat hier: Unter Bezugnahme auf LK/Rosenau, 13. Aufl. 2021, § 113, Rn. 65]“.
Fazit
Dass das Landgericht Berlin bei einer so eingehenden Begründung wie derjenigen des Amtsgerichts nur so wenige (verunglückte) Worte zum behaupteten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verliert und sich mit der Argumentation nicht näher auseinandersetzt, stützt die These, die Entscheidung sei insoweit nicht einstimmig ergangen und ein womöglich überstimmtes Kammermitglied habe den Beschluss auch mit Blick auf die Nötigung abfassen müssen. Wie gesagt: reine Interpretation einer heterogen anmutenden Entscheidung.
Da die Kammer ein tatsächliches Geschehen zugrunde legt, das nicht vollständig dem aufgehobenen amtsgerichtlichen Beschluss entspricht, hat das Landgericht Berlin die Sache zur selben Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen (Rn. 43 des landgerichtlichen Beschlusses).
Die zuständige Richterin bzw. den zuständigen Richter erwartet nun sowohl mit Blick auf die anstehende Beweisaufnahme als auch auf die rechtliche Würdigung eine interessante Aufgabe, und es ist anzunehmen, dass das Verfahren, wie es auch ausgehen mag, weiterhin Kollegialgerichte beschäftigen wird – deren Mitglieder womöglich (wiederum?) unterschiedliche Meinungen zu den rechtlichen Fragen vertreten werden.
Nunmehr ist die Ausgangsentscheidung auch bei Jurist abrufbar.