09 June 2023

Wie man einen Blogpost schreibt

I

Das Wichtigste beim Schreiben eines Blogposts ist die These. Das ist meine in langjähriger Erfahrung als Autor und Redakteur gehärtete, nun ja, These: Das Maß an Anstrengung, das die Autor*in in das Ausformen und Anspitzen und Ausdifferenzieren ihrer These investiert hat, ist der mit Abstand deutlichste Indikator, ob der Text zum Blogpost taugt oder nicht. Die These ist es, die dem Text Struktur, Richtung und Zug verleiht. Sie ist es, die ihn mit Energie auflädt. Eine klare, messerscharfe These braucht der Text, um ein guter Blogpost werden zu können, und zwar am besten nicht mehr als eine. Auf diese eine These muss man das innere Autor*innenauge scharf stellen, und dieses Scharfstellen ist ein Prozess, der Geschick, Geduld und nicht selten auch erhebliche Qualen erfordert.

These ist nicht Thema. Wenn ich einen Blogpost über, sagen wir, die Einigung im EU-Innenrat zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem schreiben will, dann habe ich ein Thema, aber noch keine These. Ich kann seitenweise Wissenswertes aufschreiben, was da passiert ist, was sich verändert und was gleich bleibt, was das impliziert und wie sich dieses zu jenem verhält. Das kann alles höchst verdienstvoll sein. Aber ein guter Blogpost wird daraus nicht. Dazu braucht es eine These.

These ist auch nicht Meinung. Mein noch so emphatisch vorgetragenes Wert- oder Unwerturteil, meine noch so heftig empfundene Sympathie oder Abneigung ist nicht etwas, wovon ich von irgendjemand außer meinen Nahestehenden auch nur das mindeste Interesse erwarten kann. Was ich finde, kann für mich ein Motiv sein, das meine Thesenbildung antreibt, ist für alle anderen aber vollkommen irrelevant. Umgekehrt ist es ein weit verbreiteter, aber um so verheerenderer Fehler, das Fehlen einer These durch entsprechend starke Meinungen kompensieren zu wollen. Ich könnte mich jetzt lang darüber verbreiten, wie furchtbar ich das finde, was die Innenminister*innen der Europäischen Union da gestern beschlossen haben. Aber das funktioniert nicht. Ohne These wird daraus niemals ein guter Blogpost.

These ist auch nicht Argument. Eine These setzt man, und weil man sie gesetzt hat, muss man sie entfalten, begründen, rechtfertigen, gegen Einwände verteidigen, i.e. Argumente vorbringen. Das Argument ist die Begründung, die These ist das Begründete. Sie geht dem Argument voraus. Sie ist die Setzung, mit der sich die Autor*in aus der Deckung wagt und das Risiko eingeht, womöglich den Mund zu voll genommen zu haben, wenn sich herausstellt, dass ihre Argumente die These doch nicht zu tragen vermögen. Dafür muss sie sie aber erst mal gesetzt haben.

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Die These muss nicht steil sein. Kein Blogpost wird schon dadurch gut, dass er mit einer Behauptung überrascht, mit der niemand gerechnet hätte. Man kann den lautersten Common Sense vertreten in einem Blogpost, dagegen gibt es überhaupt nichts einzuwenden. Die These muss aber klar sein. Wer einen Blogpost schreibt, muss seinen Leser*innen und, noch viel wichtiger, sich selbst Klarheit darüber verschaffen, was genau man da setzt und im Unterschied wozu. Das ist ein iterativer Prozess. Man probiert etwas aus. Und merkt, dass man damit in Schwierigkeiten kommt. Man modifiziert die These. Geht es so besser? Ja, so geht es besser. Aber sie ist nicht mehr so elegant, sondern krumm und kompliziert. Man modifiziert sie erneut. So schleift man seine These, bis sie scharf ist.

II

Was sich dabei sozusagen von selbst mit erledigt, ist das Problem des Aufbaus des Textes. Der ist ganz einfach: Im Regelfall muss ich gleich am Anfang meine These setzen. Dann kontextualisiere und begründe ich sie und verteidige sie gegen erwartete Einwände, was halt nötig ist, damit sie da gut und stabil steht – die Gliederung des Textes ergibt sich quasi von selbst. Aber nur mit klarer und scharfer These.

Im Nachrichtenjournalismus lernt man, dass es auf den ersten Satz ankommt, den so genannten Leadsatz: Der muss der Leser*in begreiflich machen, warum sie sich der Mühe überhaupt unterziehen soll, diesen Text zu lesen. Spart man sich das für den zweiten Satz auf, dann hat sie vielleicht schon zu lesen aufgehört und kriegt das gar nicht mehr mit. Man muss zum Punkt kommen, und zwar sofort.

Nun sind rechtswissenschaftliche Blogposts keine Zeitungsnachrichten, und von den Leser*innen dieser kann man mehr Geduld erwarten als von denen jener. Wer über die notwendigen erzählerischen Fähigkeiten verfügt, kann natürlich einen kunstvolleren Einstieg wählen und es noch einige Zeit spannend machen, bevor man mit der These rausrückt. Aber das ist riskant und definitiv etwas für Fortgeschrittene. Im Regelfall sollte man spätestens im zweiten Absatz die These gesetzt haben.

Ihre Texte auf diese Weise zu strukturieren, fällt besonders deutschen Jurist*innen oft bemerkenswert schwer. In Deutschland wird an den juristischen Fakultäten der so genannte Gutachtenstil gelehrt: Hier ist der Fall, dort ist das Recht, und dann wird durchgeprüft – könnte so sein, das spricht dafür, das spricht dagegen, und ganz am Schluss kommt dann, endlich im Indikativ, das rechtsgutachterliche Ergebnis. Für einen Blogpost ist das verheerend. Kein Mensch liest sich durch lauter Konjunktive, nur um ganz zum Schluss zu erfahren, was eigentlich Sache ist. Die These muss an den Anfang, wie beim Urteil, im Indikativ: So ist das. Und zwar aus den folgenden Gründen.

Was sich durch eine klare und scharfe These oft ebenfalls von selbst mit erledigt, ist das Problem der Länge. Um eine klare These zu entfalten, zu begründen und zu rechtfertigen, reichen in fast allen Fällen 1500 Wörter vollkommen aus. Dass mehr als 2000 Wörter notwendig sind, kann mir jedenfalls niemand erzählen. Wer mehr braucht, hat in aller Regel seine These nicht hinreichend geschärft.

III

Stil und Sprache sind die persönliche Signatur der Autor*in und das muss ein Blog respektieren. Es gibt keinen spezifischen Blog-Stil, und niemand braucht sich genötigt fühlen, sich einer krampfig “flippigen” Sprache zu befleißigen, nur weil es ein Blog ist, für den sie gerade schreibt. Manche schreiben knochentrocken und streng wissenschaftlich, andere gestatten sich mehr literarische und/oder polemische Freiheiten, und mir ist das alles recht, solange die Autor*in sich in dem von ihr gewählten Stil souverän bewegt, die Ausdrucksweise präzise bleibt und nicht dazu eingesetzt wird, gedankliche Unsauberkeiten zu kaschieren.

Es gibt aber sprachliche Eigenheiten, die ich als Marotten, wenn nicht gar Deformationen bezeichnen würde, die die bundesdeutsche Jurist*innenausbildung denen zufügt, die sie durchlaufen. Zur deutschen Jurist*in geformt zu werden, heißt eine bestimmte Art des Denkens zu erlernen und damit auch eine bestimmte Art, sich auszudrücken. Man lernt, den Fluss dessen, was da die ganze Zeit um einen herum geschieht, nach Tatbeständen zu ordnen und unter Rechtsnormen zu subsumieren. Das ist die prägende Erfahrung des Jurastudiums: in der WG zu wohnen wird plötzlich zu einem Untermietverhältnis, in der Bar einen Kaffee zu bestellen zu einem Vertragsangebot. Das lernt man, und damit geht ein ungeheures Gefühl der Ermächtigung einher. Man verfügt plötzlich über einen Zauberstab, mit dem man das, was geschieht, in saubere, viereckige, subsumier- und stapelbare Tatbestände verwandeln kann, an die das Gesetz Rechtsfolgen knüpft! So lernt man zu denken und dann auch zu sprechen und zu schreiben. Was geschieht, wird zum Sachverhalt, die Action wird zur Akte, das Verb wird zum Substantiv, und schwupp: drückt man sich nur noch in lupenreinem Jurist*innendeutsch aus.

Das hat seine Richtigkeit in Schriftsätzen, Urteilen und Verwaltungsakten, aber in einem Blogpost ist das von großem Übel. Deswegen redigieren wir all die zu Substantiven versteinerten Verben, all die Passiv- und Partizipkonstruktionen, die für deutsche Jurist*innentexte so kennzeichnend sind, ohne Gnade raus.

IV

Das ist zumindest unser Anspruch. Dem werden wir nicht immer so gerecht, wie wir das gerne würden. Die meisten Texte durchlaufen bei uns ein, zwei, manchmal sogar drei oder vier Redaktionsschleifen im Bemühen darum, das beste aus ihnen rauszuholen. Und trotzdem haben wir oft das Gefühl: Da wäre eigentlich noch viel mehr nötig gewesen. Aber mehr schaffen wir nicht.

Wir und noch viel mehr unsere Autor*innen könnten sich selbst und einander eine Menge Arbeit sparen, wenn sie von vornherein ein paar Dinge beherzigen, bevor und während sie aufschreiben, was sie uns dann zur Veröffentlichung schicken. Deshalb diese Anregungen.

Wenn Sie das nützlich finden, freue ich mich. Wenn Sie Kritik, Anmerkungen oder Erklärungsbedarf haben und mir eine Email schicken, ebenfalls.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Die Diskussion der vergangenen Woche über die bevorstehende ungarische Ratspräsidentschaft wurde in dieser Woche weitergeführt. Während THU NGUYEN meint, dass der praktische Schaden aus einer ungarischen Ratspräsidentschaft begrenzt wäre, bezweifelt MARTIJN VAN DEN BRINK, dass eine Verhinderung der Präsidentschaft mit der Rechtsstaatlichkeit der EU vereinbar wäre.

Anlässlich des Treffens der EU-Innenminister*innen zur umstrittenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ordnen JONATHAN KIEßLING & ISABEL KIENZLE die Reformvorschläge ein und erinnern, dass das Hoch- und Einhalten kodifizierter Menschenrechte nicht zur Nebensache verkommen darf.

Durch die Verabschiedung der europäischen Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) durch das Europäische Parlament (EP) sei die EU der Verabschiedung des weltweit ehrgeizigsten Sorgfaltspflichtgesetz einen großen Schritt nähergekommen, meint KLAAS HENDRIK ELLER. Er ordnet die Position des EP ein und blickt auf den bevorstehenden Trilog.

Am ersten Tag des „pride month“ entschied der EGMR in der Rechtssache Maymulakhin and Markiv v Ukraine, dass das generelle Fehlen einer rechtlichen Anerkennung für gleichgeschlechtliche Paare gegen Art. 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. GIULIO FEDELE erläutert die Bedeutung der Entscheidung.

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Call for papers

The Eurac Research Institute for Comparative Federalism invites submissions for the Diversity Governance Papers (DiGoP) – Constitutional, Territorial and Societal Pluralism“­. DiGoP is a peer-reviewed online working paper series linked to the IACL Research Group on Constitutionalism and Societal Pluralism.

DiGoP accepts papers from all disciplines focusing on diversity governance and exploring issues linked to constitutionalism and societal pluralism. Topics include federalism, conflict prevention/resolution, multilevel governance, local government, democratic/political pluralism, and participatory democracy.

Website: www.eurac.edu/digop

Editor in chief: Petra Malfertheiner petra.malfertheiner@eurac.edu

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Was ermöglichte die systematische Demontage der polnischen Rechtsstaatlichkeit, ohne dass die Verfassung formell geändert wurde? Eine spezielle Auslegungstechnik, die sogenannte “Spotlight-Auslegung”, erklärt MIROSŁAW GRANAT.

JANNIS LENNARTZ kommentiert den Vortrag des umstrittenen Harvard-Rechtsprofessors Adrian Vermeule zum Thema „common good constitutionalism“ an der Katholischen Akademie in Berlin. Vermeules Versuch, US-amerikanisches Recht mit Hilfe des ius commune neu zu lesen, lässt Lennartz vor Verwunderung die Augenbraunen hochziehen.

Vor einer Woche kündigte YouTube an, falsche Aussagen über vergangene US-Präsidentschaftswahlen nicht länger zu löschen. RICHARD MACKENZIE-GRAY SCOTT sieht darin Vor- und Nachteile und kommt zu dem Schluss, dass das US-Verfassungsrecht in Bezug auf Online-Regulierung aktualisiert werden muss.

Nach dem Fall Amthor, der Aserbaidschan-Affäre und den Maskendeals meinen TILL ZIMMERMANN & FRANK ZIMMERMANN, dass es höchste Zeit sei §108e StGB – den Straftatbestand zur Mandatsträgerkorruption – zu reformieren und machen einen Vorschlag, wie eine Reform aussehen könnte.

Zuletzt: Auch in dieser Woche wurde das Thema gab es weitere Beiträge zu unserer Blogdebatte Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise – diesmal von JOCHEN VON BERNSTORFF, FELIX HANSCHMANN und FIN-JASPER LANGMACK & ANNA-MIRA BRANDAU.

*

Soweit für diese Woche. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal!

Ihr

Max Steinbeis

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SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Wie man einen Blogpost schreibt, VerfBlog, 2023/6/09, https://verfassungsblog.de/wie-man-einen-blogpost-schreibt/, DOI: 10.17176/20230609-231134-0.

One Comment

  1. Isabell Schwiering Mon 12 Jun 2023 at 14:10 - Reply

    Ich kann jedem das Buch von Roland Schimmel “Juristend