Letzter Vorhang für @realdonaldtrump
Es war eine hoch spannende, wenn auch wegen der vielen Irritationen und Unterbrechungen zuletzt etwas holprige Darbietung, die am vergangenen Freitag ein abruptes Ende fand, als Twitter die One-Man-Show des Donald Trump mit ihren über 88 Millionen Zuschauern vom Netz nahm. Der amerikanische Präsident hatte oft genug erklärt, dass er ohne die sozialen Medien nicht dahin gekommen wäre, wo er am Ende war. Es gibt keinen Grund, das zu bezweifeln. Der Zusammenbruch des gesamten medialen Ökosystems, das er um den @realdonaldtrump Account aufgebaut hatte, wiegt für ihn schwer. Neben Twitter haben die meisten großen Plattformen, insbesondere Facebook, Trump die Kommunikationskanäle gekappt. Dass das Vorgehen so viel Aufmerksamkeit bekommt, liegt nicht nur an der gegenwärtigen politischen Situation in den USA in der Phase des Machtübergangs. Mit dem Rausschmiss Trumps zeigt sich die Meinungsmacht der sozialen Medien ein weiteres Mal besonders eindrücklich. Ihre Entscheidung war angesichts der beispiellosen Eskalation der Ereignisse in Washington nicht nur rechtmäßig, sondern richtig und im Grunde überfällig. Für das Publikum stellt sich die Frage, welche Lehre es aus diesem zum Teil bizarren Schauspiel ziehen will.
Eine überfällige Entscheidung
In den großen sozialen Netzwerken genoss Donald Trump als amtierender Präsident bis zuletzt einen Sonderstatus. Dieser Status hat ihn lange davor bewahrt, was gewöhnlichen Nutzern bei entsprechendem Verhalten viel früher und häufiger passiert wäre, nämlich die Entfernung einzelner Äußerungen oder die Sperrung des gesamten Kontos. Für hochrangige Politikerinnen hat Twitter sein privates Regelwerk um eine Art Sonderrecht ergänzt („World Leaders on Twitter: principles & approach“). Twitter wie auch Facebook legen an deren Äußerungen andere Maßstäbe an und sanktionieren Verstöße gegen Gemeinschaftsstandards nicht ohne weiteres. Die Zurückhaltung an diesem Punkt wird häufig als Zugeständnis an Accounts mit großer Reichweite, die für Aufmerksamkeit und Interaktion sorgen, kritisiert. @realdonaldtrump war in dieser Hinsicht einer der prominentesten Nutzer auf Twitter, vielleicht der prominenteste.
Doch sind es nicht nur die Geschäftsinteressen der Unternehmen, die hier hineinspielen. Die Zurückhaltung hat eine gewisse Berechtigung in der Sache. So hat die Öffentlichkeit ein Interesse zu erfahren, wie sich das politische Führungspersonal äußert, und zwar auch und gerade dann, wenn es sich an den Grenzen zulässiger Kommunikationsstandards bewegt. Hinzukommt, dass jede Intervention in hochpolitisierte Kontexte als parteipolitische Positionierung in die eine oder andere Richtung wahrgenommen wird, was Kommunikationsplattformen vermeiden müssen, um als solche dauerhaft funktionieren zu können.
Ihren Sonderstatus genießen auch „World Leader“ nicht ohne Einschränkung. Das wurde zuletzt in der COVID-19-Krise deutlich, in der die sozialen Netzwerke von Beginn an eine ungewohnt aktive Rolle einnahmen. Die Leugnung wissenschaftlicher Fakten werde nicht akzeptiert, unabhängig davon, wer sich äußere. Man könne nicht einfach ‚Feuer‘ in einem vollen Theater schreien, so Mark Zuckerberg zur Begründung (in Anlehnung an Oliver Wendell Holmes). Dies galt dann auch für den Brasilianischen Präsidenten Bolsonaro.
Trumps Äußerungen im Vorfeld und Nachgang der Präsidentenwahlen waren kaum weniger gefährlich als Panikmache in einem vollbesetzten Theater. Twitters Entscheidung, Trump endgültig zu sperren, ist die Konsequenz einer langen Kette von Eskalationen, an deren Ende der Sturm auf das Kapitol und 5 Tote standen. Twitter beruft sich dabei auf die „Richtlinie zur Verherrlichung von Gewalt“ („Glorification of violence policy“). Über die Verletzung dieser Twitter-Regeln hilft auch ein politischer Sonderstatus ausdrücklich nicht hinweg. Man muss sich zunächst klar machen, dass diese Bestimmungen nicht so sehr darauf zielen, gewaltverherrlichende Äußerungen nachträglich zu sanktionieren, sondern zukünftige Gewalttaten zu verhindern. Es geht um Prävention. Das wirkt sich auf den Fokus der Prüfung aus. Sie kann sich nicht auf den Aussagegehalt der beiden letzten Tweets beschränken, die Trump absetzte, bevor sein Konto gesperrt wurde. Die Frage ist nicht: Was hat Trump da gesagt und es ist es wirklich so schlimm? Sondern: Was bedeuten diese Aussagen für sein zukünftiges Verhalten? Dazu muss man noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren.
Twitter sah sich lange Zeit vor allem mit Trumps Falschbehauptungen und Desinformationsmanövern konfrontiert. Schon im Vorfeld der Wahlen konnten sich die sozialen Netzwerke überlegen, wie man damit umgehen würde, sollte sich Trump vor Ende der Auszählungen zum Sieger erklären, um auf diese Weise Fakten zu schaffen. Twitter löschte nicht, sondern kennzeichnete alles als „disputed“, um die Behauptungen jedenfalls nicht unwidersprochen zu verstärken. Der Präsident reagierte mit der gewohnten Strategie, seine Weltsicht so lange zu wiederholen, bis sie irgendwie verfängt. An der unsubstantiierten Behauptung, die Wahl mit Abstand gewonnen zu haben („landslide“), hielt er gegen jede Evidenz und trotz einer beispiellosen Niederlagenserie vor den staatlichen Gerichten fest. Die Folge ist, dass ein erheblicher Teil der Wählerinnen und Wähler (nicht nur der Republikaner) nach wie vor davon ausgeht, die Wahl sei manipuliert, der Sieg von den Demokraten irgendwie gestohlen worden.
Als er auch nach der Niederlage vor dem Supreme Court in schrillen Tönen den vermeintlichen Wahlbetrug beklagte und seine Anhänger dazu aufrief, doch bitte am 6. Januar nach Washington zu kommen, hätte Twitter schon den Stecker ziehen können. Es mag sein, dass Trumps Verhalten, insbesondere seine Rede bei der Rally auf dem Kapitol, wie es jetzt wohl die Demokraten (und einige republikanische Senatoren) in ihrem Impeachment-Antrag gelten machen, letztendlich auch die Grenzen des amerikanischen Strafrechts überschritten hat. Für die Sperrung des Twitter-Accounts ist das nicht erforderlich. Twitters privates Regelwerk zieht die Grenzen deutlich früher. Die Richtlinien zur Gewaltverherrlichung sanktionieren in der losen Begrifflichkeit, die dem Plattformrecht eigen ist, nicht nur das Anstacheln, sondern auch das „Verherrlichen“, „Loben“ oder „Dulden“ schwerer Gewalt.
Trumps Rhetorik in den Tagen vor der Zusammenkunft des Electoral College legte nahe, dass er sehr robusten Formen des Protestes durchaus würde etwas abgewinnen können. Teile seiner Anhänger rüsteten in den sozialen Medien verbal für den Umsturz. Dass dem Präsidenten diese Dynamik, die sich schon in den Kommentaren unter seinem Twitteraccount Bahn brach, irgendwie entgangen sein könnte, kann man ausschließen. Trump tat nichts, um sie zu unterbinden. Im Gegenteil. Äußerungsrechtlich kann es nicht nur darauf ankommen, was gesagt wird, sondern auch darauf, was nicht gesagt wird. Trumps Anhängerschaft registriert Nuancen und beredtes Schweigen genau. Als der Präsident in einem der TV-Duelle auf die Frage des Moderators, ob er bereit wäre, Gruppen und Milizen mit White-Supremacy Ideologie zu verurteilen, nur ausweichend antwortete und sich zu dem nebulösen Satz „Proud Boys, stand back and stand by“ verstieg, wurde dies von der betreffenden Gruppierung als Aufruf zur Mobilmachung verstanden. Sie waren bei dem Sturm auf das Kapitol dann auch dabei. Ob eine Account-Sperre im Vorfeld des 6. Januar etwas an dem Verlauf der Dinge geändert hätte, ist sehr spekulativ. Die Twitter-Regeln geben das jedenfalls her.
Der Widerspruch zu den Gewaltverherrlichungsregeln wurde nach dem Sturm des Kongresses dann offensichtlich. Als der Präsident seinen Anhängern in einer Videobotschaft bescheinigte, sie seien „very special“ und trotz des Anschlags auf die Demokratie und der Toten seine Erzählung vom Wahlbetrug fortsetzte, konnte das nicht anders als entschuldigende Geste, wenn nicht sogar als verklausulierte Anerkennung verstanden werden. Twitter sperrte den Account das erste Mal temporär und forderte Trump auf, die Tweets zu löschen. Der Präsident erhielt die Kontrolle über seinen Account dann noch einmal zurück. Anschließend twitterte er etwas von „großartigen amerikanischen Patrioten“, die niemals unfair behandelt werden dürften. In einem zweiten Tweet erklärte er knapp, nicht an der Zeremonie zur Amtseinführung am 20. Januar teilnehmen zu wollen. Daraufhin entschied sich Twitter, den Account endgültig zu suspendieren. In der Zwischenzeit hatte schon Facebook die Sperre auf die Zeit bis nach der Vereidigung von Biden ausgeweitet.
Dass sich Twitter die Entscheidung nicht leicht gemacht hat, kann man der Mitteilung vom 8. Januar ablesen. Wenn es nicht so verwaltungsrechtlich klänge, könnte man von einer Prognoseentscheidung sprechen, die das Unternehmen zu treffen hatte. Dabei kommt es nicht nur darauf an, die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eskalation, sondern auch die Größe des daraus resultierenden Schadens abzuschätzen. Obwohl Trump kurz zuvor von einer geordneten Amtsübergabe gesprochen und insgesamt sprachlich abgerüstet hatte, musste Twitter die Situation angesichts der kommunikativen Volten, die der Präsident in der Vergangenheit schon geschlagen hatte, zu unsicher sein. In den letzten Tweets des Präsidenten flackerte schon wieder zu viel von der Gewalt, die zuvor so extrem eskaliert war. Der Hinweis auf den 20. Januar war auch eine dieser ambivalenten Botschaften, die von seiner Anhängerschaft immer eigenwillig interpretiert wird. Angesichts der sehr fragilen politischen Situation, der vorausgegangenen Gewalt, der Bedeutung einer geordneten Machtübergabe für das demokratische Gemeinwesen konnte Twitter nicht anders entscheiden, wenn es die eigenen Regeln ernst nehmen wollte.
Selbstregulierte Meinungsmacht
Eine andere Frage ist, ob solche Entscheidungen auf der Grundlage der von Facebook und Twitter selbstgesetzten Regeln getroffen werden sollten. Rechtlich hindert sie in den USA nichts daran. Wenn einige Republikaner jetzt von Zensur durch Twitter sprechen und sich emphatisch auf das First Amendment berufen, geht das an der bestehenden Rechtslage vorbei. Private Akteure wie Twitter und Facebook sind nach amerikanischem Recht nicht einmal mittelbar an die Grundrechte gebunden. Dieses spezifisch amerikanische Grundrechtsverständnis wird zwar zunehmend in Frage gestellt, doch hat die akademische Diskussion bisher nicht die Gerichte erreicht – und es ist alles andere als klar, dass das jemals passieren wird. Die Gewährleistungen des First Amendment greifen hier also nicht. Man hat unter diesen Voraussetzungen genau so wenig einen Anspruch, seine Meinung auf Twitter zu verbreiten wie in der New York Times oder im Wohnzimmer von Mark Zuckerberg. Zudem gibt Section 230 des Communications Decency Act, einer Norm mit verwickelter Entstehungsgeschichte, die von den Gerichten allmählich zu einem umfassenden Plattform- bzw. Providerprivileg ausgebaut wurde, den sozialen Netzwerken weitestreichende gestalterische Freiheiten bei der Content Moderation.
Diese Entscheidungsmacht der sozialen Medien ist vielen schon lange ein Dorn im Auge – nicht nur dem amerikanischen Präsidenten. Es war allerdings Donald Trump, der im Zorn darüber, dass Twitter und Facebook im Vorfeld der Wahlen seine Thesen zur Zulässigkeit von Briefwahlen einem Faktencheck unterzogen, eine Executive Order unterzeichnete, die einen lose formulierten Reformauftrag enthielt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen in seinem Sinn umzugestalten. Da Section 230 allerdings nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern im Grunde die gesamte Plattformökonomie betrifft, ist das Ganze ein hochkomplexes Unternehmen, das weit über Fragen der politischen Kommunikation hinausweist. Der Ausgang ist noch völlig offen.
In Ermangelung rechtlicher Vorgaben haben die sozialen Netzwerke in der Zwischenzeit ihren Prozess der Selbstkonstitutionalisierung weiter vorangetrieben. Neben der Präzisierung der Gemeinschaftsstandards, die von eher losen und auch diffusen Maßstäben zu konkreten Regelwerken hin entwickelt wurden, hat Facebook in der Zwischenzeit das Oversight Board in Betrieb genommen. Der gerichtsähnliche Spruchkörper soll die häufig als intransparent wahrgenommene Entscheidungspraxis rationalisieren und auf ein neues Niveau heben. So jedenfalls die Vorstellung des Unternehmens. Kritikerinnen sehen darin nur eine vordergründige Marketingmaßnahme. Es spricht nichts dafür, dass der Fall Donald Trump vor diesem Gremium landen wird. Doch sagt es viel über die gegenwärtige Situation aus, dass es überhaupt denkbar ist: Dass sich ein amerikanischer Präsident den Weg in die digitale Öffentlichkeit vor einem „Facebook Supreme Court“ zurück kämpfen muss.
Die Rechtslage in Deutschland (und Europa) unterscheidet sich von der amerikanischen nicht nur durch weitergehende regulatorische Vorgaben für die sozialen Netzwerke, sondern auch durch ein anderes Grundrechtsverständnis. Die verschiedenen Instanzgerichte beurteilen die Anforderungen, die sich für die sozialen Netzwerke aus Art. 5 Abs. 1 GG ergeben, unterschiedlich. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist uneinheitlich, weil es an Entscheidung des BGH fehlt und das BVerfG das Thema nur gestreift hat. Die Reichweite der grundrechtlichen Bindungen hängt entscheidend davon ab, ob die großen sozialen Netzwerke als „öffentliche Foren“ der gesellschaftlichen Kommunikation oder als private Räume, in denen spezifische Gemeinschaftsstandards zur Geltung kommen können, verstanden werden. Die Rechtsprechungslinie, die Facebook und Twitter verpflichtet, Äußerungen und Bilder, die von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, auch dann nicht zu löschen, wenn sie gegen spezifische Gemeinschaftsstandards (etwa „Hassrede“) verstoßen, kann auf die besondere Bedeutung verweisen, die die sozialen Medien für die gesellschaftliche Willensbildung mittlerweile haben. Die Plattformen seien, so insbesondere das OLG München, zu „öffentlichen Marktplätzen“ geworden, zu zunehmend wichtigen Orten der allgemeinen Kommunikation und Interaktion. Dass es sich bei den Anbietern um private Unternehmen handelt, steht dieser Sichtweise nicht prinzipiell entgegen. Das BVerfG hat bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich gemacht, dass die Grundrechtsbindung privater Diensteanbieter „je nach Gewährleistungsgehalt und Fallgestaltung“ der des Staates „nahe oder auch gleich kommen“ kann und dies insbesondere mit Blick auf Akteure formuliert, die „die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen“ (BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06, Rn. 59 – Fraport).
Trump Tweet Archive
Donald Trump hätte das allerdings kaum weitergeholfen. In Deutschland unterläge er als Amtsträger den Anforderungen des öffentlichen Äußerungsrechts. Dazu gehören Prinzipien wie Sachlichkeit und Richtigkeit. Dafür, dass dies auch für den lange vor seiner Amtseinführung eingerichteten @realDonaldTrump-Account gilt, hat er selbst die besten Argumente geliefert. In einer Reihe von Rechtsstreitigkeiten, in denen er wegen des Blockierens von Kritikern verwickelt war, ließen ihm die Gerichte die Argumentation, es handele sich bei @realDonaldTrump anders als beim POTUS-Account um einen lediglich privaten Auftritt, nicht durchgehen. Trump wickelte die amtsbezogene Kommunikation bis hin zu Ministerentlassungen über diesen Account ab. Der Hinweis, man sei „hier privat unterwegs“, konnte da kaum überzeugen.
Was immer noch von Donalds Trumps Amtszeit als Präsident der Vereinigten Staaten übrig bleiben wird, seine Tweets werden bleiben. Auch wenn für @realdonaldtrump der Vorhang jetzt gefallen zu sein scheint, sind Trumps Tweets nicht verschwunden. Im Trump Tweet Archive stehen sie der Nachwelt zur Verfügung und bieten reichlich Anschauungsmaterial. Nicht nur äußerungsrechtlich sind da noch einige Fragen offen.