17 August 2024

Schrankenlos

Die liberale Demokratie jagt ihre Feinde so wie der Hund seinen eigenen Schwanz. Je mehr sie den politischen Raum mit verfassungsrechtlichen Institutionen, Bindungen und Kontrollverfahren voll stellt, desto mehr Widerstand löst sie damit aus. Und je mehr Widerstand sie auslöst und je mehr ihre ganzen Institutionen nun ihrerseits in politische Bedrängnis geraten, desto dringlicher erscheint es ihr, diese Kontrolle immer noch weiter auszubauen und die Schrauben immer noch weiter anzuziehen und sich immer weitere und mächtigere Institutionen mit immer noch weitreichenderen Sanktionsmöglichkeiten auszudenken. Was natürlich umso mehr Widerstand erzeugt, und damit umso mehr Kontrolle. So steigern sich verfassungsrechtliche Aktion und populistische Reaktion zu einem atemlosen Tanz um eine leere Mitte herum, der gar nicht anders enden kann als in Erschöpfung und Zusammenbruch, sofern es nicht gelingt, diese verschwendete Energie rechtzeitig auf ein produktiveres Ziel umzulenken, sprich: dem Hund einen Knochen hinzuhalten, auf dass er sich darauf besinnt, was in seinem eigentlichen (ökonomischen) Interesse ist.

Dies ist die Deutung, die der an der Universität Siegen lehrende Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem neuen Buch „Unter Beobachtung“ der aktuellen Krise der liberalen Demokratie angedeihen lässt: Wenn sie nach deren Ursachen und nach möglichen Auswegen suche, müsse sie bloß in den Spiegel schauen. Demokratie, so Manow, sei mitnichten so notwendig liberal, wie sich der politikwissenschaftliche und politische Mainstream unserer Zeit selbst glauben mache. Sie sich nur eingehegt und kontrolliert von Verfassungsrecht und Verfassungsgerichten vorstellen zu können, sei ein relativ neues und interessengebundenes Phänomen. Wenn die Politik nun gegen diese Einhegung und Kontrolle aufbegehre, so Manow, dann habe sie das niemand anderem zuzuschreiben als sich selbst.

Beißender Sarkasmus

Zu einem globalen Standard ist die liberale Demokratie erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts geworden, in der Epoche der Demokratisierung in Ostmitteleuropa, Lateinamerika und anderenorts. Erst im Zuge dieses Prozesses wurde die Verfassungs-Verrechtlichung der Demokratie zu dem Universalmaßstab erfolgreicher Demokratisierung, den heute viele für selbstverständlich halten. Nach dem Kollaps der kommunistischen und autoritären Diktaturen erschien ein robustes und durchsetzungsfähiges Rechtssystem, bewacht und ausgestaltet von selbst- und machtbewussten Verfassungsgerichten, als notwendiges Mittel, um die Transformation zu ermöglichen, zu gestalten und auf Dauer zu stellen. Außerdem sollte den Parteigängern der vormaligen Autokraten so das Wagnis, sich überstimmen zu lassen, überschaubar scheinen.

Der Preis dafür war, dass die Liberalisierung als politisches Programm damit politisch kaum mehr herausforderbar war und diejenigen, die dieses Programm von der Richterbank herab maßgeblich durchsetzten, als politische Akteure nicht mehr benenn- und bekämpfbar waren, ohne die Institutionen der Verfassung selbst zum politischen Gegner zu erklären und zu bekämpfen. Mit anderen Worten: durch autoritären Populismus.

Dieser Zusammenhang, so Manow, gerate aus dem Blick, wenn man die liberale Demokratie zu einem zeitlos und über alle politischen Gegensätze hinweg gültigen „Wert“ verklärt, zu einem idealen Ziel, das man nie ganz erreicht, dem man sich aber annähert, wenn man nur fleißig die richtigen Institutionen installiert. Der stumpfen Checklisten-Metrik, mittels derer Teile der Politikwissenschaft und die von ihr angeleitete Politik glauben, messen zu können, welche Fort- und Rückschritte alle möglichen unter Beobachtung gestellten Staaten auf dem Weg zu diesem vermeintlich aller politischen Konflikte und aller historischen Besonderheiten enthobenen liberal-demokratischen Ideal verzeichnen, widmet Manow die stärksten Passagen dieses Buches. Die liberale Demokratie ist kein idealer Wert. Sie ist nicht das, was eintritt, wenn sich nur endlich Vernunft und Redlichkeit durchsetzen, als End- und Ruhezustand einer wohlgeordneten politikbefreiten Gesellschaft. Mit diesem technokratischen Lehnstuhltraum räumt Manow voll beißendem Sarkasmus auf.

Wenn man sich mit Manow den autoritären Populismus als „Gespenst“ der liberalen Demokratie erklärt, was folgt dann daraus für den Umgang mit ihm? Erledigt sich der ganze Spuk von selbst, sobald die Demokratie nur endlich aufhört, notwendig immer auch liberal sein zu wollen? Weniger Verfassungsrecht und weniger Verfassungsgerichte, mehr Mehrheit und mehr Politik, und schon lassen wir mitsamt der liberalen Demokratie auch ihre aktuelle Krise hinter uns?

Demokratie, so Adam Przeworskis prägnante Definition, heißt, dass Parteien Wahlen verlieren. Mehrheiten werden zu Minderheiten und umgekehrt, und solange das so ist, hat niemand Interesse daran, seine Mehrheitsmacht zu Dingen missbrauchen, die man sich selbst als Minderheit nicht gern zufügen lassen würde. Man lässt sich also überstimmen. Man muss sich nicht dauernd in allem einig werden, ob aus Einsicht oder unter Zwang. Man kann dagegen bleiben. Verschieden bleiben. Frei bleiben. Um das zu leisten, muss eine Demokratie nicht notwendig so liberal sein, wie wir das heutzutage gerne glauben.

Die Bereitschaft, Wahlen zu verlieren, fehlt den autoritär-populistischen Feinden der liberalen Demokratie völlig

Nur zählt es, und das kommt interessanterweise in Manows Analyse so gut wie überhaupt nicht vor, zu den Kennzeichen der autoritär-populistischen Feinde der liberalen Demokratie, dass ihnen genau dies in bemerkenswertem Umfang abgeht: die Bereitschaft, Wahlen zu verlieren. „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein“, sagte Viktor Orbán, nachdem er 2002 nach seiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident abgewählt wurde. Donald Trump ließ lieber das Kapitol stürmen als zu akzeptieren, dass die Präsidentschaftswahl in den USA 2020 ein anderes Ergebnis produziert hatte als die Affirmation seiner Macht, und Jair Bolsonaro 2023 in Brasilia ebenso.

Die Verfahren und Institutionen der Demokratie sind aus Sicht der autoritären Populisten dazu da, dem „wahren Volk“, das sie zu repräsentieren vorgeben, einen Spiegel hinzustellen. Die Demokratie hat ihm ein Abbild seiner selbst zu liefern, in dem es sich erkennen, von Minderheiten, Linken und anderem Kroppzeug unterscheiden und seiner Identität versichern kann. Wenn sie dieses identitäre Spiegelbild nicht liefert, dann stimmt mit ihr etwas nicht, und umso lauter fordern die autoritären Populisten die Macht für sich, die Demokratie zu reparieren, auf sie wieder liefert, was sie liefern soll.

Solange sie nicht an der Macht sind, nutzen sie ihre Oppositionsrolle und -rechte, um Entscheidungen zu blockieren, Verfahren zum Entgleisen zu bringen, Institutionen zu zerstören und so ihre Behauptung, dass mit dieser Demokratie etwas nicht stimmt, nach Kräften plausibel zu machen. Sobald sie an die Macht gelangen, wird diese eingesetzt, um die Demokratie zu einem fugenlosen identitären Spiegelkabinett umzubauen, das zuverlässig nur noch ihr eigenes Recht zur Herrschaft reflektiert. Wer immer in ihrem Land noch Wahlen verliert, sie sind es jedenfalls nicht mehr. Das ist in Ungarn seit 2010 Realität, in Italien passiert es gerade, und in den USA wird es womöglich schon in wenigen Monaten so weit sein.

Das Instrument dieser Strategie ist das Verfassungsrecht: Mit den Mitteln des Rechts wird dieses identitäre Spiegelkabinett errichtet und perfektioniert. Das macht es notwendig, die Institutionen, die Recht setzen und sprechen, unter Kontrolle zu bringen: die Gerichte, die supra- und internationalen Bindungen, die Verfassungsjustiz. Wenn der autoritäre Populismus mit diesen Institutionen in Konflikt gerät, dann nicht deshalb, weil sie die Spielräume für majoritäre Politik eng machen. Sondern, weil sie seiner autoritären Machtergreifung im Wege stehen. Es geht in diesem Konflikt nicht um die liberale Demokratie. Es geht um die Demokratie.

Das fehlt in Manows Analyse. Teilweise hat man den Eindruck, er weiche der Erkenntnis dieser Zusammenhänge aktiv aus. So etwa, wenn er Kim Lane Scheppeles Forschung zu Viktor Orbáns juristisch-technischer Optimierung der gesamten ungarischen Verfassungsordnung als Instrument seines Machterhalts als unwissenschaftliche „Verschwörungstheorien zweiter Ordnung“ herabzuwürdigen versucht – als ob es dabei darum ginge, Orbáns finstere Motive aufzudecken statt seiner Techniken. Mit seinem Liberal-Illiberal-Aktions-Reaktions-Schema macht Manow stattdessen die Institutionen des liberalen Rechtsstaats, die für die Resilienz der Demokratie gegenüber der autoritär-populistischen Strategie entscheidend sind, zu einer Ursache und damit zu einem Teil des autoritär-populistischen Problems. Das trägt nur zu dessen Erklärung ziemlich wenig bei – und zu dessen Lösung überhaupt nichts.

Der Text ist am 12. August 2024 zuerst in der Süddeutschen Zeitung erschienen. 


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Schrankenlos, VerfBlog, 2024/8/17, https://verfassungsblog.de/manow-unter-beobachtung-rezension/, DOI: 10.59704/dad1c137729b67e8.

2 Comments

  1. Weichtier Sat 17 Aug 2024 at 12:30 - Reply

    Das Buch von Herrn Manow habe ich nicht gelesen. Nach dem Beitrag von M.S. hätte ich aber als Bezeichnung statt liberaler Demokratie eher verfassungsrechtlich zentrierte Demokratie erwartet. Die Resilienz einer solchen Demokratie erinnert mich an den Widerstandsgrad bei Tresoren. Steht ausreichend Zeit (ausreichende Anzahl von Legislaturperioden) und das richtige Werkzeug (ausreichende Mehrheiten bei Wahlen) zur Verfügung lässt sich jeder Tresor gewaltsam öffnen (Resilienzbemühung überwinden). Mitentscheidend für die zur Verfügung stehende Zeit dürften die Knochen sein, die dem Hund (Wähler) hingehalten werden. M.S.:“ So steigern sich verfassungsrechtliche Aktion und populistische Reaktion zu einem atemlosen Tanz um eine leere Mitte herum, der gar nicht anders enden kann als in Erschöpfung und Zusammenbruch, sofern es nicht gelingt, diese verschwendete Energie rechtzeitig auf ein produktiveres Ziel umzulenken, sprich: dem Hund einen Knochen hinzuhalten, auf dass er sich darauf besinnt, was in seinem eigentlichen (ökonomischen) Interesse ist.“ Und beim „produktiven Ziel“ (den Kochen) schneidet Orban gar nicht so desaströs ab: die Arbeitslosenquote liegt unter 5% und das Wirtschaftswachstum zwischen 2010 und 2022 liegt auf dem Niveau von Slowenien, Slowakei, Polen und Tschechien und irgendetwas von dem Wirtschaftswachstum wird auch bei den Wählern von Herrn Orban ankommen. Da wird Herr Orban vielleicht ganz zuversichtlich den nächsten unfairen, aber wohl immer noch freien Wahlen entgegenblicken können. Die Knochen dürften nicht nur in Ungarn, sondern auch in der übrigen EU für die Wahlergebnisse bedeutsam sein.

  2. PTM Fri 23 Aug 2024 at 16:40 - Reply

    Sehr geehrter Herr Steinbeiss,

    Vorab: Vom Farbschema und dem Schreibstil her, müsste dies nicht zum “Verfassungseditorial” gehören? Es ist aber in der Kategorie “Verfassungsblog” zu finden.
    Zum eigentlichen Artikel: Die liberale Demokratie definiert sich meines Erachtens weniger über die Kontrolle neuer Gesetze, sondern viel mehr über den Abgleich mit den Bestehenden. Der Unterschied zwischen diesen Begriffen liegt darin, dass das Verfassungsgericht nicht nach Gutdünken über beschlossene oder zu beschließende Gesetze entscheidet, sondern seine Funktion ist (unter anderem), die Kompatibilität neuer Gesetze mit bestehenden Regeln zu prüfen um innere Widersprüche zu vermeiden und auf diese hinzuweisen.
    Schwerer wiegt allerdings der implizite Vorwurf, die Institutionen wären dazu da, den Widerstand der Populisten zu brechen was ihnen die Neutralität abspricht. Institutionen sind, wie gesagt, Prüforgane die bei Bedarf Bedenken äußern ohne konkrete Lösungen anzuordnen. Sie nicht als integralen Bestandteil eines funktionierenden Staates zu begreifen, sondern als persönliches Hindernis ist per se antidemokratisch, weil die Kritik nicht an deren Fehlern aufbaut, sondern an der Kontrollfunktion als solche.

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