24 September 2014

Militäraktion gegen ISIS: ein Präzedenzfall für eine Aufweichung des völkerrechtlichen Gewaltverbots?

Nun also doch. Nachdem Optionen einer militärischen Intervention in Syrien lange Zeit kontrovers diskutiert wurden, ein Einschreiten zuletzt aber wenig wahrscheinlich erschien, flogen US-amerikanische Streitkräfte unter Beteiligung einiger arabischer Staaten in der Nacht zum 23. September 2014 erstmals Luftangriffe in Syrien. Doch anders als man noch vor wenigen Monaten vermutet hätte, richteten sich die Angriffe nicht gegen das Regime von Baschar al-Assad, sondern gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Und anders als im hypothetischen Fall eines Einschreitens gegen das syrische Regime zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen bleibt im nun tatsächlich eingetretenen Fall des militärischen Vorgehens gegen den IS der völkerrechtliche Aufschrei bislang aus. Ein Blick in die US-amerikanische Zeitungs- und Blog-Landschaft zeigt zwar kontroverse Diskussionen – diese beziehen sich jedoch nahezu ausschließlich auf die verfassungsrechtliche, völkerrechtlich irrelevante Frage, ob ein militärisches Einschreiten der USA vom Präsidenten allein angeordnet werden kann oder ob es einer speziellen Ermächtigung des Kongress bedarf. Diesseits der Atlantiks: weitgehendes Schweigen.

Erklären lässt sich dieses Stillschweigen zum Teil mit der ungewöhnlich weitreichenden politischen Zustimmung zu einem Vorgehen gegen den IS: Westliche Staaten sehen im IS ebenso eine Bedrohung wie die arabische Welt, der Iran und auch Syrien selbst. Und zwar sowohl das Regime von Baschar al-Assad als auch die syrische Opposition. Doch die weitgehende Einigkeit oder zumindest die Abwesenheit ausdrücklichen Protests darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die völkerrechtliche Grundlage des militärischen Einsatzes in Syrien hochproblematisch ist. Insbesondere da momentan weder absehbar ist, ob dieser Konsens anhalten wird, noch wie sich der militärische Einsatz weiter entwickeln wird.

Kein Sicherheitsratsmandat und keine Zustimmung Syriens

Anders als der Einsatz gegen den IS im Irak, der von der ausdrücklichen Zustimmung der irakischen Regierung gedeckt ist, ist die völkerrechtliche Zulässigkeit des Vorgehens in Syrien alles andere als klar: Als grenzüberschreitende Anwendung militärischer Gewalt ist der Einsatz grundsätzlich völkerrechtlich untersagt (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) und bedarf einer Rechtfertigung. Der UN-Sicherheitsrat hat das Vorgehen indes nicht autorisiert. Angesichts der Haltung Russlands und Chinas ist auch kaum verwunderlich, dass die USA bislang nicht auf eine Resolution des Sicherheitsrates hingewirkt haben.

Und auch eine Zustimmung Syriens, die das militärische Vorgehen auf syrischem Staatsgebiet völkerrechtlich rechtfertigen könnte, liegt nicht vor. Dass die syrische Opposition den militärischen Einsatz begrüßt, ist völkerrechtlich irrelevant: Auch wenn die Legitimität des syrischen Regimes angesichts gravierender Menschenrechtsverletzungen bestritten wird, stellt diese nach wie vor die amtierende Regierung des Landes dar. Maßgeblich für die völkerrechtliche Zulässigkeit militärischen Vorgehens ist daher die Zustimmung der Regierung Assad. Der US-amerikanische Präsident hat indes jegliche Kooperation mit dem syrischen Regime eindeutig ausgeschlossen. Die USA haben die syrische Regierung vor Beginn der Angriffe lediglich informiert. Und auch wenn die syrische Regierung Medienberichten zufolge grundsätzlich ein internationales Vorgehen gegen den IS begrüßt, so ist fraglich, ob darin eine ausdrückliche Zustimmung gesehen werden kann. Insbesondere da die syrische Regierung betont, dass ein Vorgehen gegen den IS in Syrien in Absprache mit der syrischen Regierung erfolgen müsse und die syrische Souveränität ebenso wahren müsse wie das Völkerrecht.

Das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung

Damit bleibt als Grundlage für den militärischen Einsatz in Syrien nur das in Art. 51 UN-Charta verankerte Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Und in der Tat: Nachdem Präsident Barack Obama das Vorgehen gegen den IS bereits mehrfach mit dem Schutz des Iraks, der USA sowie anderer Staaten begründet hat, beruft sich die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen Samantha Power in einem Brief vom 23. September 2014 an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon nunmehr ausdrücklich auf das Selbstverteidigungsrecht:

„(…) ISIL and other terrorist groups in Syria are a threat not only to Iraq, but also to many other counties, including the United States and our partners in the region and beyond. States must be able to defend themselves, in accordance with the inherent right of individual and collective self-defense, as reflected in Article 51 of the UN Charter, when, as is the case here, the government of the State where the threat is located is unwilling or unable to prevent the use of its territory for such attacks. The Syrian regime has shown that it cannot and will not confront these safe-havens effectively itself. Accordingly, the United States has initiated necessary and proportionate military actions in Syria in order to eliminate the ongoing ISIL threat to Iraq, including by protecting Iraqi citizens from further attacks and by enabling Iraqi forces to regain control of Iraq’s borders. (…)“

Angesichts der bislang eher vagen Drohungen gegenüber den USA und dem Westen scheidet eine Rechtfertigung durch das Recht zur eigenen Selbstverteidigung aus. In Frage kommt allein eine Berufung auf das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung, also Selbstverteidigung zugunsten des Iraks, der ein Einschreiten nicht nur auf irakischem Territorium, sondern auch in Syrien ausdrücklich gefordert hat. Der Militäreinsatz wäre demnach gerechtfertigt zum Schutz des Iraks und der irakischen Bevölkerung vor Gewaltakten, die der IS vom Staatsgebiet Syriens aus verübt oder vorbereitet.

Diese Argumentation wirft indes mehr Fragen auf als teilweise angenommen wird und steht keinesfalls auf festem völkerrechtlichem Fundament. Sie offenbart vielmehr die generellen Unsicherheiten, die im Umgang mit dem Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure bestehen: Art. 51 der UN-Charta setzt einen „bewaffneten Angriff“ voraus, wobei man zum Zeitpunkt der Entstehung der UN-Charta allein Staaten als potenzielle Aggressoren im Blick hatte. Soweit die Angriffe, wie im vorliegenden Fall, von einer terroristischen Vereinigung wie dem IS ausgehen, die sich unmittelbar keinem Staat zurechnen lässt, stellt sich die Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht auch gegen solche nicht-staatlichen Akteure Anwendung findet. Diese Frage hat die Staatengemeinschaft ebenso wie die Völkerrechtswissenschaft insbesondere seit den Anschlägen vom 11. September intensiv beschäftigt, ohne dass sich bislang ein fassbarer Konsens herauskristallisiert hat. Denn selbst wenn man angesichts der offenen Formulierung des Art. 51 UN-Charta, dessen Wortlaut keine Einschränkung auf staatliches Handeln erkennen lässt, auch Angriffe nicht-staatlicher, terroristischer Vereinigungen in den Anwendungsbereich des Art. 51 UN-Charta einbezieht, stellt sich die Folgefrage, ob und unter welchen Voraussetzungen sich ein militärisches Vorgehen gegen derartige Akteure auf fremdem Staatsgebiet rechtfertigen lässt. Die Frage der Anwendbarkeit des Art. 51 UN-Charta muss von der Frage der Rechtfertigung eines Eingriffs in die territoriale Souveränität eines fremden Staates unterschieden werden.

Die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs lässt insofern ein eher restriktives Verständnis erkennen. So hat der Gerichtshof sowohl in seinem Gutachten zu den Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory (Abs.-Nr. 139) als auch in seiner Entscheidung im Fall Armed Activities on the Territory of the Congo (Abs.-Nr. 146, offener aber Abs.-Nr. 147) zu erkennen gegeben, dass er ein militärisches Vorgehen gegen einen nicht-staatlichen Akteur auf dem Territorium eines fremden Staates nur dann für gerechtfertigt hält, wenn sich dieser Staat das Handeln des nicht-staatlichen Akteurs zurechnen lassen muss. Nun lässt sich diskutieren, welche Anforderungen an eine solche Zurechnung zu knüpfen sind: Findet immer noch der klassische, vom Internationalen Gerichtshof in der Nicaragua-Entscheidung (Abs.-Nr. 115) formulierte Ansatz Anwendung, demzufolge sich ein Staat das Handeln nicht-staatlicher Akteure nur dann zurechnen lassen muss, wenn diese unter seiner „effective control“ stehen? Oder hat die Staatenpraxis sich insofern gewandelt, sodass etwa das Bereitstellen von „safe-havens“ für terroristische Aktivitäten eine Zurechnung begründet?

Besonders weitgehend ist insofern ein insbesondere im US-amerikanischen Diskurs verbreiteter Ansatz, der sowohl auf Regierungsebene als auch von prominenten US-amerikanischen Völkerrechtlern vertreten wird. Danach muss ein Staat schon dann militärische Maßnahmen gegen terroristische Gruppen, die von seinem Territorium aus agieren, hinnehmen, wenn er sich als „unwilling or unable“ zeigt, diese zu bekämpfen und grenzüberschreitende Übergriffe zu verhindern. Wie auch immer man zu diesem Ansatz steht: Hinreichenden Rückhalt in der Staatenpraxis hat er bislang nicht gefunden. Umso bemerkenswerter ist es, wenn die US-amerikanische UN-Botschafterin den Militäreinsatz in Syrien nun explizit damit begründet, dass die syrische Regierung „unwilling or unable“ sei, gegen den IS vorzugehen. Ob die USA tatsächlich davon ausgehen, dass es sich dabei bereits um eine völkerrechtlich anerkannte Doktrin handelt, lässt sich nur schwer sagen. Einerseits könnte die Formulierung „States must be able to defend themselves“ in Richtung eines politisch für notwendig befundenen Wandels im Verständnis des Selbstverteidigungsrechts gedeutet werden. Andererseits betonen die USA – wenig überraschend –, dass sie ihr Vorgehen für mit dem Völkerrecht vereinbar erachten.

Der Einsatz in Syrien als Präzedenzfall?

In Ermangelung einer entsprechend gefestigten Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung kann der „unwilling or unable“-Standard nicht als allgemein akzeptierter Maßstab für die Auslegung des Selbstverteidigungsrechts gelten. Die Militäraktion gegen den IS in Syrien steht insofern auf wackligen völkerrechtlichen Füßen. Sie könnte indes einen Präzedenzfall für eine entsprechende Weiterentwicklung des Völkerrechts darstellen, wenn der Einsatz auf breite Zustimmung der internationalen Gemeinschaft stößt. Von wesentlicher Bedeutung wird insofern die Reaktion anderer Staaten sein: Während etwa Großbritannien bereits Zustimmung signalisiert hat, haben insbesondere Russland aber etwa auch der Iran Zweifel an der Völkerrechtskonformität des Einsatzes vorgebracht. Frankreich hat bemerkenswerterweise angekündigt, sich an militärischen Maßnahmen im Irak beteiligen zu wollen, nicht aber in Syrien, was der französische Präsident unter anderem mit „rechtlichen Problemen“ begründet hat.

Angesichts des breiten globalen Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit eines Vorgehens gegen den IS und vor dem Hintergrund des bislang allenfalls verhaltenen Widerstands Syriens gegen den Einsatz wird es indes schwer sein, generelle politische Gutheißungen des Einsatzes von der Billigung und Akzeptanz der von den USA vorgebrachten völkerrechtlichen Rechtfertigung zu unterscheiden. Diese Schwierigkeit zeigt sich bereits in einer ersten Stellungnahme des UN-Generalsekretärs vom 23. September 2014. Nachdem er hervorhebt, dass sämtliche Maßnahmen in Syrien im Einklang mit der UN-Charta erfolgen müssen, führt er aus:

„I am aware that today’s strikes were not carried out at the direct request of the Syrian Government, but I note that the Government was informed beforehand. I also note that the strikes took place in areas no longer under the effective control of that Government. I think it is undeniable – and the subject of broad international consensus – that these extremist groups pose an immediate threat to international peace and security.“

Diese Aussage Ban Ki-moons spiegelt die völkerrechtliche Ambivalenz des Einsatzes in Syrien und des zu erwartenden Echos in der Staatenwelt in vollem Umfang wider: Einerseits besteht weitgehende Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit eines Vorgehens gegen den IS, und schon aus politischen Gründen werden die wenigsten Staaten allzu harsche Kritik am Einsatz der USA üben. Andererseits ist die völkerrechtliche Grundlage problematisch, und zahlreiche Staaten stehen dem „unwilling or unable“-Standard höchst kritisch gegenüber und lehnen ihn ab. Auch der UN-Generalsekretär lässt nicht klar erkennen, ob er den Einsatz für völkerrechtskonform hält, er verweist aber darauf, dass die syrische Regierung immerhin informiert wurde, dass die betreffende Region keiner effektiven Kontrolle der Regierung unterliegt und dass der IS eine unmittelbare Gefahr für den Frieden und die internationale Sicherheit darstellt – wenngleich gerade der letzte Satz sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht bezieht, sondern auf die Voraussetzungen für ein Einschreiten des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta anspielt.

Die Zukunft des Gewaltverbots

Insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges lässt sich die Praxis einzelner Staaten ausmachen, ihr militärisches Vorgehen überhaupt nicht auf eine explizite völkerrechtliche Grundlage zu stützen oder mit konfusen oder wenig plausiblen völkerrechtlichen Argumenten zu begründen. Diese Praxis erschwert nicht nur die völkerrechtliche Bewertung des konkreten Einzelfalls, sie trägt zudem dazu bei, dass die rechtlichen Bedingungen legitimer Gewaltanwendung zunehmend unklar werden und Militäreinsätze nicht anhand der formalen Vorgaben der Charta der Vereinten Nationen beurteilt werden, sondern auf der Grundlage politisch und moralisch aufgeladener Kriterien sowie eines diffusen Sammelsuriums mehr oder weniger plausibler und anerkannter völkerrechtlicher Argumentationsfragmente.

Demgegenüber erfolgt der Einsatz der USA gegen den IS in Syrien nunmehr auf der Grundlage einer eindeutigen völkerrechtlichen Position, wobei allerdings zweifelhaft ist, ob diese Position das geltende Recht zutreffend widerspiegelt. Ob sich das Völkerrecht in die von den USA propagierte Richtung weiterentwickeln wird, wird nicht unmaßgeblich von der Reaktion der Staatenwelt auf den Einsatz in Syrien beeinflusst werden. Angesichts des erheblichen Missbrauchspotenzials einer entsprechenden Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts ist indes Vorsicht geboten und Zurückhaltung angezeigt. Eine Weiterentwicklung kann in jedem Fall nur auf der Grundlage breiter Zustimmung der internationalen Gemeinschaft angenommen werden. Im Rahmen der völkerrechtlichen Aufarbeitung des Einsatzes wird dabei genau zu differenzieren sein, inwiefern Staaten ein Vorgehen gegen den IS generell billigen und inwiefern ihre Stellungnahmen eine Zustimmung zur völkerrechtlichen Position der USA darstellen.