„Möge diesem Gesetz kein langes Leben beschieden sein!“: das Kinderehengesetz vor dem BVerfG
„Möge diesem Gesetz kein langes Leben beschieden sein!“ – so endet der besonders verzweifelte Beitrag von Dagmar Coester-Waltjen zum am 22.07.2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen 1). Nach der Entscheidung des BGH vom 14.12.2018, das Gesetz nach Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen, darf man hoffen, dass es nun wirklich für verfassungswidrig erklärt werden wird – zumindest in seinen schlimmsten Teilen.
Zum Hintergrund und zum betroffenen Inhalt des Gesetzes
Um die lebhaften Proteste gegen das Gesetz nicht falsch zu verstehen, muss man sich zunächst klar machen, dass es selbstverständlich niemanden darum geht, Kinderehen zu fördern. Schon nach früherer Rechtslage waren aber in Deutschland ausländische Ehen zwischen Minderjährigen nur dann anzuerkennen, wenn sie nach dem auf sie anwendbaren Recht ordnungsgemäß eingegangen worden waren und nicht gegen das Wohl eines minderjährigen Ehegatten verstießen (näher dazu sogleich). Erst recht konnten und können all die Ehen, in denen Minderjährige und teils sogar sehr junge Kinder jenseits rechtlicher Vorgaben „verheiratet“ werden, keinerlei Wirksamkeit in Deutschland entfalten. Und schließlich sind selbstverständlich nach deutschem Recht alle Zwangsehen nichtig oder aufhebbar.
Das Kinderehegesetz betrifft in seinem besonders streitigen Kernbereich jedoch die Fälle, in denen Minderjährige im Ausland freiwillig und unter Einhaltung der Vorgaben des dort geltenden Rechts geheiratet haben und im Folgenden nach Deutschland gekommen sind. Dabei wird differenziert zwischen solchen Ehen, bei deren Eingehung die Eheschließenden das 16. Lebensjahr vollendet hatten (Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB), und solchen, bei denen ein oder beide Ehegatten noch jünger waren (Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB). In beiden Fällen soll zwar eine Fortführung der Ehe in Deutschland verhindert werden. Doch muss im ersteren Fall die Ehe erst durch das Gericht aufgehoben werden, wovon in (extremen) Härtefällen eine Ausnahme gemacht werden kann, während im zweiten Fall, also bei den unter 16-Jährigen, jede Ehe immer unmittelbar als nichtig angesehen wird. Härten können daher in keinem Fall berücksichtigt werden. Schon wenn man das so abstrakt betrachtet, kann man es kaum glauben. In der Realität vermag das Gesetz erhebliches Leid für die betroffenen jungen Menschen zu verursachen.
Der vom BGH zu entscheidende Fall
Der Entscheidung des BGH lag ein Fall zugrunde, in dem die Probleme klar zu Tage treten und auf den die Gesetzesbegründung bei ihrer Zielsetzung ausdrücklich Bezug genommen hat 2): In dem bereits 2016 noch nach alter Rechtslage vom OLG Bamberg in zweiter Instanz entschiedenen Fall 3) hatten ein 14-jähriges Mädchen und ein 21-jähriger Mann in Syrien – in nicht ordnungsgemäßer, aber doch wirksamer Form – geheiratet, bevor sie die Flucht nach Deutschland antraten. In Deutschland wurden sie voneinander getrennt und die Umgangszeiten wurden eng reglementiert. Das OLG Bamberg war, unter Berücksichtigung des Kindeswohls und des Verhältnisses der Eheleute zueinander, einen mutigen Weg gegangen, und hatte die Ehe – was das alte Recht noch zuließ – als wirksam anerkannt, obwohl das Mädchen weiterhin erst 15 Jahre alt war. Das einander laut der Entscheidung eng verbundene, sich liebende Paar durfte wieder zusammen leben. Der BGH korrigiert das OLG in Hinblick auf die familienrechtliche Einbettung, bestätigt aber die Richtigkeit der Überlegungen zur Wirksamkeit der Ehe. Doch konnte er aufgrund des neuen Gesetzes die Entscheidung, die das Wohl des Kindes im Einzelfall berücksichtigte, nicht aufrechterhalten.
Wesentliche Grundsätze des IPR
Das internationale Privatrecht (IPR) hat die Funktion, für die Rechtsverhältnisse der Menschen, die sich grenzüberschreitend bewegen, eine möglichst passende Rechtsordnung zur Anwendung zu bestimmen. Dies geschieht im Grundsatz wertblind und folgt allgemeinen Regeln, die zum einen danach streben, die engste Verbindung jedes Rechtsverhältnisses zu bestimmen, zum anderen aber, gerade für Familienverhältnisse wie die Ehe, auch berechtigtes Vertrauen schützen und Stabilität gewähren müssen. Würden Ehen, Ehescheidungen oder auch Eltern-Kind-Verhältnisse an der Grenze ihre Wirksamkeit verlieren, wäre internationale Mobilität nicht mehr möglich.
Die rote Linie für die Anwendung ausländischen Rechts bildet der ordre public, also die wesentlichen Grundsätze der eigenen Rechtsordnung – wobei die Grundrechte den zentralen Kern ausmachen. Zum ordre public gehört ganz sicher nicht der Grundsatz, dass 17-jährige Personen nicht heiraten dürfen. Vielmehr war das bis 2017 auch in Deutschland erlaubt. Bei 14-Jährigen mag man zwar zweifeln (zum Streitstand BGH Rdnr. 44). Doch tritt hier ein weiterer Aspekt hinzu: Der Vorbehalt wirkt nämlich stets nur als Ergebniskontrolle. Er greift also nur durch, wenn das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts in untragbarem Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung stünde. Bei jeder ein Kind betreffenden Entscheidung muss in Deutschland aber das Wohl des Kindes im individuellen Fall zentral berücksichtigt werden. Der BGH bindet diesen Grundsatz, wie gleich noch anzusprechen sein wird, auch grundrechtlich an. Die Notwendigkeit der Beachtung des Kindeswohls führte bei Minderjährigenehen bisher dazu, dass sie – wie in der Entscheidung des OLG Bamberg – dann nicht für nichtig erklärt wurden, wenn gerade die Aufrechterhaltung der Ehe dem Wohl des Kindes diente. Insgesamt ist der ordre-public-Vorbehalt mit seiner Offenheit für die Besonderheiten jeden Einzelfalls ein ideales Instrument zum Umgang mit Minderjährigenehen.
Kindeswohl
Wie nun schon deutlich wurde und auch der BGH (Rdnr. 40) betont, gehört es zu den Grundsätzen des deutschen Familienrechts, dass das individuelle Kindeswohl von entscheidender Bedeutung ist. Das schließt zwar nicht generell aus, dass im Gesetz feste Altersgrenzen bestimmt werden. Doch dürfen diese Altersgrenzen selbstverständlich nicht so eingesetzt werden, dass jüngere Kinder dadurch Nachteile erleiden. Genau dies geschieht aber durch das Kinderehegesetz, wenn es die Ehen von Minderjährigen unter 16 Jahren für ausnahmslos nichtig erklärt (anders nur in den Fällen des Art. 229 § 44 IV EGBGB). Denn die Nichtigkeit der Ehe bringt rechtliche Nachteile mit sich. Wirtschaftlich scheidet insbesondere der Unterhaltsanspruch aus – und persönlich mögen die Betroffenen es als negativ empfinden, dass ihr sexuelles Verhältnis und ein eventuell bereits geborenes Kind nun als außerehelich anzusehen sind.
Es sei darauf hingewiesen, dass das Selbstentscheidungsrecht von Minderjährigen seit Jahren intensiv diskutiert wird und dass man es bei vielen wichtigen familienrechtlichen Gegenständen schon deutlich vor Eintritt der Volljährigkeit gewährt. So ist es bei etwa Einwilligungen in Operationen, bei dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung und bei religiösen Entscheidungen 4).
EU-Freizügigkeit
Es ist offensichtlich, dass das Gesetz gegen die Freizügigkeit nach Art. 21, 45 AEUV verstößt. Denn in vielen EU-Mitgliedstaaten können Minderjährige, unter unterschiedlichen Voraussetzungen, wirksam die Ehe schließen. Das OLG Oldenburg 5) hat für ein rumänisches Paar deshalb eine die Aufhebung ausschließende außergewöhnliche Härte im Sinne des § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB angenommen. Abgesehen davon, dass die Norm damit weit gedehnt wird, muss bezweifelt werden, ob das als Ausweg reicht.
Grundgesetz
Schließlich verletzt das Gesetz, wie der BGH richtig ausführt, verschiedene Grundrechte der Ehegatten. Spannend und überzeugend ist insbesondere, dass der BGH zunächst eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG rügt (Rdnr. 40 und 82), weil das Gesetz die Berücksichtigung des Kindeswohls nicht erlaubt. Es ist zu hoffen, dass das BVerfG noch einmal klar Position dazu bezieht, inwiefern die generelle Notwendigkeit der Berücksichtigung des individuellen Kindeswohls auch grundgesetzlich abgesichert ist.
Der BGH rügt zudem einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Auch hier bietet sich dem BVerfG nun eine ideale Gelegenheit, weiter auszuarbeiten, welchen Anforderungen ausländische Ehen genügen müssen, um dem abwehrrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu unterfallen. Eine Grenze wird gelegentlich dort gezogen, so keine „Vereinbarkeit mit Grundwertungen“ des deutschen Rechts mehr besteht 6). Für die von der Vorlage betroffenen Ehen zwischen Personen unter 16-Jährigen könnte man Zweifel wegen der fehlenden Ehemündigkeit und damit der freiwilligen Eingehung der Ehe haben 7). Doch muss es auch hierbei richtigerweise wieder darauf ankommen, ob die Ehegatten bei Eheschließung konkret ehemündig waren, und es sollte darüber hinaus auch ausreichen, wenn sie die Ehe später im Zustand der Ehemündigkeit bestätigen. Häufig wird genereller vertreten, jede Ehe, die nicht gegen den ordre public verstoße, sei geschützt 8). Es sei bemerkt, dass für die Ehen von Personen zwischen 16 und 18 Jahren ein Eingreifen des Schutzes des Art. 6 Abs. 1 GG erst recht nicht verneint werden kann.
Der BGH wendet sich schließlich ausführlich gegen die Übergangsvorschriften, die teils Vertrauensschutz missachten (Rdnr. 71 ff.) und teils Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, indem sie unter anderem danach differenzieren, zu welchem Zeitpunkt die Ehegatten nach der Eheschließung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen haben (Rdnr. 80).
Ausblick
Am Kinderehegesetz kann man sehen, dass sich unterdrückte Ängste vor fremden Lebensweisen derzeit teils mit solcher Kraft Bahn brechen, dass jede Rationalität des Gesetzgebers verloren geht. Zurzeit findet sich mit dem Gesetz zum Verbot der Polygamie ein weiterer Entwurf mit ähnlicher Zielrichtung im Gesetzgebungsverfahren 9). Man darf jetzt hoffen, dass durch das beherzte Handeln des BGH auch dieses erst einmal gestoppt wird. Generell kann man nur immer wieder betonen: Auch junge muslimische Migrantinnen haben ein Recht darauf, über ihre familienrechtlichen Verhältnisse selbst zu entscheiden. Damit sie dieses Recht tatsächlich ausüben können, sind intensive Beratung und Unterstützung nötig, nicht dagegen entmündigende, pauschale Verbote.
References
↑1 | IPRax 2017, S. 429, 436 – dort auch zu den Details des Gesetzes und den zahlreichen Webfehlern |
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↑2 | BT-Drucks. 18/12086, S. 14, 16 |
↑3 | OLG Bamberg, FamRZ 2016, 1270 m. Anm. Mankowski |
↑4 | näher Röthel/Heiderhoff, „Mehr Kinderrechte“, 2018 |
↑5 | FamRZ 2018, 1152 |
↑6 | so, insgesamt eher eng Seiler in: Bonner Kommentar zum GG, 168. EL Juni 2014, Art. 6 Abs. 1 Rdnr. 129 |
↑7 | zumindest dies ebenfalls verlangend, insgesamt aber eher weit, Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rdnr. 54 f. |
↑8 | nur Coester, FamRZ 2017, 77, 79 |
↑9 | BR-Drucks. 249/18 |
Oh, ein Plädoyer für Kindesmissbrauch. Bei Missbrauch anderer Menschen hört bei mir das Verständnis auf. Demnächst wird hier auf dem Verfassungsblog auch für die Steinigung bei Ehebruch mit “… muslimische Migrantinnen haben ein Recht darauf, über ihre familienrechtlichen Verhältnisse selbst zu entscheiden.” plädiert.
Lieber Ronald Fein, ich kann ja verstehen, dass Sie solche Argumente verstören, aber lassen Sie sich doch einfach mal auf sie ein und überlegen dann noch mal, ob der Vergleich mit der Steinigung wirklich angemessen ist. In diesem Forum geht es um Differenziertheit – nicht um Undifferenziertheit.
Mich verstört, dass die Undifferenziertheit in der Argumentation. Evtl. sollte man als erstes den Unterschied zw. Kind, Jugendlicher, Minderjähriger klären und dann nicht unreflektiert das Wort “Kinderehengesetz” verwenden…
Nun ja, das in Frage stehende Gesetz heißt halt nun einmal – auch offiziell – “Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen” (17.07.2017, BGBl I S. 2429), unabhängig davon, dass es sowohl Ehegatten betrifft, die mit unter 16 Jahren geheiratet haben, als auch solche, die zum Zeitpunkt der Eheschließung zwischen 16 und 18 Jahren waren.
Der Beitrag argumentiert differenziert – im Gegensatz zu dem unsäglichen Vergleich mit den Steinigungen. Frau Heiderhoff adressiert die Probleme, die damit einhergehen, wenn im Ausland wirksam geschlossene Ehen in Deutschland gar nicht “anerkannt” werden (zB fehlende Unterhaltsansprüche der Betroffenen, aber auch Erberwartungen oder Kindschaftsregelungen). Es macht schon einen großen Unterschied, ob eine Ehe aufhebbar ist oder ob die Ehe – ohne irgendein gerichtliches Verfahren – nichtig ist, wovon die Betroffenen aber möglicherweise keine Kenntnis haben und worauf sie sich dementsprechend nicht einrichten können. Es spricht sich auch niemand “für Kinderehen” oder gar “für Kindesmissbrauch” aus. Das Kindeswohl steht für alle Beteiligten an oberster Stelle. Dafür bedarf es aber keiner “automatischen Nichtigkeit”, wie sie das Kinderehengesetz vorsieht, sondern einer Prüfung im Einzelfall. Genau diese wird den Gerichten über die Anwendung des ordre public ermöglicht. Unterstellungen in diese Richtungen sind weder zielführend noch in irgendeiner Weise gerechtfertigt.
@m&s
Der Artikel argumentiert hauptsächlich damit, dass sich die westliche Lebensart der muslimischen zu unterwerfen hat, indem es die eigenen Wertevorstellungen von Sex mit Kindern und Polygamie über Bord wirft und die dazu diametral entgegenstehenden Vorstellungen zumindest toleriert.
zu Kindesmissbrauch: Eine Ehe impliziert sexuelle Handlungen. Bei Kinderehen wäre das Sex mit Kindern. Sex zw. Erwachsenen und Kindern ist Kindesmissbrauch (StGB § 176).
Die Frage, die sich dem juristischen Laien, der sich in diesem Rechtsgebiet nicht auskennt (so auch mir), stellt, ist, ab welcher Altersgrenze eine Ehe gegen den ordre public verstößt? Sex mit einer 14-Jährigen ist nicht stets strafbar. Den nicht strafbaren Fällen das Siegel der Ehe nicht zu verweigern, erscheint mir deshalb(!) nachvollziehbar. Sex eines Erwachsenen mit unter 14-Jährigen ist aber stets strafbar. Für ein allgemeines Verstehen und Akzeptieren solcher rechtlichen Regelungen wäre es mAn also sinnvoll, nicht nur auf die Auflösung einer Grenze hinzuweisen, sondern zu verdeutlichen, wo der Rechtsstaat seine Grenze dann genau(!) zieht. Denn der Rechtsstaat und seine durch ihn gezogenen Grenzen haben unmittelbaren Bezug zur Wahrnehmung seines sicheren Bestehens.
Die Frage ist ja gerade, ob man hier eine “genaue”, “absolute” oder “definitive” Grenze ziehen kann – oder ob man diese Grenzziehung in diesen (sehr speziellen) Fällen nicht jeweils im Einzelfall vornehmen muss. Dass der Rechtsstaat berechenbar sein muss, das sehe ich auch so; das heißt aber ja nicht, den Einzelfall in seinen je spezifischen Umständen nicht angemessen (und damit gerecht) beurteilen zu dürfen.
Sex und Ehe mit einer 9-Jährigen überschreiten – hoffentlich auch Ihrer Ansicht nach – die “rote Linie für die Anwendung ausländischen Rechts”. Auf dem Wege von 18 bzw. 16 zu 9 muss also irgendwo “eine “genaue”, “absolute” oder “definitive” Grenze” zu ziehen sein. Diese definitive Grenze liegt nicht “in[!] diesen (sehr speziellen) Fällen”, in denen noch nicht (von vorn herein) gegen den ordre public verstoßen wird, sondern außerhalb. Mit lediglich der Kennzeichnung, was “nicht[!] der Grundsatz” des ordre public ist und der Feststellung “Bei jeder[!] ein Kind betreffenden Entscheidung muss in Deutschland aber das Wohl des Kindes im individuellen Fall zentral berücksichtigt werden.” ist die 9-jährige (jedes Kind) für die Prüfungsnotwendigkeit erfasst, wegen der fehlenden Qualifikation für einen Verstoß gegen den ordre public (im Text) aber nicht ausgeschlossen. Es entsteht also der Eindruck, dass die Einzelfallprüfung auch für die 9-Jährige stattfinden müsste, weil das Verbot auch für sie nicht die ausnahmslose Regel ist.
“Am Kinderehegesetz kann man sehen, dass sich unterdrückte Ängste vor fremden Lebensweisen derzeit teils mit solcher Kraft Bahn brechen, dass jede Rationalität des Gesetzgebers verloren geht.”
Daß die Rationalität des Gesetzgebers verloren geht, sieht man an vielen in letzter Zeit erlassenen Urteilen, sei es von deutschen oder auch europäischen Gerichten. Leider aber ganz entgegengesetzt zu dem, was hier geschrieben steht: Gerichte urteilen nach meinem EIndruck immer öfter in Art einer stillschweigend eingeführten Zweiklassenjustiz und ignorieren bewußt (!) die REALEN Ängste eines Großteils der Bevölkerung.
All das schöne Argumentieren hier, das ich von Juristen so gut kenne, wird letztlich dahin führen, daß auch in Deutschland Kinderehen “normal” werden. Das und vieles andere mehr.
Lieber David,
ich sehe Ihren Punkt, aber: Ängste sind nicht (und können natürlich auch nicht) die Grundlage des Rechtsstaats oder der Rechtsfindung sein. Dass Gerichte diese Ängste bewusst ignorieren, scheint mir auch nicht der Fall zu sein – sie urteilen schlicht auf anderer Basis. Das sollten wir uns alle klar machen, bevor wir über die Gerichte schimpfen…
Der Vorsitzende des zuständigen 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts steht hinter der Regelung. Vgl. seine Rede vor dem Deutschen Bundestag vom 28.04.2017.
Naja, nahezuu alle Expertinnen und Experten waren während der Anhörung gegen dieses Gesetz, und Herr Harbarth hat zudem zu Protokoll gegeben, dass er persönlich für das Aufhebungsmodell (und nicht für das Nichtigkeitsmodell) ist… Zudem wird er in Karlsruhe sicherlich verfassungsrechtlich und nicht politisch über das Gesetz urteilen (falls er denn selbst überhaupt damit befasst sein wird). Ob er also politisch hinter dieser Kompromissregelung steht oder nicht, ist vermutlich unwichtig.
Die Vorteile von Kinderehen sind doch unstrittig! Unser tschechischer Ministerpräs. Zeman sprach einmal über Vergewaltiger, sie hätten doch immerhin einen evolutionären Vorteil. Und diesen Vorteil – neben dem ach so verführerischen patriarchalischen Atavismus – haben nun eben auch Kinderehen. Da können sich Uromas mit ihren Urenkelinnen doch über ihre frischen Erfahrungen im Wochenbett austauschen. Und die Erde wird voller, vor allem, dort, wo solche Sitten herrschen, in Schwarzafrika und in muslimischen Ländern. Klar, auf die Überbevölkerung als die Mutter aller Probleme hinzuweisen, vor allem, wenn die Ressourcen dort in keiner Weise ausreichen, dem Nachwuchs eine auskömmliche Existenz zu bieten, nein, das verbietet sich, weil damit das herrschende Narrativ über Fluchtursachen empfindlich gestört würde. Also erklären wir solche Verirrungen für rechtsstaatskonform, in der Hoffnung auf Ende der Diskussion nach einem Spruch aus Karlsruhe. Irgendetwas wird einem da schon einfallen. Im Zweifelsfall wird das Kindeswohl in Übereinstimmung mit der Aufrechterhaltung einer Ehe gesetzt. Dann müsste ich aber doch eine recht unbekümmerte Weltfremdheit attestieren, wenn man von einem minderjährigen Mädchen, sozialisiert in eben diesem patriarchalischen Machtverhältnis namens Familie, eine wahrheitsgetreue Auskunft über ihr seelisches Wohlbefinden mit einem Partner erwartet. Diese Auskunft hat sie in aller Regel nie geben müssen. Danach wurde sie nie gefragt, als sie von der Familie oder vom Clan verheiratet wurde. Wie weit ist das denn weg von einem Vergewaltigungs-Abo?
Was kümmern uns da die emanzipatorischen Errungenschaften der Aufklärung! Das ist doch alles furchtbarer Eurozentrismus. Schließlich leben wir saloppen Kulturrelativisten in der „flüchtigen“ (Zygmunt Bauman) Postmoderne, also lasst es laufen, „anything goes!“
Und wenn das Kinderehengesetz in Karlsruhe gekippt werden sollte (klar, aus juristischen, nicht aus politischen oder gar sozio-kulturellen Gründen, das versteht sich von selbst), dann dürften wir wieder ein gutes Stück weiter auf dem Weg sein, weg von der allgemein unbestrittenen Akzeptanz des Bverf-Gerichts, und das ist brandgefährlich. Dann zündeln Sie mal schön – rein juristisch, ohne irgendwelche fachfremden Kontaminationen!
Die Irrationalität des Gesetztes spiegelt sich sehr gut in Ihrem Kommentar wieder. Sie sind offenbar völlig fixiert auf Zwangsehen in traditionellen Gesellschaften in muslimischen Ländern.
Auch in vielen westlichen Ländern gab und gibt es – heute, sehr lange nach der Aufklärung – die Möglichkeit, legal Ehen unter dem Alter von 16 Jahren abzuschließen (siehe z.B. für die USA
https://www.law.cornell.edu/wex/table_marriage ). Absurd, solche Ehen hier von vorne herein als nichtig zu betrachten.
Was _Sie_ machen, ist brandgefährlich, indem Sie in Ihrem letzten Absatz dem BVerfG sachfremde Entscheidungsgründe unterstellen und bei jeder fremden Rechtsordnung, die ein abweichendes Ehemündigkeitsalter vorsieht, nahelegen, dass der Entscheidung patriarchalische Vergewaltigungsphantasien zugrunde liegen.