17 December 2018

„Möge diesem Gesetz kein langes Leben beschieden sein!“: das Kinderehengesetz vor dem BVerfG

„Möge diesem Gesetz kein langes Leben beschieden sein!“ – so endet der besonders verzweifelte Beitrag von Dagmar Coester-Waltjen zum am 22.07.2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen 1). Nach der Entscheidung des BGH vom 14.12.2018, das Gesetz nach Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen, darf man hoffen, dass es nun wirklich für verfassungswidrig erklärt werden wird – zumindest in seinen schlimmsten Teilen.

Zum Hintergrund und zum betroffenen Inhalt des Gesetzes

Um die lebhaften Proteste gegen das Gesetz nicht falsch zu verstehen, muss man sich zunächst klar machen, dass es selbstverständlich niemanden darum geht, Kinderehen zu fördern. Schon nach früherer Rechtslage waren aber in Deutschland ausländische Ehen zwischen Minderjährigen nur dann anzuerkennen, wenn sie nach dem auf sie anwendbaren Recht ordnungsgemäß eingegangen worden waren und nicht gegen das Wohl eines minderjährigen Ehegatten verstießen (näher dazu sogleich). Erst recht konnten und können all die Ehen, in denen Minderjährige und teils sogar sehr junge Kinder jenseits rechtlicher Vorgaben „verheiratet“ werden, keinerlei Wirksamkeit in Deutschland entfalten. Und schließlich sind selbstverständlich nach deutschem Recht alle Zwangsehen nichtig oder aufhebbar.

Das Kinderehegesetz betrifft in seinem besonders streitigen Kernbereich jedoch die Fälle, in denen Minderjährige im Ausland freiwillig und unter Einhaltung der Vorgaben des dort geltenden Rechts geheiratet haben und im Folgenden nach Deutschland gekommen sind. Dabei wird differenziert zwischen solchen Ehen, bei deren Eingehung die Eheschließenden das 16. Lebensjahr vollendet hatten (Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB), und solchen, bei denen ein oder beide Ehegatten noch jünger waren (Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB). In beiden Fällen soll zwar eine Fortführung der Ehe in Deutschland verhindert werden. Doch muss im ersteren Fall die Ehe erst durch das Gericht aufgehoben werden, wovon in (extremen) Härtefällen eine Ausnahme gemacht werden kann, während im zweiten Fall, also bei den unter 16-Jährigen, jede Ehe immer unmittelbar als nichtig angesehen wird. Härten können daher in keinem Fall berücksichtigt werden. Schon wenn man das so abstrakt betrachtet, kann man es kaum glauben. In der Realität vermag das Gesetz erhebliches Leid für die betroffenen jungen Menschen zu verursachen.

Der vom BGH zu entscheidende Fall

Der Entscheidung des BGH lag ein Fall zugrunde, in dem die Probleme klar zu Tage treten und auf den die Gesetzesbegründung bei ihrer Zielsetzung ausdrücklich Bezug genommen hat 2): In dem bereits 2016 noch nach alter Rechtslage vom OLG Bamberg in zweiter Instanz entschiedenen Fall 3) hatten ein 14-jähriges Mädchen und ein 21-jähriger Mann in Syrien – in nicht ordnungsgemäßer, aber doch wirksamer Form – geheiratet, bevor sie die Flucht nach Deutschland antraten. In Deutschland wurden sie voneinander getrennt und die Umgangszeiten wurden eng reglementiert. Das OLG Bamberg war, unter Berücksichtigung des Kindeswohls und des Verhältnisses der Eheleute zueinander, einen mutigen Weg gegangen, und hatte die Ehe – was das alte Recht noch zuließ – als wirksam anerkannt, obwohl das Mädchen weiterhin erst 15 Jahre alt war. Das einander laut der Entscheidung eng verbundene, sich liebende Paar durfte wieder zusammen leben. Der BGH korrigiert das OLG in Hinblick auf die familienrechtliche Einbettung, bestätigt aber die Richtigkeit der Überlegungen zur Wirksamkeit der Ehe. Doch konnte er aufgrund des neuen Gesetzes die Entscheidung, die das Wohl des Kindes im Einzelfall berücksichtigte, nicht aufrechterhalten.

Wesentliche Grundsätze des IPR

Das internationale Privatrecht (IPR) hat die Funktion, für die Rechtsverhältnisse der Menschen, die sich grenzüberschreitend bewegen, eine möglichst passende Rechtsordnung zur Anwendung zu bestimmen. Dies geschieht im Grundsatz wertblind und folgt allgemeinen Regeln, die zum einen danach streben, die engste Verbindung jedes Rechtsverhältnisses zu bestimmen, zum anderen aber, gerade für Familienverhältnisse wie die Ehe, auch berechtigtes Vertrauen schützen und Stabilität gewähren müssen. Würden Ehen, Ehescheidungen oder auch Eltern-Kind-Verhältnisse an der Grenze ihre Wirksamkeit verlieren, wäre internationale Mobilität nicht mehr möglich.

Die rote Linie für die Anwendung ausländischen Rechts bildet der ordre public, also die wesentlichen Grundsätze der eigenen Rechtsordnung – wobei die Grundrechte den zentralen Kern ausmachen. Zum ordre public gehört ganz sicher nicht der Grundsatz, dass 17-jährige Personen nicht heiraten dürfen. Vielmehr war das bis 2017 auch in Deutschland erlaubt. Bei 14-Jährigen mag man zwar zweifeln (zum Streitstand BGH Rdnr. 44). Doch tritt hier ein weiterer Aspekt hinzu: Der Vorbehalt wirkt nämlich stets nur als Ergebniskontrolle. Er greift also nur durch, wenn das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts in untragbarem Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung stünde. Bei jeder ein Kind betreffenden Entscheidung muss in Deutschland aber das Wohl des Kindes im individuellen Fall zentral berücksichtigt werden. Der BGH bindet diesen Grundsatz, wie gleich noch anzusprechen sein wird, auch grundrechtlich an. Die Notwendigkeit der Beachtung des Kindeswohls führte bei Minderjährigenehen bisher dazu, dass sie – wie in der Entscheidung des OLG Bamberg – dann nicht für nichtig erklärt wurden, wenn gerade die Aufrechterhaltung der Ehe dem Wohl des Kindes diente. Insgesamt ist der ordre-public-Vorbehalt mit seiner Offenheit für die Besonderheiten jeden Einzelfalls ein ideales Instrument zum Umgang mit Minderjährigenehen.

Kindeswohl

Wie nun schon deutlich wurde und auch der BGH (Rdnr. 40) betont, gehört es zu den Grundsätzen des deutschen Familienrechts, dass das individuelle Kindeswohl von entscheidender Bedeutung ist. Das schließt zwar nicht generell aus, dass im Gesetz feste Altersgrenzen bestimmt werden. Doch dürfen diese Altersgrenzen selbstverständlich nicht so eingesetzt werden, dass jüngere Kinder dadurch Nachteile erleiden. Genau dies geschieht aber durch das Kinderehegesetz, wenn es die Ehen von Minderjährigen unter 16 Jahren für ausnahmslos nichtig erklärt (anders nur in den Fällen des Art. 229 § 44 IV EGBGB). Denn die Nichtigkeit der Ehe bringt rechtliche Nachteile mit sich. Wirtschaftlich scheidet insbesondere der Unterhaltsanspruch aus – und persönlich mögen die Betroffenen es als negativ empfinden, dass ihr sexuelles Verhältnis und ein eventuell bereits geborenes Kind nun als außerehelich anzusehen sind.

Es sei darauf hingewiesen, dass das Selbstentscheidungsrecht von Minderjährigen seit Jahren intensiv diskutiert wird und dass man es bei vielen wichtigen familienrechtlichen Gegenständen schon deutlich vor Eintritt der Volljährigkeit gewährt. So ist es bei etwa Einwilligungen in Operationen, bei dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung und bei religiösen Entscheidungen 4).

EU-Freizügigkeit

Es ist offensichtlich, dass das Gesetz gegen die Freizügigkeit nach Art. 21, 45 AEUV verstößt. Denn in vielen EU-Mitgliedstaaten können Minderjährige, unter unterschiedlichen Voraussetzungen, wirksam die Ehe schließen. Das OLG Oldenburg 5) hat für ein rumänisches Paar deshalb eine die Aufhebung ausschließende außergewöhnliche Härte im Sinne des § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB angenommen. Abgesehen davon, dass die Norm damit weit gedehnt wird, muss bezweifelt werden, ob das als Ausweg reicht.

Grundgesetz

Schließlich verletzt das Gesetz, wie der BGH richtig ausführt, verschiedene Grundrechte der Ehegatten. Spannend und überzeugend ist insbesondere, dass der BGH zunächst eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG rügt (Rdnr. 40 und 82), weil das Gesetz die Berücksichtigung des Kindeswohls nicht erlaubt. Es ist zu hoffen, dass das BVerfG noch einmal klar Position dazu bezieht, inwiefern die generelle Notwendigkeit der Berücksichtigung des individuellen Kindeswohls auch grundgesetzlich abgesichert ist.

Der BGH rügt zudem einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Auch hier bietet sich dem BVerfG nun eine ideale Gelegenheit, weiter auszuarbeiten, welchen Anforderungen ausländische Ehen genügen müssen, um dem abwehrrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu unterfallen. Eine Grenze wird gelegentlich dort gezogen, so keine „Vereinbarkeit mit Grundwertungen“ des deutschen Rechts mehr besteht 6). Für die von der Vorlage betroffenen Ehen zwischen Personen unter 16-Jährigen könnte man Zweifel wegen der fehlenden Ehemündigkeit und damit der freiwilligen Eingehung der Ehe haben 7). Doch muss es auch hierbei richtigerweise wieder darauf ankommen, ob die Ehegatten bei Eheschließung konkret ehemündig waren, und es sollte darüber hinaus auch ausreichen, wenn sie die Ehe später im Zustand der Ehemündigkeit bestätigen. Häufig wird genereller vertreten, jede Ehe, die nicht gegen den ordre public verstoße, sei geschützt 8). Es sei bemerkt, dass für die Ehen von Personen zwischen 16 und 18 Jahren ein Eingreifen des Schutzes des Art. 6 Abs. 1 GG erst recht nicht verneint werden kann.

Der BGH wendet sich schließlich ausführlich gegen die Übergangsvorschriften, die teils Vertrauensschutz missachten (Rdnr. 71 ff.) und teils Art. 3 Abs. 1 GG verletzen, indem sie unter anderem danach differenzieren, zu welchem Zeitpunkt die Ehegatten nach der Eheschließung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen haben (Rdnr. 80).

Ausblick

Am Kinderehegesetz kann man sehen, dass sich unterdrückte Ängste vor fremden Lebensweisen derzeit teils mit solcher Kraft Bahn brechen, dass jede Rationalität des Gesetzgebers verloren geht. Zurzeit findet sich mit dem Gesetz zum Verbot der Polygamie ein weiterer Entwurf mit ähnlicher Zielrichtung im Gesetzgebungsverfahren 9). Man darf jetzt hoffen, dass durch das beherzte Handeln des BGH auch dieses erst einmal gestoppt wird. Generell kann man nur immer wieder betonen: Auch junge muslimische Migrantinnen haben ein Recht darauf, über ihre familienrechtlichen Verhältnisse selbst zu entscheiden. Damit sie dieses Recht tatsächlich ausüben können, sind intensive Beratung und Unterstützung nötig, nicht dagegen entmündigende, pauschale Verbote.

References

References
1 IPRax 2017, S. 429, 436 – dort auch zu den Details des Gesetzes und den zahlreichen Webfehlern
2 BT-Drucks. 18/12086, S. 14, 16
3 OLG Bamberg, FamRZ 2016, 1270 m. Anm. Mankowski
4 näher Röthel/Heiderhoff, „Mehr Kinderrechte“, 2018
5 FamRZ 2018, 1152
6 so, insgesamt eher eng Seiler in: Bonner Kommentar zum GG, 168. EL Juni 2014, Art. 6 Abs. 1 Rdnr. 129
7 zumindest dies ebenfalls verlangend, insgesamt aber eher weit, Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, Art. 6 Rdnr. 54 f.
8 nur Coester, FamRZ 2017, 77, 79
9 BR-Drucks. 249/18