15 August 2024

Muskelkraft als Mordmerkmal

Zur vorgeschlagenen Erweiterung des Mordparagrafen § 211 StGB

Die Unionsfraktion hat zur „Verbesserung des Opferschutzes, insbesondere für Frauen und verletzliche Personen“ einen Gesetzentwurf vorgelegt. In diesem wird unter anderem die Ergänzung des Mordmerkmals „unter Ausnutzung der körperlichen Überlegenheit“ vorgeschlagen (BT-Drs. 20/12085). Die in dem Entwurf genannten Probleme, insbesondere in Bezug auf Trennungstötungen und die sogenannten Haustyrannenfälle, werden mit der Erweiterung des Mordparagrafen jedoch nicht zielführend gelöst. Denn: dass die Rechtsprechung bestimmte Fallkonstellationen nicht schon de lege lata als Mord bestraft, ist nicht (nur) auf die materielle Rechtslage zurückzuführen. Auch das neu vorgeschlagene Mordmerkmal lässt Raum für Wertungswidersprüche. Die Argumentation des Entwurfs basiert ihrerseits auf einem fehlgehenden Verständnis der Verwerflichkeit von Trennungstötungen.

Die aktuelle Rechtslage

Hinsichtlich der vorsätzlichen Tötung eines anderen Menschen differenziert das Strafrecht zwischen Totschlag (§ 212 StGB) und Mord (§ 211 StGB). Eine vorsätzliche Tötung gilt als Mord, wenn mindestens eines der in § 211 Abs. 2 StGB genannten Mordmerkmale erfüllt ist. Diese erfassen etwa die besondere Verwerflichkeit der Beweggründe des*der Täter*in oder der Art und Weise der Tatbegehung, bspw. die heimtückische Tötung. Eine solche liegt vor, wenn die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausgenutzt wird. Das Opfer ist arglos, wenn es beim ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriff nicht mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnet, und wehrlos, wenn es infolge der Arglosigkeit in seinen Abwehrmöglichkeiten erheblich eingeschränkt ist (st. Rspr., vgl. bspw. BGH 21.1.2021 – 4 StR 337/20, Rn. 12 mwN). Im starken Kontrast zu diesem objektiv orientierten Merkmal steht die moralisch geprägte sog. Motivgeneralklausel. Ein Beweggrund gilt als niedrig, wenn er „nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe“ steht und deshalb besonders verwerflich ist (st. Rspr., vgl. bspw. BGH 21.12.2000 – 4 StR 499/00, S. 3).

Physische Stärke als neuer Anknüpfungspunkt

Der Entwurf identifiziert tatsächliche und rechtliche Probleme im Bereich der Gewaltkriminalität und schlägt unter anderem Änderungen an den Sexual- und Körperverletzungsdelikten, im Strafprozessrecht und im Gewaltschutzgesetz vor. Auch der Mordparagraf soll geändert, namentlich unter anderem um das Mordmerkmal „unter Ausnutzung der körperlichen Überlegenheit“ ergänzt werden. Die körperliche Überlegenheit müsse dabei anhand einer Gesamtschau der physischen Stärke und sonstiger Fähigkeiten beurteilt werden. Das Element der Ausnutzung soll vorliegen, „wenn der Täter sich gerade die körperliche Überlegenheit zunutze macht, wenn sie sein Vorhaben ermöglicht oder jedenfalls begünstigt und er dies bewusst als einen Faktor einkalkuliert hat“ (S. 17).

Damit werde die Kritik an der rechtlichen Beurteilung sog. Haustyrannenfälle bzw. Trennungstötungen aufgegriffen: eine von ihrem Partner jahrelang misshandelte Frau, die aufgrund ihrer körperlichen Unterlegenheit auf die heimtückische Tatbegehung angewiesen ist, könne für die Tötung des „Haustyrannen“ wegen Mordes verurteilt werden. Der gewalttätige männliche Partner hingegen, der seine Partnerin schließlich tötet, werde häufig lediglich wegen Totschlags verurteilt, weil kein Mordmerkmal vorliege: eine heimtückische Tötung sei für Männer nicht erforderlich; sie könnten es sich aufgrund überlegener Körperkräfte „leisten“, ihr Tötungsvorhaben offen umzusetzen (S. 15 f.).

Auch die sonst niedrigen Beweggründe würden, gerade bei trennungsbedingten Tötungen der (Ex)-Partnerin, häufig abgelehnt. Der Gesetzentwurf formuliert insoweit den Vorwurf, die höchstrichterliche Rechtsprechung tendiere zu „täterfreundlicher individualpsychologisierender Nachsicht“ (S. 17). Zum anderen könne mit dem vorgeschlagenen Mordmerkmal die Tötung von Säuglingen und Kleinkindern angemessen bestraft werden; diese seien aufgrund ihres Alters noch nicht zu Argwohn oder Gegenwehr fähig, weshalb auch hier das Mordmerkmal der Heimtücke nicht vorliege (S. 16).

Eine valide Kritik

Der Entwurf will Lücken schließen, die insbesondere beim Mordmerkmal der Heimtücke verortet werden: die geltende Fassung bevorzuge den körperlich Überlegenen (S. 17); (dauerhafte) “Schwächesituationen” des Opfers begründeten „per se keinen mordmerkmalserfüllenden Sachverhalt“ (S. 2). Hinsichtlich der bisherigen Auslegung und Anwendung des Heimtückemerkmals lässt sich berechtigte Kritik üben. Man kann etwa fragen, was einem Säugling die Fähigkeit zum Argwohn nützte, wenn er sich gegen eine*n erwachsene*n Täter*in ohnehin nicht zur Wehr setzen kann. Es erscheint widersprüchlich, diejenigen Täter*innen, die ein von vornherein zur Gegenwehr unfähiges Opfer töten, besser zu stellen als die, die ein grundsätzlich abwehrfähiges Opfer überlisten. Der Argwohn des Tatopfers garantiert schließlich keineswegs dessen Abwehrmöglichkeiten. Zugleich lässt sich fragen, welche Zeitpunkte im Tatgeschehen maßgeblich sein müssen: wer sich etwa schon unter falschem Vorwand Zutritt zur Wohnung der Ex-Partnerin verschafft, beraubt sie womöglich schon mit dem Betreten der besten und womöglich einzig wirksamen Abwehrmöglichkeit, die ihr zur Verfügung stand (vgl. Anm. Puppe zu BGH 19.6.2008 – 1 StR 217/08, NStZ 2009, 208-209).

Auch der Vorwurf, der BGH tendiere zu einer „sachlich nicht gerechtfertigte[n] Privilegierung trennungstypischer Tötungsbeweggründe männlicher Täter“ (S. 16), ist keineswegs neu (siehe djb-Stellungnahme). In diesem Zusammenhang wird häufig kontrastierend aufgeführt, dass der BGH in einigen Fällen den Besitzanspruch des (idR männlichen) Täters an das Opfer als verwerflich zu beurteilen vermag. In anderen Fällen wiederum taucht er tief in die Gefühlswelt von Angeklagten ein und bejaht die Nachvollziehbarkeit der Beweggründe.

Der Unterschied zwischen Mord und Totschlag liegt in diesen Fallkonstellationen nicht selten im Zauberwort der „Ehre“ (hierzu deutlich mwN Lembke, Stellungnahme zu BT-Drs. 19/23999, S. 10 f.). In diesem Wertungskonflikt liegen die offenen Fragen beim Mordmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe, bei dem die Rechtsprechung einen größeren,  sozialisierungsgeprägten Wertungsspielraum hat als bei der Heimtücke. Das in einer Trennungstötung zum Ausdruck kommende Besitzdenken wird durch die höchstrichterliche Rechtsprechung reproduziert: die Bewertung der Beweggründe als „niedrig“ sei dann fraglich, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“.1)

Liegen die Probleme (nur) im materiellen Recht?

Der Vorschlag ist im Ergebnis nicht geeignet, die als unbefriedigend empfundene rechtliche Beurteilung von Trennungs- und Kindstötungen zu lösen. Auch das vorgeschlagene, neu hinzuzufügende Mordmerkmal lässt Raum für „individualpsychologisierende Nachsicht“ (S. 17). Schon die Feststellung der körperlichen Überlegenheit – die, will man damit die genannten Probleme lösen, jedenfalls auf einem stereotypen Verständnis von männlicher und weiblicher Körperkraft basieren muss – ist denkbar komplex. Zudem wird nur ein neuer Spielraum geschaffen, der, genutzt oder nicht, zu den eben gleichen und bemängelten Wertungswidersprüchen führt. Wer beispielsweise als Erwachsene*r ein Kleinkind tötet, wird durch die eigene körperliche Überlegenheit nahezu immer „jedenfalls begünstigt“ worden sein. Entscheidend wird vielmehr sein, ob der*die Täter*in dies subjektiv „bewusst als einen Faktor einkalkuliert hat“.

Möglich ist, dass die Rechtsprechung diese Voraussetzung angesichts der hohen Strafdrohung konsequent nur restriktiv zur Anwendung bringt und das Mordmerkmal dementsprechend häufig leerläuft. Man stelle sich vor: Ein Ehemann kann die Trennungsabsicht seiner Partnerin psychisch „nicht adäquat verarbeiten“ (S. 16). In einem Streitgespräch gerät er so in Rage und Verzweiflung, dass er sie körperlich überwältigt und erwürgt. Die Rechtsprechung verneint das bewusste Kalkül aufgrund des psychischen Ausnahmezustands und verurteilt wegen Totschlags.

Möglich ist andererseits, dass ein weiteres Merkmal mit einem kleinen Wertungsspielraum (ähnlich dem der Heimtücke) in der Praxis dazu führt, dass Tötungshandlungen als Morde beurteilt werden müssen, obgleich Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz entstehen. Man denke an folgende Fallkonstellation: Eine pflegende Angehörige erträgt kaum, welche starken Schmerzen der tödlich erkrankte Patient erleidet. Sie weiß aus früheren Gesprächen, dass er so nicht dahinsiechen wollte, und tötet ihn aus Mitleid, indem sie das körperlich geschwächte Opfer erstickt. Die Rechtsprechung legt ein weites Verständnis des „bewussten Einkalkulierens“ zugrunde und verurteilt wegen Mordes.

Wahrscheinlich jedenfalls auf Basis der bisherigen Rechtsprechung bleibt letztlich eine Kombination aus diesen Szenarien: die Rechtsprechung wird sich in einigen Fällen differenziert mit den Hintergründen des Falles auseinandersetzen und präzise abwägen, ob und inwieweit dem*der Täter*in ein bewusstes Einkalkulieren der eigenen körperlichen Überlegenheit vorzuwerfen ist. Rechtsprechung und Wissenschaft werden Maßstäbe und Leitgrundsätze für die Rechtspraxis entwickeln, es werden sich Fallgruppen herauskristallisieren. Wo aber solche Wertungsspielräume gelassen werden, bleibt Raum für Bias. Damit könnte der Entwurf die Tür zu genau jenem Problem offenlassen, das aktuell zu der bemängelten rechtlichen Beurteilung von Trennungstötungen führt.

Zudem vermag die Einfügung eines Mordmerkmals „unter Ausnutzung der körperlichen Überlegenheit“ das „Dilemma“ um die sog. Haustyrannenmorde nicht zu lösen. Solange das Mordmerkmal der Heimtücke in seiner jetzigen Fassung und Auslegung bestehen bleibt, wird sich an der rechtlichen Bewertung dieser Fälle nichts ändern. Mit anderen Worten: das Opfer der Misshandlungen, das in einem Moment handelt, in dem der*die Haustyrann*in sich des Angriffs nicht versieht, handelt weiterhin als Mörder*in. Die Rechtsprechung wäre weiterhin auf die Konstellation der Rechtsfolgenlösung angewiesen, um eine in diesen Fällen als mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar erachtete lebenslange Freiheitsstrafe zu vermeiden.

Repression statt Prävention – einseitig erweiterter Beurteilungsspielraum

Es ist zudem fragwürdig, aus der erhöhten Schutzbedürftigkeit von als potenziell vulnerabel erkannten Opfergruppen unmittelbar das Erfordernis höherer Strafen abzuleiten. Schutzwürdigkeit ist nicht unmittelbar gleichzusetzen mit Strafrechtswürdigkeit (vgl. ausführlich Wörner in Kuhli/Asholt). Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass Strafschärfungen eher symbolisch wirken. Davon ausgehend, dass der durchschnittliche Täter einer Trennungstötung die rechtlichen Details dieser vorgeschlagenen Änderung des Mordparagrafen tatsächlich versteht und in seine Entscheidungsfindung einbezieht: was hielte ihn davon ab, seine (Ex-)Partnerin zu erschießen, statt sie mit überlegener Körperkraft zu töten, um so der Verurteilung wegen Mordes zu entgehen?

Abgesehen davon, dass das Szenario eines so rechtskundigen Täters eher die Ausnahme sein dürfte, verkennt der Entwurf das eigentlich verwerfliche Element, das Trennungstötungen kennzeichnet. Dieses liegt nicht etwa in der Art und Weise der Tatbegehung, sondern vielmehr in den Beweggründen. Wenn die Niedrigkeit dieses Motivs von der Rechtsprechung jedenfalls bei Tätern, denen keine kulturelle Fremdheit zugeschrieben wird, oft nicht anerkannt wird, so liegt dies nicht an der materiellen Rechtslage, sondern an deren Auslegung und Anwendung. Auch der Entwurf erkennt scheinbar nicht, dass es der patriarchale Besitzanspruch ist, den die Täter von Trennungstötungen an ihre (Ex-)Partnerinnen stellen, der – gerade auch vor dem Hintergrund der Änderung in § 46 Abs. 2 S. 2 StGB – strafschärfend wirken müsste, statt auf eine fragwürdige Vorstellung von männlicher und weiblicher Körperkraft abzustellen.

Darüber hinaus ist körperliche Überlegenheit nicht die einzige relevante Machtdynamik in sozialen Näheverhältnissen. Im Haustyrannenfall etwa ist es eben nicht nur die körperliche Kraft oder Gewalt, die den Tyrannen (und damit die “offene”, d.h. nicht heimtückische) Tatbegehung so gefährlich macht. Gerade Abhängigkeiten im Hinblick auf die finanzielle, Wohnungs-, Lohnarbeits- oder soziale Situation intensivieren die Vulnerabilität von Gewaltbetroffenen. Verlässt man sich mit dem vorgeschlagenen Mordmerkmal darauf, dass gewaltbetroffene Personen bspw. nur in heterosexuellen Beziehungen vorkommen und generell körperlich schwächer sind, so werden diese maßgeblichen Faktoren ausgeklammert. Psychische Gewalt kann nicht berücksichtigt werden. Auch, was Kindstötungen angeht, erscheint es damit sinnvoller, auf ein Verständnis der bestehenden Mordmerkmale hinzuwirken, das zu den Macht- und Kräfteverhältnissen in solchen Sachverhalten passt.

References