17 October 2018

„Mythos Interpol” und sein Missbrauch durch autoritäre Regime

Von den Kriminalromanen Agatha Christies bis hin zu Tom Tykwers Thriller „The International”: Seit ihrer Gründung im Jahre 1923 ist die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation – besser bekannt unter ihrem Akronym Interpol – ein beliebtes Sujet der (westlichen) Populärkultur und durch unzählige Darstellungen in Literatur und Film zu einem modernen Mythos geworden. Als Produkt der Frühphase der Globalisierung trägt sie dabei deren kulturelle Chiffren in sich: Polyglotte Weltläufigkeit, der Glamour der Grandhotels und zelebrierte Mobilität machen den Interpol-Agenten zu der Symbolfigur, mit der die Staatengemeinschaft der grenzüberschreitenden Kriminalität Paroli zu bieten sucht. Das Schlaglicht, das das vor einigen Wochen bekannt gewordene Verschwinden des Interpol-Präsidenten und früheren chinesischen stellvertretenden Ministers für öffentliche Sicherheit Meng Hongwei nun auf die Organisation geworfen hat, ist freilich weit weniger glamourös.

Zur Erinnerung: Ende September kehrte Meng von einer Reise aus dem Interpol-Hauptquartier in Lyon in sein Heimatland China nicht zurück. Nur einen Tag nachdem Interpols Generalsekretär, der deutsche Jurist und frühere Vizepräsident des BKA, Jürgen Stock, die Volksrepublik China aufgefordert hatte, zum Verbleib Mengs Stellung zu nehmen, teilte die Organisation mit, ein Rücktrittsgesuch des Verschollenen erhalten zu haben, und gab sogleich kleinlaut bekannt, im November einen neuen Präsidenten wählen zu wollen. Derweil verkündete die chinesische Antikorruptionsbehörde, gegen Meng werde ermittelt und er stehe unter „Aufsicht“. Dem Vernehmen nach ist er auf Grund politischer Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas in einem chinesischen Geheimgefängnis verschwunden.

Der Vorgang lenkt den Blick auf ein Problem, das Interpol schon seit seinen Anfängen begleitet: die strukturelle Anfälligkeit der Organisation, von autoritären und totalitären Regimen zur weltweiten Verfolgung unliebsamer politischer Gegner missbraucht zu werden. Als Interpol (bzw. deren Vorgängerorganisation) im Jahr 1938 unter die Kontrolle der Nationalsozialisten geriet, stellte das zwar den Tiefpunkt in der Geschichte der Organisation dar, war aber längst kein Einzelfall ihrer politischen Instrumentalisierung. Heute sind es vor allem autoritäre Regime wie die Russische Föderation oder die Republik Türkei sowie Aserbaidschan, Weißrussland oder Kasachstan, die regelmäßig versuchen, Interpols Ressourcen zur Verfolgung (vermeintlicher) Regierungsgegner*innen zu vereinnahmen.

Struktur und Funktion von Interpol

Um zu verstehen, wie es immer wieder gelingt, Interpols Strukturen in den Dienst politischer Repression zu stellen, ist ein Blick auf Aufbau und Funktion der Organisation hilfreich. Als Verein nach französischem Privatrecht gegründet, ist Interpol zwar als Völkerrechtssubjekt anerkannt, bis heute fehlt aber ein parlamentarisch ratifizierter, formeller völkerrechtlicher Vertrag, auf den die Organisation ihrer Arbeit stützen könnte. Entgegen landläufiger Vorstellungen kann Interpol daher keine eigenen Agent*innen beschäftigen, die grenzüberschreitende Ermittlungen durchführen oder gar polizeiliche Zwangsmaßnahmen vornehmen. Stattdessen beschränkt sich die Hauptaufgabe von Interpol darauf, die Polizeibehörden von derzeit 192 Mitgliedstaaten miteinander zu vernetzen und beim Austausch von polizeilich relevanten Informationen zu unterstützen.

Ein wichtiges Kommunikationsinstrument stellen dabei verschiedene Arten von farbcodierten Warnmeldungen oder Kooperationsersuchen dar, die als Ausschreibungen („Notices”) bezeichnet werden. Dazu gehört insbesondere die sog. Rotecke („Red Notice”), mit der eine nationale Polizeibehörde die Behörden anderer Länder darum ersuchen kann, den Aufenthaltsort einer gesuchten Person ausfindig zu machen und/oder die Person verhaften zu lassen. Eine solche Red Notice wird auf Antrag eines der sog. Nationalen Zentralbüros (NZBs) – so die Bezeichnung für die von den Mitgliedstaaten festgelegten nationalen Verbindungsstellen zu Interpol (für die Bundesrepublik Deutschland ist dies das BKA) – in einer Interpol-Datenbank veröffentlicht und ist dann für Polizeibehörden auf der ganzen Welt zugänglich. Die Red Notice enthält dabei Informationen über die gesuchte Person einschließlich der Personalien und eines Fotos sowie eine Beschreibung der erhobenen Vorwürfe.

Daneben stellt Interpol die sog. „Diffusions” bereit: Vergleichbar mit einer E-Mail, können NZBs auf diesem Weg gezielt einzelne oder mehrere NZBs direkt und ohne Prüfung durch Interpol anschreiben, um etwa die Festnahme einer Person oder die Mitteilung ihres Standorts zu ersuchen. „Notices” und „Diffusions” unterscheiden sich also nicht inhaltlich, sondern lediglich hinsichtlich des Empfängerkreises und des Kommunikationsweges.

Überprüfung nationaler Fahndungsersuchen durch Interpol

Grundsätzlich sind die Polizeibehörden der Interpol-Mitgliedstaaten dafür verantwortlich, dass die an Interpol übermittelten Informationen korrekt und mit den Statuten Interpols vereinbar sind. Daneben trifft jedoch auch das in Lyon angesiedelte Generalsekretariat von Interpol eine Verantwortung für die Verarbeitung der Informationen, die es von den NZBs oder auf anderem Wege erhält.

Für die verschiedenfarbigen Ausschreibungen sehen die Art. 74, 75 und 77 von Interpols Datenverarbeitungsregelungen (IRPD) allgemein eine Compliance-Prüfung durch das Generalsekretariat vor. Speziell für die Red Notice existiert eine Reihe von Mindestanforderungen an die von nationaler Ebene übermittelten Daten (Art. 83 ff. IRPD) und das Generalsekretariat ist verpflichtet, diese vor Veröffentlichung der Ausschreibung in der Interpol-Datenbank rechtlich zu prüfen (Art. 86 IRPD). Dabei ist insbesondere Artikel 3 der Interpol-Verfassung zu beachten, der es der Organisation untersagt, „Maßnahmen oder Aktivitäten mit politischem, militärischem, religiösem oder rassistischem Charakter durchzuführen“. Zu Konkretisierung dieses Neutralitätsgebots hat das Generalsekretariat besondere Richtlinien erlassen, anhand derer es überprüft, ob eine Red Notice bzw. das zugrunde liegende nationale Strafverfahren einen politischen, militärischen, religiösen oder rassistischen Charakter aufweist.

Umsetzung von Interpol-Notices und -Diffusions in den Mitgliedstaaten

Wenn nationale Polizeibehörden eine Interpol-Ausschreibung erhalten, sind sie nicht zu deren Umsetzung (z.B. durch Verhaftung einer gesuchten Person) verpflichtet. Die Übernahme der Ausschreibung in die jeweiligen nationalen Polizei-Datenbanken – hierzulande das INPOL-System – erfolgt auf Grundlage der geltenden nationalen Gesetze. In der Bundesrepublik Deutschland erfolgt die Prüfung eingehender Interpol-Fahndungsersuchen durch das BKA, das in Fällen besonderer Bedeutung in politischer, tatsächlicher oder rechtlicher Beziehung das Bundesamt für Justiz und das Auswärtige Amt zur Entscheidung hinzuzieht (§ 33 Abs. 3 BKAG iVm Nr. 13 RiVASt). Mangels offizieller Angaben, bei wie vielen Ersuchen von einer Umsetzung abgesehen wird, lässt sich jedoch nicht sicher sagen, wie gut dieses nationale Filter- und Prüfverfahren tatsächlich funktioniert. Die hohe Anzahl von Auslieferungsersuchen, die etwa von der Republik Türkei gestellt und durch die Oberlandesgerichte abgelehnt wurden, lässt insofern jedoch nichts Gutes erahnen. Denn diese Verfahren dürften in den meisten Fällen auf eine BKA-geprüfte Red Notice oder Diffusions zurückzuführen sein.

Missbrauch des Interpol-Instrumentariums in der Praxis

Es gilt mittlerweile als weithin anerkannt, dass eine Reihe von Staaten sowohl das Instrument der Red Notice als auch das Diffusion-System für die internationale Verfolgung von Dissidenten oder anderen unliebsam gewordenen Personen ausnutzen. So rügt insbesondere die Nicht-Regierungsorganisation “FairTrials” seit langem den Missbrauch von Interpol als Waffe autoritärer Regime im Kampf gegen Journalist*innen, Menschenrechtsanwält*innen und anerkannten Geflüchteten. Im Auslieferungsverkehr mit der Bundesrepublik Deutschland und anderen EU-Staaten fallen dabei immer wieder die Republik Türkei sowie die Russische Föderation auf. Im anglo-amerikanischen Raum sorgten die Fälle des britischen Geschäftsmanns und Menschenrechtsaktivisten Bill Browder sowie des U.S.-amerikanischen Geschäftsmanns Ilya Katsnelson für Aufsehen, die jeweils von der Russischen Föderation verfolgt wurden. In Deutschland drangen unter anderem die Fälle des deutschen Schriftstellers Doğan Akhanlı, des Al-Jazeera Journalisten Ahmed Mansour, des bahrainischen Menschenrechtsaktivisten Abdul Al-Mahouzi und des russischen Bankiers Andrej Drobinin in die Medien.

Um die geschilderten Sicherungsmechanismen auf Ebene von Interpol sowie der anderen nationalen Polizeibehörden zu Missbrauchszwecken auszuhebeln, haben sich in der Praxis zwei Umgehungsstrategien herausgebildet: Zum einen gibt es Fälle, in denen der ersuchende Staat seiner Red Notice schlichtweg einen falschen Sachverhalt beifügt und dabei insbesondere Tatsachen weglässt, die darauf hindeuten, dass das Strafverfahren, das dem Fahndungsaufruf zugrunde liegt, entgegen Art. 3 der Interpol-Verfassung einen politischen, militärischen, religiösen oder rassistischen Charakter aufweist. Eine andere Strategie besteht darin, gar nicht erst auf eine Red Notice zurückzugreifen, sondern stattdessen Fahndungsausschreibungen schlicht als Diffusions an die verbleibenden 191 Mitgliedsstaaten zu versenden. Diese Taktik, die nach unserer Erfahrung insbesondere von der Russischen Föderation seit Jahren verstärkt verwendet wird, umgeht die rechtliche Überprüfung durch das Generalsekretariat von Interpol, die für Red Notices, nicht aber für Diffusions angeordnet ist. Auf diese Weise sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine missbräuchliche Fahndungsausschreibung frühzeitig erkannt und gestoppt wird. Der darin liegende Verstoß gegen Art. 99 Abs. 3 IRPD, der die Versendung einer Diffusion anstelle einer Notice nur dann erlaubt, wenn das Festnahmeersuchen an einen beschränkten Empfängerkreis gesendet werden soll, bleibt meist folgenlos: Das BKA scheint auch diese Ersuchen regelmäßig umzusetzen.

Die zum Teil fehlende Sensibilität der deutschen Strafverfolgungsbehörden für das Binnenrecht Interpols wiegt besonders schwer, wenn man bedenkt, dass ausländische Auslieferungsersuchen auch im späteren Auslieferungsverfahren nur noch rudimentär überprüft werden. Die institutionelle Aufgabenteilung und das dem Interpol-Fahndungssystemen entgegen gebrachte Vertrauen führen regelmäßig zu einem Kaskadeneffekt: Das Oberlandesgericht vertraut bei Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls auf die Prüfung der Generalstaatsanwaltschaft, die wiederum auf die Prüfung des BKA (und des ggf. beteiligten Bundesamts für Justiz sowie des Auswärtigen Amts), welches selbst auf die rechtliche Prüfung Lyons und des ersuchenden NZB vertraut: Wirklich inhaltlich geprüft hat den Fall am Ende niemand.

Belastbare Zahlen zum Ausmaß der geschilderten Missbrauchspraktiken liegen nicht vor. In einem Interview mit der WDR-Sendung MONITOR im Jahre 2015 sprach der amtierende Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock kurz nach seiner Amtseinführung davon, dass von ca. 15.000 Red Notice-Fahndungen jährlich lediglich 0,3 Prozent wegen Rechtsverstößen gelöscht würden, nachdem sie durch die Betroffenen angefochten und durch die Organisation überprüft worden seien. Was zunächst wenig klingt, stellt doch immerhin ein Eingeständnis dar, dass mindestens 45 Menschen pro Jahr rechtswidrig verfolgt werden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen: Zum einen steht zu befürchten, dass viele zu Unrecht Verfolgte – etwa mangels Kenntnis der Ausschreibung oder mangels finanzieller Ressourcen – überhaupt nicht in der Lage sind, gegen ihre Ausschreibung vorzugehen; zum anderen sind von diesen Zahlen die stetig wachsende Anzahl von Diffusionen, die keiner rechtlichen Prüfung durch Interpol-Generalsekretariat unterliegen und bis vor kurzem auch nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten, noch gar nicht erfasst.

Rechtsschutzmöglichkeiten

Wer zu Unrecht zum Gegenstand einer Red Notice oder Diffusion wird und damit potentiell weltweit der Gefahr der Verhaftung ausgesetzt ist, steckt regelmäßig in einem juristischen Albtraum fest, dem zu entkommen ohne sachkundige Verteidigung nahezu unmöglich ist: Zwar kann die missbräuchliche Red Notice oder Diffusion vor der sog. Kommission für die Kontrolle der Dateien von Interpol angefochten werden. Deren Entscheidungen fallen allerdings meist erst Monate nach Antragstellung und entfalten zudem für nationale Gerichte keine Bindungswirkung. Zudem kann das Verfahren dort nur in den vier Amtssprachen Interpols (Englisch, Spanisch, Arabisch, Französisch) geführt werden – einen Anspruch auf Übersetzung in die eigene Sprache gibt es ebenso wenig wie auf die Beiordnung eines Rechtsbeistandes. Und selbst wenn die Kommission einen Missbrauch feststellt, kommt dies für die Betroffenen oft zu spät, denn nur die Festnahme und der vorläufige Auslieferungshaftbefehl werden auf das Interpol-Fahndungsersuchen gestützt, die weitere Auslieferungshaft stützt sich dagegen auf die Auslieferungsunterlagen, die im bilateralen diplomatischen Verkehr ausgetauscht werden. Dadurch erhält der ersuchende Staat, der die Festnahme der betroffenen Person zunächst durch eine missbräuchliche Red Notice oder Diffusion erreicht hat, die Möglichkeit, dem Auslieferungsersuchen andere Tatsachen zugrunde zu legen oder die zu übersendenden Unterlagen dem Prüfungsmaßstab des ersuchten Staates anzupassen.

Ausblick

Im Deutschen Bundestag scheinen sich bisher leider nur die Fraktionen DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen des geschilderten Missbrauchsproblems anzunehmen (z.B. BT-Dr. 18/409, 18/6926, 19/75). Deren kritischen Nachfragen hat sich die Bundesregierung bisher entweder durch Allgemeinplätze oder mit Hinweis darauf entzogen, eine Antwort könne die auswärtigen Beziehungen oder den internationalen Fahndungsverkehr beeinträchtigen (z.B. BT-Dr. 19/3384, S. 74). Bisweilen lassen die Antworten der Bundesregierung dabei eine erstaunliche Unkenntnis der Abläufe bei Interpol erkennen oder wirken, als seien sie direkt von der Webseite Interpols abgeschrieben (z.B.