Nach wie vor unterentwickelt
Zur trägen Evolution des jungen Extremismusphänomenbereichs der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates"
Der Extremismusphänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ wurde im kürzlich vorgestellten Verfassungsschutzbericht zum zweiten Mal aufgeführt. Die vielen Fragen und die Kritik, die sich um seine Bezeichnung und Beschreibung drehten und nach seiner Einführung letztes Jahr aufkamen, konnten auch diesmal kaum ausgeräumt werden. Ärgerlich, denn die Defizite gehen zu Lasten der Extremismusprävention.
Im Zuge der Protestbewegungen gegen die Coronapolitik hatten sich seit 2020 zunehmend radikalisierende Gruppierungen gebildet, die in Teilen durch strafrechtlich relevantes Verhalten und der Bedrohung staatsschutzbezogener Rechtsgüter bzw. der Verachtung mehrerer Verfassungsgrundsätze wie dem Rechtsstaatlichkeits- oder Demokratieprinzip auffielen. Das BfV teilte in der Folge in seinem Bericht für 2021 mit, dass es etwaige Personengruppen unter der neuen Kategorie „Verfassungschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ auf den nachrichtendienstlichen Radarschirm genommen hat. Dieser Phänomenbereich, der nach seiner Einführung wegen seiner Namensgebung und Beschreibungsweise vor allem von verfassungsrechtlicher Seite Kritik erfuhr, wurde nun in gleicher Form im aktuellen Verfassungsschutzbericht weitergeführt. Die Bezeichnung ignoriert berechtigte Kritik nicht nur, der Phänomenbereich hat sich auch inhaltlich kaum weiterentwickelt und wurde nur stellenweise geringfügig ausformuliert, sodass er als Grundlage für die Extremismusbekämpfung und -prävention nach wie vor stark defizitär ist. Auf welches Milieu macht die VDS aufmerksam? Welche Mittel, welche sozialen Hintergründe und politischen Zielvorstellungen sind es, die die Grundlage schaffen, um als verfassungsfeindlich eingestuft zu werden und in der Folge nachrichtendienstliche Aufmerksamkeit zu erfahren? Und was lässt sich daraus für die Extremismusprävention ableiten? Spoiler: (Zu) Wenig.
Der Phänomenbereich ist ex positivo zu definieren
Um den diesjährigen Bericht zu kommentieren, bedarf es eines kurzen Blicks zurück. Die Einführung des 2021 gegründeten Phänomenbereichs mutete in seiner Beschreibung bereits relativ dünn an, sprach er doch nur davon, dass die in den Protesten geäußerte Kritik (hauptsächlich gegenüber der Coronapolitik) über „legitimen Protest hinaus“ gehe, indem sie Verfassungsorgane „verächtlich“ mache, gegen sie „agitiere“ und ihnen „Legitimität abspreche“ (S.112). Dabei artikuliert der Bericht eine behördliche Irritation hinsichtlich der Kategorisierung des beobachteten Phänomens. So ließen sich die Eigenschaften bestehender Extremismuskategorien, wie z.B. Rechts- oder Linksextremismus, nicht übertragen, um die beobachteten Personengruppen bzw. ihre Handlungsweise einordnen und beurteilen zu können. Die Einordnung in das Links-Rechts-Spektrum erscheint dafür nicht funktional. Gleichzeitig sind die genannten Eigenschaften zu basal, um eine eigenständige Erfassung und Typologisierung zu ermöglichen, denn die benannten Verhaltensweisen, verächtlich zu agitieren und Legitimität abzusprechen, sind Bestandteil der meisten Extremismusphänomenbreiche (Goertz 2022). Gleichzeitig verkörpern jene Protestierende typische Eigenschaften von anderen Extremismusphänomenbereichen (z.B. inegalitäre oder anarchistische Orientierungen) nur eingeschränkt und nicht durchgehend, wenn sie beispielsweise wegen einer empfundenen Corona-Diktatur den Sturz der Regierung planen. Am ehesten schienen Anknüpfungspunkte an das Reichsbürgertum und den Rechtsextremismus zu bestehen, aber der Kern der Radikalisierung und der Entwicklung einer Verfassungsfeindlichkeit scheint anders gelagert zu sein. Die beobachtbaren heterogenen, ideologischen und sozialen Milieus und ihre politischen Forderungen lassen laut Verfassungsschutzbericht auf keine bekannte Extremismusform schließen, sondern eröffnen die Frage, ob es sich um ein dezidiert neues Extremismusphänomen handelt. Die notwendige Definition ex positivo nimmt das BfV jedoch kaum vor; ebenso wenig die Landesämter für Verfassungsschutz, die alle den Phänomenbereich in gleicher oder ähnlicher Weise eingeführt haben. Das BfV beruft sich primär auf die mangelnde Passgenauigkeit des unter Extremismusverdacht stehenden Phänomens entlang der behördlich verwendeten Typologie. Die sich radikalisierenden Teile der Querdenken-Bewegung, auf die hier hauptsächlich referiert wird, hatten sicherlich Schnittmengen mit Reichsbürgern oder Rechtsextremisten, sind aber in ihrer Wesensbestimmung nicht als solche zu beschreiben.
Damit definieren die Verfassungsschutzbehörden ihren Phänomenbereich im Wesentlichen nur ex negativo und bleiben zu vage, um aussagekräftig zu sein. So wird das im aktuellen Verfassungsschutzbericht erstmals benannte Personenpotenzial von 1400 nicht aus einer Analyse entlang eines für den Phänomenbereich erarbeiteten Kriterien- oder Eigenschaftskatalogs gewonnen, sondern nur aus dem Bodensatz der Menge an verfassungsfeindlichen Personengruppen, die sich keinem anderen Bereich zuordnen ließen. Damit verkommt der neue Extremismusphänomenbereich zu einer Restekategorie, die einer präzisen Arbeit und aussagekräftigen Analyse einer Sicherheitsbehörde kaum angemessen ist. Die aussagekräftige Analyse ist aber erforderlich ist für eine effektive Präventionsarbeit. Zwar erscheint das Personenpotenzial von 1400 relativ übersichtlich, aber im Blick auf die politisch motivierte Kriminalität, die sich keinem Phänomenbereich zuordnen lassen kann, wird deutlich, dass das Problem größerer Natur ist. Wurden im Bericht von 2020 „nur“ 8.624 Straftaten in der Kategorie „nicht zuzuordnen“ vermerkt, so sind es im aktuellen Bericht zwei Jahre später bereits 24.080 Straftaten; ein Anstieg auf knapp das Dreifache. Auch wenn dieser Anstieg nicht automatisch und in Gänze dem Bereich der VDS zugeordnet werden muss, artikuliert er dennoch eine Veränderung in der Entwicklung extremistischen Potenzials und Kriminalität. Dass hier also eine Erklärungsnotwendigkeit besteht, was den Hintergrund dieser Entwicklungen und Straftaten angeht, erscheint evident. Entsprechend zu kritisieren ist die dünne Phänomenbeschreibung, wie zahlreiche Kommentierungen nach der ersten Vorstellung des Phänomenbereichs (vor allem von verfassungsrechtlicher Seite) deutlich machten.
Fragezeichen bei den Verfassungsschutzämtern
Die „diffusnebulöse“ (MOTRA 2021) Begrifflichkeit des neuen Phänomenbereichs suggeriert, dass die Verfassungsschutzämter die Protestagitationen eigenmächtig und potenziell willkürlich beurteilen. Hinzukommt, dass Kritik an oder Ablehnung von Verfassungsgrundsätzen zunächst sogar grundrechtlich geschützt ist und erst daraus abgeleitete zielorientierte Aktivitäten Grund zum sicherheitsbehördlichen Handeln gibt.1)
Es gibt für die bereits länger bestehenden Extremismusphänomenbereiche in den Verfassungsschutzberichten nicht nur Ausführungen dahingehend, dass ein bestimmtes Milieu, eine Gruppe oder Vereinigung verfassungsfeindlich agiert, sondern es wird auch erklärt warum: in welcher Hinsicht, mit welcher Ideologie, mit welchem konkreten Ziel, mit welchen Mitteln und in welchen Regionen. Hier zeigt der aktuelle Verfassungsschutzbericht im Fall der VDS erneut erhebliche Lücken. Es ist die Aufgabe der Verfassungsschutzämter eine Erklärung oder zumindest vollständige Beschreibung dessen bereitzustellen, was sie als verfassungsfeindlich erfassen (Lutterbeck 2021). Nicht nur für die Legitimation der eigenen Institution ist eine hohe explanative Kraft der Analyse für die Verfassungsschutzämter wichtig, sondern auch für all jene, die mit den Berichtsinformationen im Folgenden weiterarbeiten. Nicht zuletzt müssen auch die Betroffenen ein Bewusstsein über ihre Beobachtung haben können und eine wasserdichte Begründung dafür bekommen.
Die unterentwickelte Phänomenkonzeption führt zu einem pragmatischen Problem. Wie sollen Sicherheitsbehörden, Politik und zivilgesellschaftliches Engagement ein Extremismuspotenzial erfassen, adressieren und bekämpfen, wenn kaum klar ist, worin der beschriebene Extremismus wurzelt? Die Grundlage für jede Operationalisierung universeller, selektiver oder indizierter Extremismusprävention ist Wissen darüber, an welchem Punkt (bspw. Wertorientierungen oder sozialen Bedingungen) Bürgerinnen und Bürger sich von der demokratischen Gesellschaft entfernen und welche Richtung sie dabei einschlagen. Neben wissenschaftlicher Forschung tragen die Ausführungen der Verfassungsschutzämter einen wesentlichen Teil dazu bei, Problemlagen adäquat zu erfassen und weiterverarbeiten zu können (Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung). Für eine universelle Extremismusprävention gegenüber der VDS ist eine Motivationsanalyse essenziell. Während im Rechtsextremismus inegalitäre Gesellschaftsbilder und Nationalismus wesentliche Motivgrundlagen zum extremistischen Handeln bilden, ist im Falle der VDS unklar, wovon sie sich leiten lässt. Die Virulenz von Verschwörungstheorien scheint im Phänomenbereich VDS besonders prägend und handlungsleitend zu sein2) und in der Folge zu „verschwörungsideologisch induzierten Straftaten“ (Rocho 2022) zu führen. Verschwörungstheorien konstruieren und ordnen politische und soziale Wirklichkeit in einer bestimmten Weise. Damit sind sie eher Ausdruck einer Weltanschauung und nicht die Weltanschauung selbst, denn Verschwörungstheorien können inhaltlich beliebige ideologische Ausrichtungen annehmen.3) Hier verweist das BfV nach wie vor nur auf ideologische Schnittmengen mit anderen Phänomenbereichen. Es erklärt nicht, wie erstens eine Verbindung von verschiedenen Extremismusphänomenen möglich ist, die sich untereinander durchaus feindlich gegenüberstehen, und zweitens, welche ideologischen Elemente wegweisend zu sein scheinen. Etwa auf die Präsenz antisemitischer Narrative zu verweisen, ist wenig aussagekräftig, denn diese sind nicht distinktiv, weil sie sich in vielen Extremismusformen finden lassen (obgleich es die Dringlichkeit der Bekämpfung des Antisemitismus unterstreicht). Ist die VDS primär geleitet von inegalitären Vorstellungen? Von libertären? Anarchistischen?
Erst mit der Definition ideologischer Hauptbausteine lässt sich ein Extremismuspotenzial praktisch in der selektiven – sprich fallorientierten – Prävention erkennen. Worauf sollten Sicherheitsbehörden, Politik und Zivilgesellschaft achten, um speziell diesem Extremismusphänomen zu begegnen? Der Verweis auf Verschwörungstheorien allein greift hierfür zu kurz, auch wenn er zumindest ein Anfang ist. Zwar beschreibt der Verfassungsschutzbericht als verbindendes Element der heterogenen Milieus, die sich unter dem Dach der VDS zusammenfinden, die kategorische Ablehnung bestehender staatlicher Ordnung, aber diese Eigenschaft ist nicht distinktiv. Sie steckt bereits im Extremismusbegriff der Sicherheitsbehörden und ist somit zirkulär und selbstreferenziell. Der kleine gemeinsame Nenner der Systemablehnung und der fehlende „systempolitische Gegenentwurf“ erzeugen nachvollziehbarerweise ein Fragezeichen bei den Verfassungsschutzämtern.
Begründete Problemwahrnehmung mit Radikalisierungspotenzial
Wäre es aber vielleicht ein Anfang, den nicht über sich selbst hinausgehenden ideologischen Nihilismus als Grundlage einer Analyse zu machen, die weniger nach demokratieinkompatiblen Zielvorstellungen als mehr nach demokratieinkompatiblen Selbstverständnissen fragt? Möglicherweise handelt es sich um Inkompatibilitäten, die aus einer spätmodernen Gesellschaftsstruktur entspringen. Analysen in diese Richtung sind zuletzt z.B. von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey vorgelegt worden. Auch Jürgen Habermas vermutet ein wachsendes und längerfristiges „Potenzial eines ganz neuen, in Form libertärer Formen auftretenden Extremismus der Mitte“. Wo auch immer die Wurzeln dieser Form des Extremismus liegen – mit ihm kann erst gearbeitet werden, wenn er ex positivo besser beschrieben wird.
So ist es nun an den Verfassungsschutzbehörden, ihre begründete Problemwahrnehmung auf stabilere Beine zu stellen und Problemdefinition und -beschreibung zu präzisieren. Wie sonst sollten sich schließlich auch Ansätze für eine indizierte Extremismusprävention – etwa Aussteigerprogramme – entwerfen lassen? Aussteigen woraus überhaupt? Eine klare Milieubildung, die eine entsprechende Bindungskraft hat, scheint es den Berichten zufolge nur begrenzt zu geben.
Für jede Stufe und Lokalität der Extremismusprävention ist die Analysetätigkeit der Verfassungsschutzämter eine wichtige Grundlage. Entsprechend wichtig ist die Weiterentwicklung eines jungen Phänomenbereichs, der auch über die akuten Coronaproteste und -bewegungen hinaus anhaltendes Radikalisierungspotenzial zu erfassen vermag.
References
↑1 | Andreas Heusch /Klaus Schönenbroicher, Verfassungsrechtliche Überlegungen zu dem neuen Themenfeld des Verfassungsschutzes »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. In: Deutsches Verwaltungsblatt, Nr. 19, 2022. |
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↑2 | Tobias Engelstätter, Delegitimierung des Staates durch Verschwörungsmythen – ein Fall für das Staatsschutzrecht?. In: Zeitschrift für das gesamte Sicherheitsrecht, Nr. 3,2022. |
↑3 | Thórisdóttir, Hulda, Silvia Mari, and André Krouwel. Conspiracy theories, political ideology and political behaviour. Routledge handbook of conspiracy theories. Routledge, 2020. 304-316. |