20 Dezember 2020

Nächtliche Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend

Wo bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

Im Zuge des Kampfes gegen die weitere Ausbreitung des Corona-Virus sieht die ab Mittwoch, dem 16. Dezember 2020 geltende Elfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in § 3 für den ganzen Freistaat eine flächendeckende, generelle nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 Uhr abends und 5 Uhr morgens vor. Diese soll nach Auskunft von Ministerpräsident Söder auch an Heiligabend gelten. Mit der nächtlichen Ausgangssperre an Heiligabend sind erhebliche Grundrechtseingriffe verbunden, die in dieser Form dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht genügen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf das Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie, aber auch bezüglich der Religionsfreiheit. Selbstverständlich ist der Staat auf Grund von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet, zum Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und zum Schutz der Risikogruppen vor einer Corona-Infektion die erforderlichen – und gegebenenfalls auch einschneidende – Maßnahmen bis hin zu einem Lockdown zu treffen, doch darf der Gesundheitsschutz nicht auf Kosten sämtlicher anderer Grundrechte verabsolutiert werden.

Schutz von Ehe und Familie

Art. 6 Abs. 1 GG schützt sowohl Ehe als auch Familie, wobei das geschützte Verhalten alle Bereiche des ehelichen und familiären Zusammenlebens umfasst. Damit werden nicht nur die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sondern auch jene zwischen Großeltern und EnkelInnen sowie zwischen nahen Verwandten in der Seitenlinie geschützt, sofern zwischen ihnen eine von familiärer Verbundenheit geprägte, enge Bindung besteht. Dementsprechend fällt auch die Entscheidung von Familien, Heiligabend gemeinsam zu verbringen, in den Schutzbereich des Grundrechts. Staatliche Maßnahmen, die dies unterbinden, müssen dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Für Corona-Schutzmaßnahmen schreibt neuerdings die Rechtsgrundlage des § 28a Abs. 6 IfSG die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor.

Zwar erlaubt die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, dass an Heiligabend neben dem eigenen Haushalt vier weitere nahe Verwandte eingeladen dürfen, doch dürfen diese nach 21 Uhr nicht mehr das Haus verlassen, um zurück nach Hause zu fahren. Damit gibt der Staat den Familien vor, dass die gemeinsame Feier des Weihnachtsfestes bis spätestens 21 Uhr beendet sein muss. Als Alternative schlägt Ministerpräsident Söder vor, dass die Verwandten über Nacht bleiben. Diese Regelung genügt schon deshalb nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil es an der Geeignetheit fehlt. Nimmt man als legitimen Zweck der nächtlichen Ausgangssperre den Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und den Schutz von Risikogruppen vor einer Corona-Infektion, liegt es auf der Hand, dass die nächtliche Ausgangssperre keineswegs dazu beiträgt, diese Ziele zu erreichen. Ganz im Gegenteil, wenn Verwandte über Nacht bleiben, steigt die Infektionsgefahr sogar an, da davon auszugehen ist, dass sich mehrere Personen dann ein Zimmer oder zumindest die sanitären Anlagen teilen, mithin viel mehr Zeit auf engstem Raum miteinander verbringen, als dies der Fall wäre, wenn die Verwandten nach dem gemütlichen Beisammensein und möglicherweise dem Besuch der Christmette das Haus wieder verlassen. Der Infektionsschutz wird auf diese Weise jedenfalls ad absurdum geführt.

Fraglich ist zudem die Erforderlichkeit einer nächtlichen Ausgangssperre insgesamt. Selbst wenn sich eine Minderheit nicht an die geltenden Regeln halten sollte, rechtfertigt dies, anders als der sächsische Ministerpräsident Kretschmer meint, nicht derart gravierende Grundrechtseingriffe gegenüber der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, die den Schutzmaßnahmen penibel Folge leistet. Nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen ist gegen denjenigen vorzugehen, der polizeirechtlich verantwortlich, mithin StörerIn ist. Dies gilt etwa auch im Versammlungsrecht, wo eine friedliche Versammlung auch nicht allein deswegen aufgelöst werden darf, weil sich eine kleine Minderheit unfriedlich verhält. Triebe man diese Argumentation bezüglich der uneinsichtigen Minderheit auf die Spitze, müsste es ganzjährig nächtliche Ausgangssperren geben, weil eine kleine Minderheit von Menschen dazu neigt, gerade nachts Gewaltverbrechen zu begehen.

Statt gravierender Grundrechtseingriffe gegenüber einer grundsätzlich regelkonformen Mehrheit bräuchte es daher ein gezieltes Vorgehen gegen diejenigen, welche die geltenden Regeln systematisch missachten. Erschwerend kommt hinzu, dass Politiker wie der saarländische Ministerpräsident Hans die nunmehr geltenden Maßnahmen damit begründen, dass „die Menschen […] jetzt auch eine klare Führung in dieser Pandemie [brauchen]“. Mit dem Schutz des Gesundheitssystems und der Risikogruppen haben derartige Aussagen freilich wenig zu tun, sondern sind bestenfalls Ausdruck von Hilflosigkeit und schlimmstenfalls Symptom einer Instrumentalisierung tiefgreifender Grundrechtseinschränkungen zu politischen Zwecken.

Jedenfalls hat die Geltung der nächtlichen Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend zur Folge, dass nur manche Familien nach 21 Uhr Weihnachten zusammen verbringen können, nämlich diejenigen, die über ein eigenes Haus oder zumindest über eine hinreichend große Wohnung verfügen, um Gäste zu beherbergen. Für die anderen, die sich, wenn sie beispielsweise als „Helden und Heldinnen des Alltags“ in der Pflege beschäftigt sind, lediglich eine kleine 2-Zimmer-Wohnung leisten können, bleibt nur zu sagen: „In diesem Jahr kein gemeinsames Weihnachten nach 21 Uhr, in unserer Herberge ist kein Platz.“ Dies bedeutet auch, dass die gemeinsame Mitfeier der Christmette des Papstes aus Rom über TV oder Internet für solche Familien nicht möglich ist, denn diese beginnt erst um 19.30 Uhr und wird bis 21 Uhr nicht beendet sein.

Natürlich kann argumentiert werden, dass diese Familien dann eben früher feiern und bei Bedarf auch einem zeitlich früher stattfindenden (TV-)Gottesdienst beiwohnen müssen, doch sollte wirklich überlegt werden, ob in einem Land, dessen Staatsregierung sich dafür eingesetzt hat, dass die christliche Prägung in die Verfassung aufgenommen wird, die Wohnverhältnisse und damit indirekt die finanzielle Situation darüber entscheiden sollen, mit wem und wie lange Familien ihr Weihnachtsfest feiern können. Eine solche Haltung bedeutet eine soziale Diskriminierung erster Güte.

Religionsfreiheit

Die nächtliche Ausgangssperre auch an Heiligabend stellt darüber hinaus einen Eingriff in die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit dar, nachdem der Gottesdienstbesuch nach dem Willen der bayerischen Staatsregierung nicht unter die Ausnahmeregelung des § 3 Nr. 7 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung subsumiert werden soll. Die Religionsfreiheit umfasst das Recht des/der Einzelnen, religiöse Überzeugungen zu bekennen und sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten.

Auch die Religionsgemeinschaften als solche können sich auf die Religionsfreiheit berufen, soweit es um die eigene religiöse oder weltanschauliche Betätigung oder die Verkündigung des Glaubens geht. Daher ist auch die Feier bzw. die Teilnahme an einer Christmette von der Religionsfreiheit geschützt, ebenso die Entscheidung, wann eine solche Christmette stattfinden soll. Die Christmette ist von ihrem liturgischen Charakter und ihrem Inhalt her konstitutiv eine Mitternachtsmesse, da in ihr auf die nächtliche Geburt des Erlösers Bezug genommen wird. Eine Feier zu einem Zeitpunkt außerhalb der Nacht stellt eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer religiösen Bedeutsamkeit dar. Müssen Christmetten nun abgesagt oder zeitlich vorverlegt werden, impliziert dies daher einen schwerwiegenden Eingriff in die Religionsfreiheit, der auch als nicht-finaler Eingriff in die Religionsfreiheit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen muss.

Geht man davon aus, dass mit der nächtlichen Ausgangssperre an Heiligabend der Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und der Schutz von Risikogruppen vor einer Corona-Infektion bezweckt werden soll, ist schon die Eignung der Maßnahme fraglich. So ist für einen bestmöglichen Infektionsschutz anzustreben, möglichst viele Christmetten mit jeweils einer begrenzten Zahl an Teilnehmern anzubieten. Dies kann jedoch nicht erreicht werden, wenn faktisch sämtliche Christmetten vor 19.00 Uhr beginnen müssen und gleichzeitig – worüber der Staat nicht zu befinden hat – dem Charakter der Christmette als „Nachtmesse“ Rechnung getragen werden soll. Stattdessen steigt die Gefahr, dass in den zeitlich früheren Christmetten die Kirchen im Rahmen des nach den Hygienekonzepten Zulässigen bis auf den letzten Platz besetzt sind und sich das Übertragungsrisiko dadurch erst recht erhöht.

Daneben ist die Angemessenheit einer solchen nächtlichen Ausgangssperre an Heiligabend im Hinblick auf die Religionsfreiheit nicht gegeben. Selbstverständlich ist der Staat auf Grund von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet, zum Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung und zum Schutz der Risikogruppen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, doch müssen kollidierende Grundrechte, zu denen die Religionsfreiheit gehört, im Rahmen der Abwägung ebenfalls berücksichtigt werden. Dabei ist zu bedenken, dass gerade in schwierigen Zeiten wie der Corona-Pandemie für viele Menschen die Religion einen besonderen Rückhalt gewährt. Dem kann keineswegs dadurch Rechnung getragen werden, dass man diese Menschen auf TV-Gottesdienste oder zeitlich früher stattfindende Christmetten verweist. Erstere stellen schon deshalb keinen adäquaten Ersatz dar, da in diesem Rahmen der – ebenfalls von der Religionsfreiheit geschützte – Sakramentenempfang nicht möglich ist. Letztere werden in der Regel nicht besucht werden können, da die Kirchen und Pfarrgemeinden im Vertrauen auf die früheren Aussagen der bayerischen Staatsregierung bereits seit Anfang Dezember Platzkarten für sämtliche Christmetten ausgegeben haben und dementsprechend diese Gottesdienste vielfach bereits „ausgebucht“ sein werden. Hinzu kommt, dass die beiden großen Kirchen die mit den zuständigen Behörden abgestimmten Hygienekonzepte einhalten und sich dementsprechend Gottesdienste der katholischen und evangelischen Kirche in den vergangenen Monaten nicht als Super-Spreading-Ereignisse erwiesen haben, weshalb auch die WissenschaftlerInnen der Leopoldina keinen Grund dafür sehen, den Besuch von Gottesdiensten über Weihnachten zu verbieten.

Politische Verantwortung für unverhältnismäßige Maßnahmen

Natürlich richtet sich das Virus, wie Staatskanzleichef Herrmann es formulierte, „nicht nach dem Kirchenjahr“, genauso zutreffend ist jedoch, dass der Mensch nicht auf das nackte Überleben reduziert werden darf. Weder Gesundheitsschutz noch Religionsfreiheit oder andere Grundrechte genießen absoluten Vorrang. Über allem steht nur die Menschenwürde. Manchmal scheint das in diesen Tagen in Vergessenheit zu geraten. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die bayerische Staatsregierung – ebenso wie die übrigen Landesregierungen – sich auf medial als entschlossenes Handeln inszenierbare Maßnahmen wie nächtliche Ausgangssperren konzentriert haben, deren Nutzen zur Infektionsbekämpfung aber höchst fragwürdig ist. Gleichzeitig erkranken immer mehr Menschen in Pflegeheimen an COVID-19 und versterben zu einem relevanten Teil daran, während die politisch Verantwortlichen aufgrund der Orientierung nur an einem Teil der wissenschaftlichen Empfehlungen ihrer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber diesen Menschen und anderen vulnerablen Personengruppen seit Monaten nicht hinreichend nachgekommen sind (zu dieser Kritik s. auch Lindner). Spätestens nach Ende der Pandemie wird dieses Versäumnis, ebenso wie unverhältnismäßige Maßnahmen wie die in Bayern auch an Heiligabend geltende nächtliche Ausgangssperre, rechtlich und politisch aufzuarbeiten sein.


SUGGESTED CITATION  Edenharter, Andrea: Nächtliche Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend: Wo bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?, VerfBlog, 2020/12/20, https://verfassungsblog.de/nachtliche-ausgangssperre-in-bayern-auch-an-heiligabend/, DOI: 10.17176/20201220-172619-0.

8 Comments

  1. Matthias Friehe So 20 Dez 2020 at 15:49 - Reply

    Liebe Andrea, aus Deinem Beitrag lese ich den Schmerz darüber heraus, dass dieses Jahr nicht mit einem versöhnlichen Weihnachtsfest endet. Dieses Gefühl teile ich. Trotzdem scheinen mir der Heiligabend und vor allem die mit ihm verbundenen Rituale in Deinem Text selbst ein wenig verabsolutiert zu werden. So vermisse ich in Deiner Abwägung eine konkrete Kenntnisnahme der Situation auf den Intensivstationen, auf denen zur Stunde immer mehr Menschen um ihr Leben bzw. das Leben ihrer Patienten kämpfen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg kann man sich nicht mehr ohne weiteres darauf verlassen, dass im Krankenhaus überhaupt rechtzeitig eine adäquate Behandlung erfolgt. Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Frage, ob Heiligabend nun bis 21 Uhr oder bis 23 Uhr gefeiert werden kann. Rechtlich werden in dieser Auseinandersetzung Grundrechtseingriffe zulässig, die unter normalen Umständen selbstverständlich undenkbar bleiben. Kirchlich sollte das Schriftwort „Suchet der Stadt bestes“ (Jer 29,7) die Verantwortlichen leiten – heiligt auch in diesem Jahr das alljährliche Ritual? Das Presbyterium meiner Kirchengemeinde ruft die Gemeinde dieses Jahr zum Gebet zu Hause auf und das finde ich eine geistreiche Erkenntnis.

    Gesegnete Weihnachten!
    Matthias

    • Somebody Mo 21 Dez 2020 at 22:45 - Reply

      „So vermisse ich in Deiner Abwägung eine konkrete Kenntnisnahme der Situation auf den Intensivstationen, auf denen zur Stunde immer mehr Menschen um ihr Leben bzw. das Leben ihrer Patienten kämpfen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg kann man sich nicht mehr ohne weiteres darauf verlassen, dass im Krankenhaus überhaupt rechtzeitig eine adäquate Behandlung erfolgt. Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Frage“

      Diesbezüglich auch bitte folgenden Absatz auf der letzten Seite des epidemiologischen Bulletins zur Kenntnis nehmen:
      https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/50_20.pdf?__blob=publicationFile

      „Die Aktivität der akuten Atemwegserkrankungen (ARE-Raten) in der Bevölkerung […] und liegt weiterhin deutlich unter dem Niveau der Werte der Vorsaisons.“ „ Die Zahl stationär behandelter Fälle mit akuten respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle) […]vergleichbar mit dem Höhepunkt der Grippewellen in den Vorjahren.“

      Wenn Sie also Sorge um eine adäquate Behandlung haben, dann wäre es angebracht gewesen diese auch schon „in den Vorjahren“ zu haben.

      • Ferdi Mi 23 Dez 2020 at 12:33 - Reply

        Der Unterschied ist der folgende: Bei den Grippewellen in den Vorjahren mussten (trozt womöglich ähnlicher Fallzahlen) deutlich weniger Menschen künstlich beatmet werden. Nennen Sie mir doch mal eine Grippewelle, bei der Patienten mit dem Hubschrauber in andere Bundesländer geflogen werden mussten, weil keine Intensivplätze mehr frei waren.

  2. Dr. Detlef Gottschalck Mo 21 Dez 2020 at 15:05 - Reply

    Sehr geehrte Frau Edenharter,
    sehr geehrter Herr Friehe,

    auch aus kirchenferner