Politische Verantwortung in der Corona-Krise
Spätestens nach dem Abflauen der derzeitigen Dynamik der Coronapandemie muss die Aufarbeitung der Coronapolitik beginnen – auch um für die Zukunft zu lernen. Eine Diskussion über die politische Verantwortung der maßgeblich handelnden Personen ist unausweichlich. Sie muss transparent und fair geführt werden. Wichtige Voraussetzungen dafür sind die Trennung von rechtlicher, moralischer und politischer Verantwortung, die Bestimmung der Perspektive, aus der politische Entscheidungen beurteilt werden sowie die Maßstäbe, anhand derer die Bewertung der Coronapolitik erfolgt. In formeller Hinsicht ist nach dem institutionellen Rahmen zu fragen, in dem politische Verantwortung diskutiert werden kann.
Wir werden uns viel verzeihen müssen“
„Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn im April 2020 im Deutschen Bundestag – noch in der ersten Phase der Pandemie. Damals durfte man rätseln, was der Minister damit wohl genau meinte. Dann kam der Sommer und das Zitat geriet in Vergessenheit. Mittlerweile wurde das Land in den zweiten „Lockdown“ versetzt und man erinnert sich wieder an diese Aussage. Wer sollte wem was verzeihen und warum? Anhand welcher normativen Maßstäbe – moralischer, rechtlicher? Jedenfalls barg und birgt der Satz des Gesundheitsministers einen wichtigen Kern, nämlich den der politischen Verantwortung für das Tun, aber auch das Unterlassen in der Corona-Pandemie.
Der Satz verweist auf die Zeit nach der Pandemie oder zumindest nach deren Abflauen. Er fordert – im wohl verstandenen Sinne – die Aufarbeitung des Handelns der Politik in der Krise nach der Krise ein. Er erteilt einem psychologisch verständlichen Verdrängen von Verantwortung ebenso eine Absage wie einem politisch motivierten Nichtzurückblickenwollen. Die Wunden, Begleitschäden und Folgewirkungen der aktuellen Coronapolitik werden gewaltig sein, nicht nur ökonomisch und sozial – und diese Folgen werden zwangsläufig Fragen zu einer Diskussion über politische Verantwortung führen, nicht für das Virus an sich, wohl aber für den politischen Umgang damit.
Eine solche Diskussion mag man, wenn man sie für politisch nicht opportun hält, als unangemessene „Abrechnung“ oder „Besserwisserei“ aus einer kommoden ex post-Sicht empfinden. Man mag sie als unnützen Blick in die Vergangenheit abtun – gelte es doch jetzt, die politischen Kräfte zu bündeln und auf die Überwindung der Folgen der Coronapandemie zu fokussieren. Doch die Debatte über die Verantwortung für politisches Handeln wird sich nicht mit der Notwendigkeit der Bewältigung der Folgen solchen Handelns unter der Decke halten lassen. „Wir müssen jetzt nach vorne schauen“ wäre keine politisch adäquate Krisenaufarbeitung. Solche ist aber unabweisbar, um für die Zukunft zu lernen. Auch die Politik unterliegt trotz ihrer dynamischen und mitunter disruptiven Eigengesetzlichkeiten mindestens grundsätzlich den Geboten kritischer Rationalität.
Politische Einseitigkeiten in der Corona-Politik oder gar Fehler zu analysieren und vor allem zu benennen dient dazu, solche in der Zukunft zu vermeiden. Politische Verantwortung für das Handeln in der Krise ist weniger ein Projekt der Vergangenheitsbewältigung als ein solches der Zukunftsvorsorge für den Umgang mit künftigen Krisen vergleichbarer Art. Zwar mag eine politische Aufarbeitung der gegenwärtigen Krisenpolitik dazu führen, dass die jetzt Handelnden persönliche politische Konsequenzen aus ihrer politischen Verantwortung ziehen und diese dadurch greifbar machen (müssen). Das ist in einer Demokratie mit parlamentarischer Verantwortung von Gubernative und Exekutive indes normal und als Argument gegen eine politische Aufarbeitung des Geschehenen untauglich. Darüber hinaus ist die transparente Übernahme politischer Verantwortung in einer Demokratie essenziell, um den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung im Rahmen ihrer aktiven Partizipation am politischen Meinungsbildungsprozess, zumal im Rahmen künftiger Wahlen zu geben.
Die tatsächliche wie politische Aufarbeitung von Krisenpolitik bedarf allerdings – stärker als dies in „normalen“ Zeiten der Fall ist – einiger argumentativer und institutioneller Rahmenbedingungen, die eine faire Diskussion ermöglichen und den in solchen Kontexten zu erwartenden Besserwisser-Reflexen entgegenwirken.
Rechtliche, moralische, politische Verantwortung
Die Zuweisung und Übernahme politischer Verantwortung für politisches Handeln hat zunächst nichts mit rechtlicher oder moralischer Vorwerfbarkeit oder Schuld zu tun. Entscheidend für das Gelingen einer politischen Aufarbeitung der Corona-Politik ist eine grundsätzliche Trennung der normativen Kategorien. Zwar wird rechtswidriges oder unmoralisches, insbesondere eigennütziges Verhalten meist auch politische Zurechnung zur Folge haben. Gleiches gilt aber auch umgekehrt: Rechtmäßiges Handeln befreit alleine nicht von politischer Verantwortung.
Vielmehr existiert im Bereich des Politischen regelmäßig ein weiter Spielraum rechtmäßiger Handlungsoptionen, deren Auswahl oder Schwerpunktsetzung als falsch, fehlgewichtet oder schlicht unzureichend, also politisch bewertet werden kann. Kurz: Eine politische Entscheidung ist nicht bereits deswegen der politischen Kritik entzogen, weil sie rechtmäßig ist – von der Sondersituation abgesehen, dass Verfassung oder Gesetz zu eben dieser Entscheidung gezwungen hätten. Auf die Coronapolitik bezogen: Dass der kürzlich in das Infektionsschutzgesetz aufgenommene § 28a den aktuellen „Lockdown“ rechtlich stützt oder zumindest zu stützen scheint, heißt nicht, dass die Entscheidungen nicht doch (zumindest teilweise) politisch falsch oder zu einseitig sein könnten.
Und die Rechtmäßigkeit der derzeitigen repressiven Seuchenbekämpfungs-Maßnahmen bedeutet schon gar nicht, dass anderweitiges politisches Unterlassen insbesondere im präventiven Bereich des Schutzes vulnerabler Gruppen oder Einrichtungen gegen politische Kritik und Verantwortung immun wäre. Dass der Staat im repressiven Bereich gerade noch nicht übermäßig handelt, führt nicht zur politischen Legitimation unzureichenden Handelns an anderer Stelle. Die Wahrung des Übermaßverbotes im Bereich der infektionsschutzrechtlichen Grundrechtseingriffe lässt nicht den Schluss zu, dass ein Untermaß beim Schutz vulnerabler Personen und Einrichtungen akzeptabel und der politischen Verantwortung entzogen wäre. Untermaß an der einen Stelle kann durch eine Ver-meidung von Übermaß an anderer Stelle nicht kompensiert werden.
Konkret: Dass es monatelang versäumt worden zu sein scheint (jedenfalls weisen die Zahlen und Statistiken des RKI darauf hin), effektive Schutzkonzepte für Einrichtungen, in denen von COVID19 besonders gefährdete Menschen leben, tatsächlich zu implementieren, rechtfertigt zwar nicht den Schluss, dass die nun getroffenen „Lockdown“-Maßnahmen unverhältnismäßig und rechtswidrig wären. Hier indes greifen die politische Bewertung und Verantwortung: Mag der Staat in der Repression, im Schließen und Verbieten das Recht auf seiner Seite haben, so entfällt dadurch im Bereich der Prävention nicht die politische Verantwortung für Unzureichendes oder für Fokussierung auf Unwesentliches, wofür stellvertretend die kräfteraubende Diskussion über sog. „Beherbergungsverbote“ steht.
Die Perspektive
Wichtig für eine faire Zuweisung und dann auch Übernahme politischer Verantwortung ist eine angemessene Perspektive auf das Handeln der politisch verantwortlichen Personen in der Krise. Hier kann man aus der allgemeinen Gefahrenabwehr lernen: Es kommt auf die sog. „pflichtgemäße ex ante-Sicht“ der handelnden Personen an. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine Gefahrenabwehrmaßnahme aus tatsächlichen Gründen nicht geeignet oder nicht notwendig war, so bleibt sie doch rechtmäßig. Gerade bei neuen und massiven Gefährdungslagen wie der Corona-Pandemie gilt es den Grundsatz zu beherzigen: Rechtmäßig und damit auch politisch vertretbar oder gar geboten ist eine Maßnahme, wenn sie aus der Sicht eines besonnenen, eventuell fachlich beratenen Amtsträgers zur Abwehr einer Gefahr notwendig war.
Der Satz „Hinterher ist man immer schlauer“ muss auch im Rahmen der politischen Aufarbeitung der Corona-Politik beachtet worden. Weder ist hierfür nachträgliche Besserwisserei im Sinne eines „da hätte man doch einfach mal“ zuträglich noch wäre es redlich, den politisch handelnden Personen Hellseherei abzuverlangen. Zudem sollte für die politische Beurteilung gelten: Je dringender die Gefahr und je gewichtiger die bedrohten Rechtsgüter (Leben, Gesundheit), desto großzügiger hat nicht nur die rechtliche, sondern auch die politische Bewertung mit den handelnden Personen umzugehen.
Hierbei sind allerdings die zunehmende Dauer der Pandemie und der Zuwachs an medizinischen, insbesondere virologischen Kenntnissen darüber in die Beurteilung einzustellen. Wenn etwa mittlerweile feststeht, welche Menschen von der Krankheit in besonders gravierender Weise bedroht sind (betagte Menschen, Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen), wenn weiter feststeht, dass diese Menschen im Fall ihrer Infizierung zu einem besonders hohen Prozentsatz intensivpflichtig werden oder gar versterben, wenn drittens feststeht, dass sich das Virus besonders in Einrichtungen verbreitet, in denen diese Menschen leben, dann ist es nicht nur rechtlich, sondern auch politisch geboten, solche Einrichtungen in besonderer Weise zu schützen. Ob insofern das aus der ex ante-Sicht Notwendige und Mögliche getan oder versäumt worden ist, bedarf der Aufarbeitung. Die politische Kritik (und Zuweisung entsprechender Verantwortung) an einem Unterlassen des Gebotenen und Möglichen ist keine nachträgliche Selbstgerechtigkeit, sondern im Hinblick auf die Vermeidung künftiger Versäumnisse unerlässlich.
Die Maßstäbe
Des Weiteren kommt es auf die Maßstäbe an, die man der politischen Beurteilung der Corona-Politik zu Grunde legt und die mit der soeben behandelten Frage der Perspektive zwar zusammenhängen, jedoch davon zu unterscheiden sind. Inhaltliche Maßstäbe sind verschiedene denk-bar: statistische (Zahl der Infektionen und Todesfälle, R-Wert. etc.), ökonomische, soziale, bildungspolitische etc. Plausibel dürfte es sein, diejenigen Maßstäbe heranzuziehen, welche die Politik selbst zugrunde gelegt hat und die dort sowie in der Gesellschaft, von bestimmten Aus-nahmen abgesehen, unumstritten waren: der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Menschen. Dabei stand und steht vor allem die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems durch eine zu hohe Anzahl an gleichzeitig intensivpflichtig an COVID19 erkrankten Menschen im Vordergrund, die dazu führen würde, dass nicht mehr alle Menschen die erforderliche medizinische Behandlung erfahren können (auch außerhalb von COVID19).
Legt man diesen von der Politik selbst gesetzten Maßstab zu Grunde, sind zwei Dinge politisch geboten: Einmal das Ergreifen von repressiven Maßnahmen, die die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung eindämmen, um die Zahl der Gesamtinfektionen und damit die Zahl der intensivpflichtigen Erkrankten in einem vertretbaren Bereich zu halten (dies vor allem deswegen, weil nicht ausschließlich alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen von einem intensiv-pflichtigen Verlauf der Erkrankung betroffen sind). Das ist der Bereich der auf §§ 28, 28a, 32 IfSG gestützten Schutzmaßnahmen. Zum zweiten ist der aktive Schutz speziell derjenigen Personen geboten und in den Fokus zu nehmen, die ein besonders hohes Risiko für einen schwerwiegenden oder gar tödlichen Verlauf der Erkrankung haben.
Eine Politik, die das eine tut, aber das andere vernachlässigt, auf Repression setzt, aber aktiven Schutz stiefmütterlich behandelt, macht sich angreifbar. Beide Flanken, Eindämmung wie Schutz, unterscheiden sich strukturell fundamental voneinander: Eindämmung kann durch Einschränkungen und Verbote, durch Schließen und Verbieten erreicht werden, also durch einfache, wenig komplexe Maßnahmen. Wirksamer Schutz vulnerabler Personen und Einrichtungen hingegen ist ein komplexes Projekt. Ein „Lockdown“ ist mit einem Fingerschnippen schnell verhängt, die entsprechenden Verordnungen sind binnen Stunden verkündet, Polizei und Ordnungskräfte rasch auf der Straße. Ein „Lockdown“ bedarf keiner besonderen politischen Kreativität. Das Handwerkszeug des repressiven Staates ist grob und einfach, geradezu archaisch: Verbieten, Kontrollieren, Sanktionieren.
Das ist im Bereich aktiven Schutzes für besonders bedrohte Menschen grundsätzlich anders: Hier sind Kreativität und politisches Geschick erforderlich, es sind komplexe Fragen zu klären (von der Organisation konkreter Schutzmaßnahmen wie etwa systematische Testungen bis hin zu Finanzierungsfragen). Ein weiterer Unterschied: Repression ist anders als Prävention medial gut inszenierbar, insbesondere wenn sie mit Horrorszenarien garniert wird. So wurde etwa im Rahmen der Pressekonferenz zum Bund-Länder-Gipfel am 13.12.2020 zur Begründung des sogenannten „harten Lockdown“ von einem der beteiligten Politiker ohne jeglichen Beleg ausgeführt, es fände in Deutschland bereits „Triage“ statt. Derselbe Politiker hatte einige Tage zuvor in einer Talkshow die Forderung nach besonderen Schutzmaßnahmen für vulnerable Menschen mit der Bemerkung abgetan, man wolle die alten Menschen nicht „einsperren“.
An solche Aussagen möglicherweise anknüpfendes Unterlassen des eigentlich politisch Gebotenen und Möglichen bedarf zunächst der tatsächlichen Aufarbeitung und sodann der politischen Bewertung (ungeachtet einer Prüfung im Hinblick auf ein strafrechtlich relevantes Unter-lassen). Es gilt zu klären: Was wäre an Schutzkonzepten nötig gewesen? Welche Konzepte, insbesondere auch aus dem Bereich der Virologie und Epidemiologie lagen und liegen bereits auf dem Tisch und sind aus welchen Gründen nicht, unzureichend oder erst spät implementiert worden? Hierbei ist freilich der Vorbehalt des Möglichen im Blick zu behalten. Auch für die politisch Handelnden gilt der Maßstab: Was wäre realistischer Weise möglich gewesen und ist gleichwohl unterblieben? An ein solches Unterlassen kann und muss dann politische Verantwortung geknüpft werden.
Der institutionelle Rahmen
Hält man die tatsächliche und politische Aufarbeitung der Coronapolitik für sinnvoll und im Hinblick auf künftige Krisen für geboten, so fragt sich, in welchem Rahmen sie stattfinden kann oder soll. Zunächst stehen noch Hunderte von Hauptsacheentscheidungen der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte an, die bislang nahezu ausschließlich Beschlüsse im vorläufigen Rechtsschutz gefasst haben. An diese rechtliche Aufarbeitung kann sich eine Diskussion um politische Verantwortung schon deswegen kaum anschließen, weil der Bereich des Unter-lassens aktiver Schutzkonzepte bislang nicht Gegenstand von gerichtlichen Verfahren ist. An-knüpfen könnte die Aufarbeitung an die nach der Coronakrise anstehende Diskussion über Neuerungen oder gar eine umfassende Neukonzeption des Infektionsschutzgesetzes, die ein stärkeres Gewicht auf die Entwicklung und Etablierung von tatsächlichen Schutzkonzepten legen könnte und sollte. Davon unabhängig sollte die Diskussion auf den etablierten politischen, medialen und zivilgesellschaftlichen Diskursebenen unter maßgeblicher Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise geführt werden. Von den Ergebnissen dieser Diskussionen, insbesondere den Erkenntnissen in tatsächlicher Hinsicht, wird es abhängen, ob die Einrichtung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in den Blick zu nehmen ist.
Wenn sogar der (sehr geehrte!) Kollege Prof. Lindner von Markus Söders Kommunikationsstil genervt ist, weiß man, was Phase ist.
In der Sache ein Einwand – besser eine Nachfrage: Die Rechtmäßigkeit der derzeitigen repressiven Maßnahmen wird nur nebenbei b