09 February 2019

Notizen aus der Provinz: Brandenburg gibt sich ein Paritätsgesetz

Man hört ja sonst wenig von den deutschen Landtagen, und hin und wieder ertappt man sich bei der Frage, was die eigentlich das ganze Jahr über so machen. Der Landtag von Brandenburg hat uns davon immerhin nun einen Eindruck vermittelt, als er erster von allen ein Paritätsgesetz verabschiedete und damit die Aufmerksamkeit erzielte, um die ihn die anderen jetzt vielleicht heimlich beneiden. Parteien dürfen danach zu den Wahlen künftig nur noch geschlechterparitätisch besetzte Wahllisten einreichen, damit im Ergebnis genauso viel Frauen wie Männer (und vielleicht hier und da noch jemand vom dritten Geschlecht) im Parlament vertreten sind. Im Anschluss war es dann aber gleich wie immer, wenn hierzulande über solche Fragen diskutiert wird: Statt dass man überlegt, ob das prinzipiell eine gute Idee ist oder eher nicht, sind die Juristen schon da und belehren die anderen erst einmal darüber, ob sie das überhaupt dürfen. Wer dagegen ist, kommt deshalb sofort mit der Verfassung und fährt, wie es in einem der Beiträge hier ganz treffend formuliert wurde, gleich alle schweren Geschütze auf, die sich hier aufbieten lassen. Und die, die das Gesetz für längst überfällig halten, suchen und finden die Argumente, die es auch verfassungsrechtlich rechtfertigen können, vielleicht sogar geboten erscheinen lassen; mittlerweile liegen auch dafür ja genügend herum. Am Ende ergibt sich so das bekannte Spiel der Deutungen, bei dem man erst dann sicher weiß, welches die richtige war, wenn ein Verfassungsgericht dazwischenkommt und die seinige durchsetzt. Die mag man dann immer noch persönlich für grundfalsch halten, aber ist dann erst einmal die, die bis auf weiteres gültig ist. Davor fungiert Verfassung weniger als ein Gegenstand objektiver Befragung als vielmehr als – auch von Juristen gezielt eingesetztes – Argument in einer politischen Auseinandersetzung: ein Kampfinstrument, mit dem sich eigene Positionen durchsetzen und gegnerische noch am leichtesten verhindern lassen.

Vielleicht könnten wir es aber gerade in einem Fall wie diesem einmal anders probieren, indem wir uns zunächst noch einmal ein paar triviale Erkenntnisse über Verfassungen vor Augen führen: etwa dass diese als Texte ziemlich unbestimmt sind und erst einmal nur ganz allgemeine Richtpunkte setzen, an denen sich Politik in einem wiederum ganz allgemeinen Sinne zu orientieren hat. Oder dass sie bestimmte Leitideen über Sinn und Form staatlich-politischer Ordnung transportieren, deren sachgerechtes Verhältnis zueinander in Vorgängen gesellschaftlicher Selbstverständigung erst einmal zu bestimmen wäre. Das Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Geschlechter, die der Staat aktiv fördern soll, könnte durchaus eine solche Leitidee sein, deren Relevanz man für Fragen des Wahlrechts oder der demokratischen Repräsentation man deshalb nicht vorschnell mit dem rein formalen Argument beiseiteschieben sollte, sie stünde ja nur im Grundrechtsteil, die Wahlgleichheit sei demgegenüber spezieller etc. Statt dessen ginge es eher um die grundsätzlichere Frage, ob das Herumschrauben am Wahlrecht wirklich ein sinnvolles Mittel ist, um sie durchzusetzen, und was es umgekehrt für unsere Vorstellung von demokratischer Repräsentation bedeutet, wenn sie so durchgesetzt wird, wie sie hier durchgesetzt wird. Hier bewirkt die Paritätsregelung doch einige bemerkenswerte Verschiebungen, über die man sich zunächst klar werden muss und von denen man sich anschließend zu fragen hätte, ob man sie wirklich will. Sehen wir uns deshalb die wichtigsten von ihnen der Reihe nach an.

Die erste ist recht leicht erkennbar und auch schon vielfach angesprochen; sie liegt darin, dass wir es, egal wie man es dreht und wendet, mit einer politischen Vorsteuerung der personellen Zusammensetzung des Parlaments zu tun haben, und zwar durch den (einfachen) Gesetzgeber. Nun ist der zwar selber demokratisch legitimiert und nicht einfach bloß wie früher eine Erscheinungsform von Obrigkeit. Aber dass ein Parlament eine bindende Vorgabe für die Zusammensetzung des ihm nachfolgenden Parlaments macht, ist doch etwas ziemlich Neues. Natürlich waren auch im überkommenen Recht schon immer gewisse Vorsortierungen in diese Richtung wirksam. Es waren aber, wenn ich es recht sehe, im Wesentlichen nur zwei. Die eine betrifft das Zugangsalter und ist fast überall in den Verfassungen selbst enthalten (was man, nebenbei, möglicherweise als einen Hinweis darauf lesen könnte, auch diese ja nicht ganz unwichtige Frage wenn überhaupt dann auf Verfassungsebene zu regeln). Eine zweite findet, gewollt oder ungewollt, über das jeweilige Wahlrecht und hier vor allem über das Wahlsystem statt. Beide sind nie neutral, jedes Wahlsystem und jedes Wahlrecht präferieren automatisch bestimmte Formen politischer Organisation und benachteiligen andere. Gerade deshalb sind Änderungen so schwer ins Werk zu setzen, weil jede Gruppierung, die an ihnen beteiligt werden muss, sich immer als erstes ausrechnet, ob sie dabei am Ende zu den Gewinnern oder Verlierern gehört. Zuletzt wirken sich Wahlrecht und Wahlsystem sogar auf die Frage aus, welche politischen Standpunkte und welcher Typus von Leuten darin Erfolg haben können. In einem Wahl- oder auch Parteiensystem wie dem der Bundesrepublik dürfte jemand wie Trump deshalb wahrscheinlich nicht weit kommen, hoffen wir das zumindest. Aber um ein Wahlrecht kommt man naturgemäß nicht herum, es muss einfach sein, damit die Wahlen stattfinden können. Kann aber wirklich ein gewähltes Parlament bestimmen, wie ihm nachfolgende Parlamente schichten- oder gruppenmäßig zusammengesetzt sein sollen? Natürlich lässt sich auch diese Frage wieder an einzelnen verfassungsrechtlichen Aufhängern festmachen, etwa dass die Parlamente immer nur einen zeitlich begrenzten Auftrag haben; zugleich wäre dies der Punkt, an dem die Parteienfreiheit ins Spiel käme. Aber es ginge vielleicht doch um die ganz grundsätzliche Frage, ob wir uns den gesamten Prozess in allen seinen verschiedenen Phasen und Stufen – den Deliberationen einer politischen Öffentlichkeit, der Willensbildung in den politischen Parteien, schließlich der Entscheidung der Wähler – weiterhin als einen von staatlicher Regulierung prinzipiell freien vorstellen wollen oder ob man ihm vorab bestimmte Ideen davon aufzwingt, was er, wenn auch vorerst nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt, sinnvoller- und richtigerweise zu seinem Ergebnis haben sollte.

Eine zweite, möglicherweise etwas tiefer reichende Verschiebung betrifft sodann die Frage, was die Neuregelung für das Verständnis parlamentarischer Repräsentation bedeutet. Sie lässt sich zunächst an der Person des einzelnen Abgeordneten festmachen, den das Grundgesetz wie auch alle Landesverfassungen als „Vertreter des ganzen Volkes“ begreifen. Spätestens seit den Angriffen von Gerhard Leibholz weiß man, dass das bestenfalls eine Fiktion ist: Natürlich ist der Abgeordnete im Parteienstaat typischerweise der Vertreter einer Partei, und als solcher ist er in das Parlament auch gewählt. Darüber hinaus kann er immer noch ganz anderen Gruppen und Interessen verpflichtet sein: irgendwelchen Verbänden, den Kirchen, den Interessen seines Berufstandes, zuletzt auch den spezifischen Interessen seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung, die niemand bei bestimmten Entscheidungen einfach ausblenden kann. Und natürlich haben zu den Wahlen auch schon immer Parteien kandidiert, die nur ein bestimmtes Einzel- oder Gruppeninteresse vertreten, von den Grauen Panthern bis zu den Tierschutzparteien oder der Partei der deutschen Biertrinker. Aber was wäre dann der Sinn dieser Fiktion und welche Veränderung bedeutet es dafür, wenn der Abgeordnete nun durch eine gesetzliche Regelung ausdrücklich als Repräsentant einer bestimmten Gruppe behandelt wird?  

Bei Hegel kann man dazu lesen, dass sich die Stellung des Repräsentanten ganz wesentlich auf „Zutrauen“ gründet: Repräsentation hat dann nicht die Bedeutung, dass „einer an der Stelle des anderen sei“ und ich „als dieser meine Stimme gebe“, sondern das gemeinsame Interesse, die „Sache“, ist im Repräsentanten gegenwärtig und soll es sein. Das war bezogen auf Vertretungskörperschaften im Geist des Ständestaats und gilt deshalb heute natürlich als alter Zopf. Aber auch in neueren Repräsentationstheorien von Hannah Pitkin bis Pierre Rosanvallon liest es sich nicht wesentlich anders, so wie auch die Forderung einer prinzipiellen „responsiveness“ die Gegenwärtigkeit der Sache im Repräsentanten über dessen Person stellt und von dieser abstrahiert. Nun ist es das Gesetz selbst, also ein öffentlicher und auf öffentliche, nicht zuletzt symbolische Wirkung gerichteter Akt, der ihn nicht als Verkörperung eines gedachten Allgemeinen, sondern als Vertreter einer bestimmten Gruppe begreift, für die er jedenfalls auf der Ebene der äußeren Zusammensetzung des Parlaments erst einmal steht. Man mag auch das nicht für besonders gravierend halten und darauf verweisen, dass am Ende alle, natürlich auch die Frauen, in allen politischen Fragen ja noch immer stimmen können wie sie wollen, und natürlich tun sie das auch. Aber es bedeutet doch eine Halbierung der grundlegenden Fiktion und damit vielleicht auch eine Erschütterung des grundlegenden Zutrauens, auf das sich ein parlamentarisches System notwendig stützt.

Ein dritter Punkt hängt unmittelbar damit zusammen, geht aber noch einmal eine Ebene tiefer und fügt sich in eine Debatte, die in den Vereinigten Staaten gerade unter dem Stichwort der Identitätspolitik ausgetragen wird. In der Sache geht es dabei um die alte Frage, welcher unserer verschiedenen Identitäten wir im politischen Handeln den Vorrang geben wollen: unserer allgemeinen Identität als Bürger oder den verschiedenen partikularen Identitäten, die wir daneben auch noch haben (als Mann oder Frau, als Anhänger einer bestimmten Religionsgemeinschaft, als Angehöriger einer Berufsgruppe oder einer sozialen Schicht, als Fahrer eines Dieselautos etc.). Die eine Seite, derzeit prominent, aber leider eher schlecht als recht vertreten von dem Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, klagt dabei die Werte eines liberalen Universalismus ein: Die Gesellschaft spalte sich immer mehr in verschiedene partikulare Identitäten auf, während das Gemeinwohl oder auch die Erfordernisse gesamtgesellschaftlicher Integration darüber aus dem Blick gerieten. Die Folge dieses Gruppendenkens sei dann gerade die gesellschaftliche Polarisierung, von der die politische Landschaft in den USA heute durchzogen sei. Demgegenüber macht die Gegenseite, für die unter anderem die neue afroamerikanische Hoffnungsträgerin der Demokratischen Partei steht, geltend, dass hinter diesem vermeintlichen Universalismus doch nichts anderes stecke als der schlecht getarnte Versuch, die Herrschaft der alten weißen Männer zu zementieren. Demgegenüber komme es gerade darauf an, die verschiedenen noch unterdrückten Gruppen als solche zu adressieren und ihnen als Gruppe gegen andere Gruppen eine Stimme zu geben. 

In der Sache haben beide Seiten ihre Argumente, eine Entscheidung lässt sich nicht mit einem Federstrich hinwerfen, und vielleicht wäre sie in den Vereinigten Staaten mit ihrer langen Tradition von white supremacy und der Marginalisierung der übrigen Bevölkerungsgruppen noch einmal anders zu treffen als sie hierzulande zu treffen wäre. Es ist aber leicht zu sehen, dass das Paritätsgesetz in jedem Fall in die Welt des Gruppen-Denkens gehört, von dem man ohnehin den Eindruck hat, dass es sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch bei uns mehr und mehr durchsetzt. Die Folge ist ein grundlegend veränderter Blick auf Politik, die zunehmend ebenfalls von einem Gruppen-Standpunkt, wir können auch sagen: von einem prinzipiellen Klientelismus aus, beurteilt wird; man fragt sich deshalb immer weniger, ob man sie als ein gedachter Teil der Allgemeinheit billigen könnte, sondern was dabei für die Gruppe, der man selber angehört, unter dem Strich herauskommt. Das ist bei den Geschlechtern prinzipiell nicht anders als bei den Dieselfahrern. Dass das Paritätsgesetz zusätzlich für einen solchen Blödsinn wie die Kandidatur einer reinen Männerpartei eine Ausnahme macht, passt so gesehen nur ins Bild. Und natürlich liegt es in der Logik dieses Denkens, dass sich im nächsten Schritt die Frage aufdrängt, warum unter allen Gruppen, die in den Parlamenten traditionell und im Grunde überall da, wo es Parlamente gibt, unterrepräsentiert sind (die Arbeiter, die Jungen, die Behinderten, die Unterschicht etc.), nun gerade die Frauen exakt so vertreten sein sollen, wie es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht; auch dafür habe ich noch nirgends eine überzeugende Begründung gelesen. 

Bedeutet das alles nun, dass das Paritätsgesetz verfassungswidrig ist? Mitnichten – wer es gegen diesen Vorwurf verteidigen will, mag das weiter tun, und ich würde auch keine Wetten darauf eingehen wollen, wie das brandenburgische Verfassungsgericht den Fall entscheiden wird; gut möglich, dass es das Gesetz am Ende durchwinkt. Es bedeutet nur, dass man dieses Gesetz im Lichte von verfassungsrechtlichen Leitvorstellungen, die in unserem Denken über demokratische Repräsentation bisher wirksam waren und vielleicht auch ihren guten Sinn ergaben, berechtigterweise kritisieren kann. Auch diese lassen sich natürlich verschieben, und natürlich man kann das alles auch genau so wollen. Man muss sich nur überlegen, was man damit aufgibt und was man sich auf der anderen Seite einhandelt, wenn man es aufgibt. Und es sind gerade diese prinzipiellen Überlegungen, die dem Fall die Dimension geben, die ihn weit über das Lokale erheben. Möglicherweise werden deshalb nun andere deutsche Landtage dem Beispiel des brandenburgischen folgen, die Versuchung ist einfach zu verlockend. Möglicherweise tun sie es nicht, und man hört man dann wieder für lange Zeit nichts von ihnen. 

In diesem Fall wäre das vielleicht nicht das schlechteste.


SUGGESTED CITATION  Volkmann, Uwe: Notizen aus der Provinz: Brandenburg gibt sich ein Paritätsgesetz, VerfBlog, 2019/2/09, https://verfassungsblog.de/notizen-aus-der-provinz-brandenburg-gibt-sich-ein-paritaetsgesetz/, DOI: 10.17176/20190211-212312-0.

15 Comments

  1. Dr. Monika Ende Goethe Universität Frankfurt am Main Sat 9 Feb 2019 at 10:18 - Reply

    Fazit: es besteht verfassungsrechtlicher Diskussionsbedarf.
    Und diese Diskussion sollte auch im Lichte der Meinumgsfreiheit Art. 5 GG sachlich stattfinden.

    Zum Demokratieprinzip sei nur angemerkt: es geht um ein Gesetz in Brandenburg.

  2. Steffen Wasmund Sat 9 Feb 2019 at 16:44 - Reply

    Bisher galt doch, dass der Abgeordnete als Mensch – unabhängig vom Geschlecht – Vertreter des Volkes (des Menschen) war und ihn seine Eigenschaft als Mensch dazu befähigte, demokratiekonforme und menschenrechtskonforme Entscheidungen für den Menschen zu treffen. Wenn nur die Kombination von Mann und Frau zu demokratie- und menschenrechtskonformen Entscheidungen befähigt, muss dem konkreten Menschen wegen seines Geschlechtes die Fähigkeit für diese Entscheidungen fehlen. Hebt nur die Kombination den Mangel (Eigenschaft) ihrer Teile auf, müssen die Eigenschaften der Teile zudem unterschiedlich sein. Das Paritätsgesetz hat also zur Grundlage, dass sowohl Mann und Frau von Natur aus wegen ihres Geschlechts Feinde der Demokratie sind, und dass sie dies von Natur aus auf Grund ihres Geschlechts auf unterschiedliche Weise sind. Das Paritätsgesetz fußt also auf einer prinzipiellen Ungleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz.

  3. Anna v. Notz Sat 9 Feb 2019 at 16:52 - Reply

    Der Grund dafür, warum ausgerechnet Frauen gleichberechtigt im Parlament vertreten sein sollten, ist dann vielleicht doch in der Verfassung zu suchen – nicht in dem Sinne, dass ein Parité-Gesetz zwingend wäre, sondern derart, dass die Verfassung eine Grundentscheidung enthält für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, was sie unterscheidet von der Verfolgung aller möglichen anderen Partikularinteressen und Identitäten – sicherlich jedenfalls von der als Dieselfahrer*innen.

  4. rls Sat 9 Feb 2019 at 17:21 - Reply

    Verfassungsrechtlich ist die Lage klar. Ver