Oberster NRW- Verfassungsrichter wirft Karlsruhe Nazi- Verharmlosung vor
Das Oberverwaltungsgericht Münster liegt seit langem mit dem Bundesverfassungsgericht über Kreuz, was den Umgang mit Neonazi-Demonstrationen betrifft. Das OVG findet, die müsse man, wenn irgend möglich, verbieten. Karlsruhe dagegen sagt, Meinungs- und Versammlungsfreiheit endet nicht dort, wo Meinungen und Versammlungen anfangen scheußlich zu werden, und hat entsprechende Urteile aus Münster immer wieder aufgehoben, was das OVG wiederum mitnichten dazu bewogen hat, von ihrer Linie abzuweichen.
Jetzt aber erreicht der Konflikt der NRW-Verwaltungs- und der Karlsruher Verfassungsrichter – zumindest was den Stil der Auseinandersetzung betrifft – eine neue Eskalationsstufe.
Michael Bertrams, der scheidende Präsident des OVG Münster sowie des Verfassungsgerichtshofs von Nordrhein-Westfalen, hat anlässlichs seines Übertritts in den Ruhestand dem Kölner Stadtanzeiger ein Interview gegeben. Dort sagt er folgendes:
Wenn das Bundesverfassungsgericht das öffentliche Agieren einer Partei wie der NPD über viele Jahre immer wieder durchwinkt, dann entsteht sehr schnell der Eindruck, „so schlimm kann das mit dieser Partei ja wohl nicht sein, sonst hätte das oberste Gericht des Landes bestimmt anders entschieden“. Denken Sie nur daran, dass die NSU-Morde in die Zeit der sehr liberalen – ich möchte am liebsten sagen: libertinären – Karlsruher Rechtsprechung fielen.
Daraufhin fragt der Interviewer nach: Ob er einen Zusammenhang sehe? Richter Bertrams’ Antwort:
Hätte das Verfassungsgericht die Existenz solcher hochaggressiven Strukturen bis hin zur Mordbereitschaft vor Augen gehabt, wäre die Rechtsprechung sicher anders ausgefallen. Man hat den Rechtsextremismus viel zu lange verharmlost und dramatisch unterschätzt.
Da bleibt mir doch erst mal die Spucke weg. Behauptet da einer der höchstrangigen Verwaltungsrichter des Landes, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht und den NSU-Morden?
Streng genommen stellt er nur die Vermutung auf, dass Karlsruhe bei Kenntnis der NSU schärfer geurteilt hätte. Aber dazu muss man schon genau hinschauen. Der Interviewer fragt ja extra noch einmal nach, und statt „Nein, auf keinen Fall!“ bekommt er die Behauptung zur Antwort, „man“ (= Karlsruhe) habe den Rechtsextremismus „viel zu lange“ verharmlost. Das im Sinn von „zu lange, um die NSU-Morde zu verhindern“ zu verstehen, scheint mir auf geradezu offenkundige Weise nahezuliegen.
Und wenn es tatsächlich so gemeint war? Wenn ein Polizist oder meinetwegen auch ein Innenminister so etwas sagen würde, dann wäre das zwar auch ein Skandal, aber wenigstens rollenkonform. Die sind dazu da, uns vor den bösen Buben zu schützen. Wenn die sauer werden, wenn Karlsruhe ihnen da in die Quere kommt, muss man das nicht teilen, aber man kann es verstehen.
Aber hier haben wir es mit einem Richter zu tun.
So sympathisch ich es finde, dass Herr Bertrams Nazis schauderhaft findet und politisch dafür ist, sie zu bekämpfen und Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit aus der öffentlichen Meinungsbildung rauszuhalten – als Richter ist seine Aufgabe, die Grundrechte von Bürgern vor staatlichen Eingriffen zu schützen, soweit das Grundgesetz es befiehlt. Nennt mich naiv, aber auch Verwaltungsrichter haben meiner Meinung nach diese Aufgabe.
Nazis sind Bürger. Es tut weh, das auszusprechen. Aber es ist nun mal so.
Das Bundesverfassungsgericht hat meinen höchsten Respekt dafür, dass es sich – bis hin zur Grenze der Verherrlichung des Naziregimes, siehe Wunsiedel-Entscheidung – nicht auf die schiefe Ebene begeben hat, zu sagen, nur liebe Meinungen sind geschützte Meinungen und nur Versammlungen für Frieden, Freiheit und Völkerverständigung sind geschützte Versammlungen.
Wer, wie das OVG Münster und sein Präsident Bertrams es tun, materielle Kriterien anlegen und den Schutzbereich von Freiheitsgrundrechten anhand eines so genannten „historischen Gedächtnisses“ des Grundgesetzes einschränken möchte, der springt mit Schwung auf diese schiefe Ebene und braucht sich nicht zu wundern, wenn er gehörig ins Schlittern kommt.
Man könnte noch viel zu dem Interview sagen. Schon der Ausdruck „libertinär“: So bezeichnet man, wenn ich das richtig sehe, jemanden, den meine Urgroßtante einen „Wüstling“ genannt hätte, einen zügellosen Sex-Maniac. Was, Herr Bertram, wollten Sie uns da sagen? Oder haben Sie da einfach nur so vor sich hingezetert?
In Karlsruhe bemüht man sich ein Straight Face aufzusetzen. “Die eigentümlichen Rechtsansichten des Herrn Dr. Bertrams sind dem Gericht bekannt und werden von hier aus nicht kommentiert”, sagt mir ein Sprecher des Bundesverfassungsgerichts auf Nachfrage.
Naja, der Mann geht ja jetzt in Rente. Der Ruhestand sei ihm von Herzen gegönnt.
“Die eigentümlichen Rechtsansichten des Herrn Dr. Bertrams” – eben! Dass das BVerfG das “öffentliche Agieren einer Partei wie der NPD über viele Jahre immer wieder durchwinkt”, ist schlicht rechtlicher (und tatsächlicher) populistischer Unfug – sonst nichts. Gut, dass der Mann in Pension geht.
Na ja…Ich weiß nicht ob man das überbewerten sollte. Der Mann geht, wie sie ja richtig schreiben in den Ruhestand. Das scheint mir einfach ein letzter Tritt gegen das BVerfG zu sein. Mehr aber auch nicht. Wäre es dem BVerfG nicht selbst etwas unangenehm immer wieder den Nazis Versammlungen genehmigen zu müssen, hätten sie vermutlich (wie in Görgülü gegen OLG Naumburg) früher oder später mal darauf hingewiesen, dass das OVG Münster sich im Bereich des §339 StGB befindet…Wie gesagt, würde es nicht zu hoch hängen. Ist aus meiner Sicht kein Skandal, lediglich eine letzte Entgleisung von jemandem der jetzt aus dem öffentlichen Leben ausscheidet und das auch weiß.
Erregt sich da jemand über das “höchste Laiengericht”? Oder über die “Professoren-Grundrechte” der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit?
Ich habe das Interview heute auch gelesen und habe auch an der zitierten Stelle gestutzt – aber anders: Der Interviewer wollte Bertrams in die Falle locken, das zu sagen, was ihm jetzt hier vorgeworfen wird. Er hat das aber sehr gut pariert und den Zusammenhang, den er herstellt, auf eine meines Erachtens gut vertretbare Weise konkretisiert (ob die Argumentation überzeugend ist, muß jeder für sich selbst entscheiden).
In dem altbekannten Streit zwischen dem OVG Nordrhein-Westfalen und dem BVerfG tendierte und tendiere ich zur Position des BVerfG. Aber ich halte die Gegenposition des OVG Nordrhein-Westfalen für völlig legitim. Schlimm finde ich, das BVerfG zu beweihräuchern und seine Position für die richtigere zu halten, eben weil es das BVerfG. Im übrigen braucht es nur minimale Änderungen der Zusammensetzung (gerade in der zuständigen Kammer) und das BVerfG schwenkt in den Details auf das OVG um.
Völlig ungehörig finde ich es, wenn ein Sprecher des BVerfG in Bezug auf den obersten Richter des Landes Nordrhein-Westfalen von den “eigentümlichen Rechtsansichten des Herrn Dr. Bertrams” spricht. Wenn das tatsächlich gegenüber einem Journalisten so geäußert wurde, dann ist das der eigentliche Skandal.
Dasselbe würde ich umgekehrt sagen, wenn ein Sprecher des OVG oder VerfGH Nordrhein-Westfalen sich nicht entblöden würde, von den “eigentümlichen Rechtsansichten des Herrn Professor Dr. Voßkuhle” zu sprechen.
Bertram meinte wohl “libertär”.
Zum Thema fällt mir ein Satz von Professor Martin Morlok im Rahmen einer Veranstaltung “NPD-Verbot – ja oder nein” wieder ein. Nach meiner Erinnerung sagte er wörtlich: “Das Grundgesetz erlaubt Ausländerfeindlichkeit.”
Sowas ist auch für Juristen schwer zu verdauen.
@Sittig: “Libertär”, das wird ja immer toller. Paul Ryan ist libertär, Frank Scheffler ist libertär, aber der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts?
@García: Das können Sie schon glauben, dass das so gesagt wurde. Und was soll das heißen, dass ich das BVerfG beweihräuchere, nur weil es das BVerfG ist? Ich hab schon viel Kritik gehört, aber die ist echt neu…
@Steinbeis:
Ich habe nicht Sie gemeint mit Beweihräuchern. Ich kenne und schätze Ihre differenzierende Haltung zur Rechtsprechung des BVerfG. Ich meine die Tendenz von vielen Leuten, das BVerfG als Urquell der juristischen Weisheit zu sehen, als Hohenpriester des Rechts, und im Konflikt mit anderen Gerichten ohne weiteres seine Meinung für die richtige zu halten (von § 31 Abs. 1 BVerfGG, dessen Reichweite ich für oft überschätzt halte, hier nicht zu reden).
Wohl kaum wären die Entscheidungen des BVerfG davon beeinflusst. Vorhandensein und Intension von Extremismus sind ein gesellschaftliches Korrektiv, dessen Risiken die Gesellschaft nun einmal zu tragen hat. Und – Gott sei Dank – sehen das unsere Verfassungsschützer auch noch so…
Nicht auszudenken, was aus Deutschland wird, wenn man dieses (Natur-)Gesetz vergisst. Hoffentlich erinnert man sich dann wenigstens noch daran, dass Faschismus daraus resultierte, dass man etwas Bestimmtes (anderes) aus der Gesellschaft zu dezimieren suchte. Nichts anderes passiert hier gerade wieder – nur diesem von einer anderen Seite aus.
Das BVerfG und das OVG Münster trennt eine sachliche Meinungsverschiedenheit, in der recht viel für die Münsteraner Auffassung spricht. Es geht doch nicht um die Frage, ob nur “nur liebe Meinungen … geschützte Meinungen (sind)” – was für eine groteske Verballhornung! – , sondern darum, inwieweit die öffentliche Werbung für verfassungswidrige und menschenverachtende Standpunkte und Handlungsweisen toleriert werden muss – da geht es auch um staatliche Schutzpflichten gegenüber höchstrangigen Rechtsgütern zB der bei uns lebenden Migranten. Ihr Beitrag erfüllt deshalb auch in keiner Weise die Mindestanforderungen für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Problem (und natürlich erst recht nicht der einfach nur unverschämte Kommentar aus Karlsruhe).
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