Das andere Erbe
Ausnahmezustände als neue gewöhnliche Paradigmen der Regierung
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben eine neue Praxis und ein neues Interesse an Notstandsbefugnissen ausgelöst. Zweifelsohne standen die Vereinigten Staaten bei der verstärkten Ausübung solcher Befugnisse an vorderster Front: Der Patriot Act von 2001 wurde nicht nur bald zum Inbegriff des Rahmens, wenn nicht gar des Inhalts der Reaktion von Regierungen auf die terroristische Bedrohung, sondern er definierte auch gleich die Grenze zwischen Norm und Ausnahme neu. Die damaligen Worte von Vizepräsident Cheney ließen keine Zweifel aufkommen: “Innere Sicherheit ist keine vorübergehende Maßnahme, nur um eine Krise zu bewältigen. Viele der Schritte, zu denen wir jetzt gezwungen sind, werden zum festen Bestandteil des amerikanischen Lebens werden […]. Ich betrachte sie als die neue Normalität“. Seitdem hat die Reaktion der USA auf den Terrorismus zu einer neuen Ära des “permanenten globalen Ausnahmezustands” (Scheppele, S. 354) geführt, der nicht nur das innerstaatliche Recht und die Politik zahlreicher Länder, sondern auch das internationale Recht verändert hat (Vedaschi & Scheppele). John Ferejohn und Pasquale Pasquino haben in ihrer Studie von 2004 über die Merkmale der Reaktionen von Regierungen auf Krisensituationen den weltweit zunehmenden Rückgriff auf Notstandsbefugnisse sogar als “neues Modell” von Regierungen bezeichnet (2004, S. 210, S. 216).
Nach dem Terrorismus die Pandemie: der Murmeltiertag der Ausnahmezustände
Seit Anfang 2020 hat die sich ausbreitende Covid-19-Pandemie die Kraft dieses neuen Modells deutlich veranschaulicht: Ungeachtet ihres unterschiedlichen rechtlichen Status (einige verfassungsrechtlich, andere gesetzgeberisch) wurden in mehr als 100 Ländern von Japan bis Marokko, Portugal, Serbien und Malaysia Notstandsregelungen ausgerufen. Zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist die Frage nach ihrer Legitimität, Verlässlichkeit und Zweckmäßigkeit jedoch nach wie vor akut. Im März 2022 werden Millionen Menschen in mehreren Städten und Provinzen Chinas wieder eingeschlossen; Kanada ist weiterhin auf dem Weg der endlosen Verlängerung des Ausnahmezustands, und in Frankreich gibt es seit zwei Jahren abwechselnd Phasen der vollständigen und der abgeschwächten Anwendung des (brandneuen) gesundheitlichen Ausnahmezustands (State of Emergency; SOE) – ohne jemals zum normalen Rechtszustand zurückzukehren.
Auch wenn es andere Länder gibt, ist Frankreich ein sehr interessantes Beispiel für die vielen Probleme und Herausforderungen, die durch normalisierte SOEs entstehen. Während ein Großteil der Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Landes nach den Präsidentschaftswahlen von 2022, die die extreme Rechte wieder einmal sehr nahe an die Macht gebracht haben, immer noch erleichtert aufatmet, sollte man sich vor Augen halten, dass dies die zweite Präsidentschaftswahl in Folge war, die formell unter einem Ausnahmezustand (SOE) stattfand. Mehr als die Hälfte der Zeit, die seit der Ausrufung des Ausnahmezustands durch den ehemaligen Präsidenten Hollande in der schicksalhaften Nacht der Terroranschläge im Bataclan und im Stade de France am 13. November 2015 verstrichen ist, wurde Frankreich unter einem solchen regiert. Im Laufe von sechs Verlängerungen während der Legislaturperiode blieb dieser SOE für knapp zwei Jahre in Kraft. Er wurde erst am 1. November 2017 aufgehoben, nachdem vier der wichtigsten außergewöhnlichen Befugnisse, die zuvor ausschließlich einem SOE vorbehalten waren, durch ein weiteres Gesetz in das allgemeine Verwaltungsrecht aufgenommen wurden. Es ist daher von großer Bedeutung, dass die Exekutive, als sich die Covid-19-Pandemie weniger als drei Jahre später als globale Bedrohung erwies, erneut beschloss, sie mit Hilfe eines SOE anzugehen. Da der bestehende Rechtsrahmen aufgrund seiner langen Anwendung zwischen 2015 und 2017 durch die Terrorismusbekämpfung in Mitleidenschaft gezogen wurde, entschied man sich, ad hoc einen brandneuen SOE für den Gesundheitsbereich zu schaffen. Das Gesetz von 2020, das sich weitgehend an das SOE-Gesetz von 1955 anlehnt, das als Rechtsgrundlage für den SOE zur Terrorismusbekämpfung von 2015-17 diente, sieht im Wesentlichen erweiterte Befugnisse für die Exekutive vor. Auch wenn die meisten der daraus resultierenden Beschränkungen inzwischen aufgehoben wurden (dazu gehörten: drei landesweite Hausverbote, eine achtmonatige landesweite Ausgangssperre, zahlreiche Schließungen von Schulen, Gotteshäusern, Geschäften und Einkaufszentren, Museen und Theatern, Bars und Restaurants sowie eine Vielzahl anderer Maßnahmen wie das Verbot öffentlicher Versammlungen und Demonstrationen oder das Erfordernis eines Immunitäts- oder Impfstatusnachweises für den Zugang zu bestimmten Veranstaltungsorten), bleibt der rechtliche Rahmen des SOE im Wesentlichen in Kraft – wenn auch in leicht abgeschwächter Form. Es ist der Murmeltiertag des SOE.
SOEs gezähmt durch den rechtsstaatlichen Rahmen: ein Feind von innen?
Es lässt sich kaum bestreiten, dass solche langanhaltenden und wiederholten Erfahrungen mit SOEs Anlass zu großen verfassungsrechtlichen und demokratischen Bedenken geben. Dies ist umso mehr der Fall, wenn sie von unaufrichtigen Regierungen dazu benutzt werden, ihre autokratischen Zwänge und Kalküle zu unterstreichen und zu bekräftigen. In Europa wurde der “autokratische Opportunismus” in Orbans Ungarn und Dudas Polen angeprangert. In Wahrheit aber wirft die Routinisierung von Notstandsregimen in etablierten Demokratien ebenso strenge Fragen auf, und sei es nur, weil sie dort stärker als ein weiteres Beispiel für jene “missbräuchlichen” Kräfte in Erscheinung treten, die das Ideal des liberalen Konstitutionalismus von innen heraus bedrohen (Landau, S. 189). Angesichts dieser neuen globalisierten Realität sind zwei Fragestellungen angebracht. Die eine ist empirischer Natur. Das umfangreiche Programm der vergleichenden Verfassungsforschung, das vor uns liegt, erfordert eine Menge präziser und detaillierter Datenerhebungen, da die Flut von Notstandsregimen, die angesichts der Pandemie entstanden sind, langsam zurückgeht, aber nur dank einer vorangegangenen Welle von Sondergesetzen zur Terrorismusbekämpfung erfolgreich ist. Die beeindruckende Quantität und Qualität der Studien, die bereits in früheren Verfassungsblog-Symposien zusammengetragen wurden, ist von unschätzbarem Wert – und die Aktualisierung und Weiterverfolgung (wie sieht die Situation ein oder zwei Jahre später aus?) ist sowohl eine Herausforderung als auch eine sinnvolle Zielsetzung.
Eine andere, eher theoretische Richtung ist, Lehren aus dem gemeinsamen Erbe von 9/11 und der Pandemie im Hinblick auf die Routinisierung von SOEs zu ziehen. Es kann gut sein, dass dies eine Überarbeitung der verfügbaren verfassungstheoretischen Rahmen für das Reflektieren über die Reaktion von Regierungen auf Krisensituationen erfordert. Ungeachtet seiner historischen und theoretischen Bedeutung scheint es, dass das Schmitt’sche Modell des Ausnahmezustands einige der zentralen Merkmale heutiger SOEs nicht erfassen kann. Dieses Modell, das im Wesentlichen auf einem Konzept des “Aussetzens” der Rechtsordnung und der Figur eines Souveräns beruht, der, sobald er sich für die Ausnahme entschieden hat, effektiv über das Gesetz hinaus regiert, entspricht nicht dem intensiven – und in der Tat sorgfältigen – juristischen Charakter der meisten heutigen SOEs. Bernard Harcourt analysiert die Art und Weise, wie die Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung in den USA zu einem Paradigma der Aufstandsbekämpfung geführt haben, und betont, dass das Bemerkenswerteste an Praktiken wie beispielsweise außergerichtlichen Tötungen nicht in ihrer Verallgemeinerung liegt, sondern vielmehr in der Tatsache, dass sie rechtlich definiert und genehmigt wurden. Die Art und Weise, in der eine Vielzahl juristischer und politischer Akteure in Frankreich dazu übergegangen ist, die wiederholten SOEs nicht als Ausnahmen oder Aussetzungen der Rechtsstaatlichkeit, sondern als mit ihr vereinbar oder sogar notwendig zu beschreiben, beruht auf vergleichbaren semantischen Erdrutschen.
Dieser Diskurs um SOEs vermittelt die Vorstellung, dass eine neue, rechtsstaatskonforme, “weiche” Form des Notstandsregimes an die Stelle des brutalen und antidemokratischen Ausnahmezustands von einst getreten ist. Diese diskursive Verschiebung wurde durch den Aufstieg und den weltweiten Erfolg des Rechtsstaatsparadigmas im 20. Jahrhundert ermöglicht, wenn nicht sogar verursacht. Da es sich zunehmend als die bevorzugte Rechtsform der Demokratie durchsetzte, hat es die Art und Weise, wie liberale Demokratien mit Krisensituationen umgehen, eingeschränkt und dazu beigetragen, das Schmittsche Modell zu vereiteln. Da es auf der Vorstellung beruht, dass (alles) staatliche Handeln die Rechtsstaatlichkeit respektieren sollte, hat es tendenziell Regeln, Institutionen und Ausnahmeregelungen delegitimiert. Das heißt nicht, dass sie abgeschafft wurden (denn 9 von 10 Verfassungen weltweit enthalten Notstandsbestimmungen!); vielmehr hat es sein Ziel bekräftigt, sie zu zähmen und einzuschränken. Daraus ergibt sich für das vergleichende Verfassungsrecht ein neuer konzeptioneller Fokus auf den Ausnahmezustand: Der Anspruch des Rechtsstaats, die Ausnahme zu zähmen, muss zunächst an der empirischen Realität gemessen werden. Erst dann, im Lichte der institutionellen, juristischen oder sonstigen möglichen Versäumnisse und Unzulänglichkeiten, kann das diskursive Vorgehen kritisch dekonstruiert und als trügerisch analysiert werden.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Beitrags “The other legacy” durch Felix Kröner.