Paradigmenwechsel im Infektionsschutzgesetz?
Ein Plädoyer für Offenheit und Transparenz in der Debatte um die ex-post-Triage
Die im ersten Gesetzesentwurf zur Regelung der Zuteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten ausdrücklich vorgesehene Zulässigkeit der ex-post-Triage ist – nach zum Teil heftiger Kritik (beispielsweise hier und hier) – aus dem aktuellen Entwurf gestrichen worden. Im Entwurf heißt es nun explizit: „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen.“ Allerdings ist die Diskussion um die grundsätzliche rechtsethische, im Speziellen auch um die strafrechtliche Bewertung dieser Fallkonstellation alles andere als beendet. So haben kürzlich an prominenter Stelle vier renommierte Straf- bzw. Verfassungsrechtler*innen – Tatjana Hörnle, Elisa Hoven, Stefan Huster und Thomas Weigend – dafür plädiert, die Änderung zurückzunehmen und die ex-post-Triage bei der geplanten Gesetzesänderung für zulässig zu erklären (FAZ vom 28.7.).
In ihrem Apell finden sich alle in der Debatte bisher zugunsten der ex-post-Triage vorgebrachten Argumente. Diese verdienen eine kritische Betrachtung: Es besteht nämlich nicht nur die Tendenz, dass bereits auf der Ebene der Begriffsbildung implizit normative Vorentscheidung getroffen werden. Auch sollten grundlegende Prämissen nicht stillschweigend oder als unstrittig eingeführt werden, die in der Debatte tatsächlich hochkontrovers sind. Schließlich sollten die Implikationen der eigenen Positionen offen benannt werden. Ich werde im Folgenden nun nicht unmittelbar gegen die Zulässigkeit der ex-post-Triage argumentieren (obgleich ich denke, dass es hier sehr starke Gründe gibt). Vielmehr versteht sich das Folgende in erster Linie als ein Plädoyer für mehr argumentative Transparenz. Vor allem möchte ich zeigen, dass die Zulassung der ex-post-Triage keine bloße Fortschreibung bisher weithin akzeptierter verfassungsrechtlicher, rechts- und medizinischer Prinzipien bedeuten würden. Es geht im Kern der Debatte um einen Paradigmenwechsel. Das sollte offen benannt werden.
Ex-ante und ex-post: Suggestive Begriffsbildung?
Bei den Ausdrücken „ex-ante“ und „ex-post-Triage“ handelt es sich um ad-hoc Begriffsbildungen, die erst im Zusammenhang der Corona-Pandemie geprägt worden sind. Eine ex-ante-Triage bezeichnet dabei die Auswahl unter mehreren behandlungsbedürftigen Patient*innen bei akuter Knappheit der Behandlungsressourcen, die vor Aufnahme der Behandlung stattfindet. Unter dem Begriff der ex-post-Triage wird dagegen der Abbruch einer bereits aufgenommenen Behandlung, und zwar bei weiter bestehender (wenn auch vielleicht geringer) Überlebenschance, zugunsten der Behandlung einer anderen Patient*in verstanden. Man muss sich in aller Deutlichkeit vor Augen führen, worum es in der Debatte geht: um den Abbruch einer weiterhin indizierten und dem (mutmaßlichen) Willen der Patien*in entsprechenden intensivmedizinischen Behandlung. Es ist nämlich unstrittig, dass es keine Verpflichtung gibt, eine Behandlung weiterzuführen, bei der die Indikation entfallen ist und/oder die dem Willen der Patient*in nicht mehr entspricht.
Es stellt sich an dieser Stelle bereits die Frage, ob durch diese Begriffsbildung („ex ante vs. ex post“) nicht in problematischer Weise eine Ähnlichkeit zweier eigentlich grundverschiedener Fallkonstellationen suggeriert wird. Das würde bedeuten, dass kategoriale Unterschiede zu einer begrifflichen Binnendifferenzierung heruntergespielt würden (eine ähnliche Kritik lässt sich auch an der Bezeichnung „aktive vs. passive Sterbehilfe“ formulieren). Denn üblicherweise bezeichnete der Begriff der Triage immer eine Priorisierung, die vor der Aufnahme einer Behandlung stattfindet. Die Sichtungskategorien der Triage priorisieren dabei in erster Linie nach Dringlichkeit – und in geringerem Umfang (das ist allerdings nicht unumstritten) auch nach Erfolgsaussicht, allerdings in einem strikt individuellen, nicht-komparativen Sinn (die Kategorie der sog, „Hoffnungslosen). Dem ‚klassischen‘ Triage-Begriff, der sich auf akute Knappheit in plötzlich eintretenden Katastrophensituationen bezieht, ist der zeitlich möglicherweise sehr viel spätere Abbruch einer Behandlung fremd. Nun hat in der jüngeren Vergangenheit der Triage-Begriff zwar eine Ausweitung erfahren und wird auch – außerhalb von Katastrophensituationen – für die (alltägliche) Ersteinschätzung in der Notaufnahme benutzt (hier gibt es mittlerweile einige standardisierte Verfahren, etwa die „Manchester-Triage“). Allerdings geht es auch hier ausschließlich um die (in normativer Hinsicht so gut wie unstrittige) Einschätzung der individuellen Dringlichkeit der Behandlung vor ihrer Aufnahme. Mit der Begriffsbildung „ex-post-Triage“ wird eine Kontinuität zu einer bereits bestehenden und weithin akzeptierten Praxis suggeriert, die es nicht gibt.
Auch in der Frage der strafrechtlichen Bewertung ging man bisher weithin von einem kategorialen Unterschied zwischen der Fallkonstellation der ex-ante-Triage und der neuerdings als ex-post-Triage bezeichneten Fallkonstellation aus, der mit dem Unterschied zwischen Pflichtenkollision und Notstandsrechtfertigung begründet wird: Im Fall der ex-ante-Triage liegt eine Kollision zweier Handlungspflichten vor, die nicht beide zu erfüllen sind. Die Ärzt*in kann aber rechtlich nicht zu etwas Unmöglichem verpflichtet sein. Deshalb besteht hier der Rechtsfertigungsgrund einer Pflichtenkollision. Im Fall der ex-post-Triage kollidieren dagegen eine Handlungs- und eine Unterlassungspflicht. Für den Abbruch der Behandlung kann deshalb als Rechtfertigungsgrund hier keine Pflichtenkollision, sondern nur die Berufung auf einen Notstand angeführt werden. Eine Notstandsrechtfertigung setzt aber voraus, dass das geschützte Interesse, hier also die Behandlung der neu eingelieferten Patient*in mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit, das Interesse der bereits in Behandlung befindlichen Patient*in „wesentlich überwiegt“. Die Behauptung eines solchen Überwiegens ist aber nach gängiger Auslegung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Lebenswertindifferenz, d.h. dem Verbot der Bewertung von Überlebensinteressen, unvereinbar (vgl. hier). Die explizite Erklärung der Zulässigkeit der ex-post-Triage im Infektionsschutzgesetz brächte somit eine Inkohärenz in die Rechtsordnung und zöge wohl strafrechtsdogmatisch einige „Umbauarbeiten“ nach sich.
Erfolgsaussicht führt zur ex-post-Triage
Die Autor*innen setzen in dem erwähnten Apell – nicht untypisch – das Kriterium der unmittelbaren Erfolgsaussicht als unproblematisch voraus und behaupten darüber hinaus ohne weitere Begründung, dass dieses Kriterium nicht zu einer Ungleichbehandlung von Menschen mit Behinderung führen würde. Nun ist es zwar tatsächlich so, dass auch in dem Verfassungsgerichtsurteil zur Triage das Kriterium der unmittelbaren Erfolgsaussicht ohne weitere Begründung als zulässig vorausgesetzt worden ist – dies ist vielfach kritisch bemerkt worden (vgl. hier und hier). Das Kriterium der Erfolgsaussicht ist jedoch, auch wenn es in einem engen, auf die unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit bezogenen Sinn verstanden wird, in der rechtsethischen und moralphilosophischen Debatte durchaus kontrovers (ausführlicher dazu hier und hier). Es gibt eine mittlerweile verzweigte Debatte, ob ein zur Begründung des Erfolgsaussichtskriteriums geeignetes Maximierungsgebot („Maximiere die Anzahl Geretteter!“) ausschließlich utilitaristisch oder auch auf eine mittelbar kontraktualistische Weise (bspw. durch die Figur eines ex-ante-Konsenses) gestützt werden kann. Daneben gibt es neuerdings auch innovative Versuche, dieses Kriterium ohne den ‚Umweg‘ über ein Maximierungsgebot, aus der Perspektive einer allein an der Stärke individueller Ansprüche zu begründen. Aber dies alles ist hochumstritten, und diese Kontroversität sollte offen benannt werden. Auch die Frage, ob nicht eine Orientierung am Erfolgsaussichtskriterium auch dann, wenn es in einem engen Sinn verstanden wird, zu einer (mittelbaren) Diskriminierung bestimmter Personengruppe führen kann, ist in der rechtlichen und ethischen Diskussion kontrovers und darf keinesfalls einfach als geklärt vorausgesetzt werden (vgl. hier).
Um die Kontroversität des Erfolgsaussichtskriteriums zu verdeutlichen, ist es hilfreich, sich klar zu machen, dass es hier nicht nur um jene in der Diskussion mitunter suggestiv bemühten Grenzfälle geht, in denen die Erfolgsaussichten einer Behandlung im konkreten Fall in einem nicht-komparativen Sinn äußerst gering sind und bei der strikt auf die individuelle Patient*in bezogenen Frage, ob eine Indikation noch vorliegt, ein gewisser Ermessensspielraum besteht. Das Erfolgsaussichtskriterium hat dagegen in dem hier vorliegenden Kontext einen komparativen Sinn: Die Erfolgsaussicht im Falle von Patient*in A ist im Vergleich zur Erfolgsaussicht der Behandlung von Patient*in B besser. Welche Implikationen es haben könnte, wenn man sich in der Praxis tatsächlich konsequent am Kriterium der Erfolgsaussicht orientiert, sollte man sich vor Augen führen: Das könnte im Zweifel bedeuten, dass die bereits begonnen Behandlung von Patient*in B, deren unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit mit Behandlung 70 Prozent beträgt, zugunsten der Behandlung der neu eingelieferten Patient*in A abgebrochen wird, deren Überlebenswahrscheinlichkeit bei 90 Prozent liegt (die Zahlen sollten hier nur die Grundsatzproblematik verdeutlichen, das Problem der empirischen Prognostizierbarkeit wird an dieser Stelle ausgeblendet).
Es gibt allerdings tatsächlich eine enge Verbindung zwischen Erfolgsaussichtskriterium und der ex-post-Triage. Ein argumentationslogisches Argument lautet, dass sich, wenn sich ein das Kriterium stützendes Maximierungsgebot begründen ließe, aus Gründen der Kohärenz auch eine ex-post-Triage nahelegen würde, weil sich auch auf diese Weise im Grundsatz die Anzahl Geretteter maximieren ließe. Ein anderes Argument, das aus der klinischen Praxis berichtet, in der normativen Debatte aber bisher – soweit ich sehe – nicht wirklich diskutiert wird, lautet, dass sich empirisch Erfolgsprognosen einigermaßen zuverlässig erst im Behandlungsverlauf erstellen lassen und nicht bereits vor Aufnahme einer Behandlung. Auch auf diese Weise liefert also die Orientierung am Erfolgsaussichtskriterium Gründe für die Zulassung der ex-post-Triage. Allerdings: Diese Argumente lassen sich in beide Richtungen lesen. Aus der Perspektive einer an normativer Kohärenz interessierten Ethik ließe sich nämlich auch argumentieren: Wenn erstens diese enge Verbindung zwischen Erfolgsaussicht und ex-post-Triage besteht, und wenn es zweitens starke eigenständige Gründe gibt, die gegen die ex-post-Triage, also einen fremdnützigen Behandlungsabbruch, sprechen, dann indiziert diese Verbindung gerade nochmals die tiefe Problematik des Erfolgsaussichtskriteriums, dessen Zulässigkeit eben nicht einfach vorausgesetzt werden kann. Jedenfalls können die Befürworter*innen einer ex-post-Triage nicht behaupten, eine Rekonstruktion der normativen Orientierung zu leisten, welche die bestehende klinische Praxis anleitet.
Ein Bruch mit der ärztlichen Ethik
Die Autor*innen des Appels argumentieren auch damit, dass eine Regelung, die sich nicht am Erfolgsaussichtskriterium orientierte, „aus medizinischer Sicht kaum nachvollziehbar“ sei. Dieses Argument beruht – auch wenn es sehr verbreitet ist – offensichtlich auf einem Kategorienfehler. Die Frage, ob eine Priorisierung nach dem Erfolgsaussichtskriterium zulässig oder sogar geboten ist, ist eine normative, d.h. rechtliche und ethische Frage. Sie als „medizinische Frage“ zu etikettieren hat die Suggestion, es gäbe hier eine sozusagen „neutrale wissenschaftliche“ Antwort der Medizin. Die medizinische Expertise bezieht sich aber allein auf die Frage, wie hoch die Erfolgsaussicht im individuellen Fall wahrscheinlich ist. Welche normative Rolle das Erfolgsaussichtskriterium im Rahmen einer Priorisierung spielen sollte, ist eine Frage, die nur in einem normativen, nicht in einem medizinischen Diskurs beantwortet werden kann. Man muss sich dabei klarmachen, welchen Bruch mit bisher konsentierten Prinzipien der ärztlichen Ethik die Zulässigkeit eines fremdnützigen Behandlungsabbruch bei weiter bestehender Indikation bedeuten würde. Die ärztliche Ethik formuliert zunächst ausschließlich Verpflichtungen gegenüber individuellen Patient*in. Mit Aufnahme der Behandlung entsteht zwischen Ärzt*in und Patient*in ein besonders geschütztes Vertrauensverhältnis und die Ärzt*in untersteht einer Reihe von Fürsorgeverpflichtungen gegenüber ihrer Patient*in. Hiermit konkurrierende Verpflichtungen gegenüber Interessen konkreter Dritter (oder gar abstrakt-gesellschaftlichen Interessen) gibt es nur in sehr eng umschriebenen Ausnahme- und Grenzfällen (bspw. Offenbarungspflichten, Meldepflichten bei Infektionskrankheiten, medizinische Forschung). Unabhängig davon, ob es Ausnahmefälle gibt, in denen die ärztliche Ethik eine Mitwirkung an einer fremdnützigen Behandlung zulässt (bspw. Impfpflicht zum Schutz Dritter), so ist ihr der fremdnützige Behandlungsabbruch bisher fremd. Um dies zu verdeutlichen, stelle man sich einen fremdnützigen Behandlungsabbruch im Kontext der Organtransplantation vor: Auch hier könnte eine strikte Orientierung allein am Kriterium der Erfolgsaussicht dazu führen, dass eine Behandlung, deren Erfolg weiterhin nicht ausgeschlossen ist und die weiterhin dem (mutmaßlichen Willen) der Patient*in entspricht, zugunsten einer Organspende an Dritte abgebrochen wird, deren kurzfristige Überlebensaussicht mit einem Spenderorgan sehr viel höher ist.
„Ethisch begründbar“?
Die Autor*innen des oben erwähnten Appels führen an, der Ethikrat habe in seiner Stellungnahme die ex-post-Triage als „ethisch begründbar“ eingestuft. Hier handelt es sich um ein aus dem Kontext gerissenes Zitat, wobei die Stellungnahme des Ethikrats in ihr Gegenteil verkehrt wird. Der Ethikrat sprach in seiner Stellungnahme davon, dass es in der strafrechtlichen Bewertung Grenzsituationen geben könne, in den eine Ärzt:in, die eine „Gewissensentscheidung trifft, die ethisch begründbar ist […]“, „mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen“ kann. Gleich im nächsten Satz wird klargestellt: „Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum Zweck der Rettung eines Dritten jedoch nicht.“ Dies würde, so der Ethikrat weiter, nichts weniger als einen Verstoß gegen die „Fundamente der Rechtsordnung“ bedeuten. An der erwähnten Stelle geht es also ausschließlich um mögliche individuelle Entschuldigungsgründe. Der Ethikrat hat nirgendwo die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es rechtfertigende Gründe für einen Behandlungsabbruch geben könnte.
Was aber bedeutet dann „ethisch begründbar“? Das kann man zunächst so verstehen, dass damit gemeint ist, dass eine Auswahlentscheidung jedenfalls nicht willkürlich erfolgen darf und auf Gründen beruhen muss, die prinzipiell nachvollziehbar sind. Aus der Nachvollziehbarkeit der individuellen Gewissensentscheidung folgt aber nicht die objektive Akzeptabilität unter den Prämissen der geltenden Rechts- und Verfassungsordnung.
Aus der ethischen Begründbarkeit einer Position folgt nämlich noch nicht, dass diese Position einer ethischen Begründung zugänglich ist, die mit der Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine grundrechtsgewährleistende Rechtsordnung kompatibel ist, deren ‚normativer Individualismus‘ den für utilitaristische Ethiken typischen interpersonellen Aggregationen enge Grenzen zieht. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes ist in diesem Sinn nach bisheriger überwiegender Ansicht ethisch nicht „neutral“, sondern positioniert sich im Streit ethischer Grundsatzparadigmen eindeutig auf Seiten einer deontologischen, kantianischen Ethik, die zur unbedingten Achtung der Selbstzwecklichkeit einer jeden Person verpflichtet und eine vollständige Instrumentalisierung zugunsten der Interessen Dritter kategorisch ausschließt.
Nun sind weder Verfassungsnormen noch (berufs-)ethische Prinzipien unveränderlich. Der normative Diskurs ist sowieso unabschließbar und muss für jedes neu eingeführte Argument offen bleiben. Allerdings ist es ein Gebot argumentativer Transparenz, nicht eine Kontinuität zu suggerieren, die es nicht gibt. Die Zulassung der ex-post-Triage – das will ich zeigen – wäre keinesfalls eine Fortschreibung oder bloße Akzentverschiebung im Rahmen eines weithin geteilten normativen Rahmens. Den fremdnützigen Abbruch einer weiterhin indizierten und dem (mutmaßlichen) Willen der Patient*in entsprechenden intensivmedizinischen Behandlung zugunsten einer Dritten als ethisch und rechtlich zulässig zu erklären ist ein Paradigmenwechsel.
Die Beschreibung als eine Kollision von Handlungs- und Unterlassungspflicht erscheint mir doch etwas fehlerhaft: Selbstverständlich wird der Abbruch einer intensivmedizinischen Behandlung im Allgemeinen ein aktives Tun umfassen. Allerdings ist die Weiterbehandlung auch kein bloßes passives Geschehenlassen. Die Fortschritte der Medizintechnik haben es zwar erlaubt, bestimmte Aspekte der Intensivbehandlung wie die Beatmung soweit zu automatisieren, dass sie über einen mehr oder minder langen Zeitraum quasi von alleine – auch ohne manuelle Eingriffe – weiterlaufen können. Dennoch erfordert auch eine intensivmedizinische Behandlung regelmäßiges pflegerisches und ärztliches Tätigwerden.
Bei einer nicht (unmittelbar) lebensbedrohlichen Erkrankung hindert ein “besonders geschütztes Vertrauensverhältnis” Ärzte sicherlich nicht daran, eine weitere Behandlung zumindest aus wichtigem Grunde abzulehnen. Im Falle der akut lebenserhaltenden und potentiell lebensrettenden Behandlung ist die Lage natürlich schwieriger. Ein völliger Ausschluss der “ex-post-Triage”, mit einem Behandlungsabbruch trotz bestehender (geringer) Erfolgsaussicht, könnte aber zum geradezu absurden Ergebnis führen, dass eine Gruppe von Patienten mit sehr geringer Überlebenschance über Wochen oder gar Monate (ebenfalls infolge des beachtlichen medizinisch-technischen Fortschritts) begrenzte räumliche, technische und personelle Krankenhauskapazitäten belegt, die sich nicht unbedingt schnell und für einen hinreichend langen Zeitraum aufstocken lassen. Ärzte und Pfleger gleichsam an das Bett des bestehenden Patienten zu fesseln, auch wenn die Behandlung anderer wesentlich sinnvoller wäre, erscheint mir jedenfalls nicht verfassungsrechtlich geboten.
(Etwas grundsätzlicher würde ich bereits die Einstufung eines fremdnützigen Behandlungsabbruchs als “Instrumentalisierung” der zunächst behandelten Person infrage stellen: Jemandem keine medizinische Behandlung mehr zukommen zu lassen ist mit einem Gebrauch als Werkzeug nicht ohne weiteres gleichzusetzen. In meine Bewertung fließt auch ein, dass die bestehende Behandlung eben kein stabiler, passiver Zustand ist, der im einfachen Gegensatz zur aktiven Verdrängung daraus stehen würde. Ähnliche Fragen könnten sogar im Zusammenhang mit Energiemangel aufkommen: Wäre die Einstellung der Strom- oder Gasversorgung für gewisse Wohnhäuser zulässig, um die Versorgung eines Krankenhauses oder einer ähnlich wichtigen gemeinnützigen Einrichtung sicherzustellen, auch wenn das Anwohner gesundheitlich schädigen könnte, einige möglicherweise auch tödlich?)
Noch ein paar Anmerkungen zur Frage der Diskriminierung, die bereits im letzten Artikel Thema war:
Eine verbotene mittelbare oder unmittelbare Benachteiligung (wegen irgendeines geschützten Merkmals) liegt gerade nicht vor, wenn es für die Unterscheidung einen zwingenden oder wichtigen und angemessenen sachlichen Grund gibt. Beispielsweise stellt die Anforderung eines Sehtests für einen Führerschein keine Diskriminierung blinder Personen dar. Ein Problem können dabei zugegebenermaßen Korrelationseffekte darstellen – etwa dürfte eine Korrelation des männlichen Geschlechts mit Leberschädigungen aufgrund eines im Durchschnitt höheren Alkoholkonsums nicht dazu führen, dass das Geschlecht einfach als Stellvertreter für den Leberzustand genutzt wird. (Dieses Problem kann auch Anlass sein, eine direkte Berücksichtigung bestimmter Merkmale auszuschließen, wie es im Bereich der Versicherungen inzwischen für das Geschlecht der Fall ist.) Aber ein Diskriminierungsverbot ist kein prinzipieller Hinderungsgrund, für die Triage die infolge einer Behinderung oder irgendeiner Vorerkrankung auch kurzfristig geringere Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Behandlung der akuten Erkrankung zu berücksichtigen.
Herzlichen Dank für Ihren kritischen Kommentar, der zielgenau auf einige der wichtigsten Punkte der Kontroverse verweist. Ihr Hinweis ist sicher zutreffend, dass die Tun-/Unterlassen-Unterscheidung (oder genauer: die Unterscheidung zwischen Ausführungs- und Unterlassungshandlungen) in gleich mehreren Hinsichten kontrovers ist: Strittig ist mitunter nicht nur, welche normative Relevanz die Unterscheidung in welchem Kontext hat, sondern ebenso, wie (oder ob) in der konkreten Fallkonstellation die Unterscheidung sinnvoll angewendet werden kann. Ich würde aber grundsätzlich bei dem Punkt bleiben, dass sich die Situation im Hinblick auf die Verpflichtungen der Ärztin danach unterscheidet, ob eine Behandlung bereits aufgenommen worden ist. Es scheint mir nämlich auf der anderen Seite unstrittig, dass nicht jede Nicht-Aufnahme einer Behandlung bereits eine Instrumentalisierung darstellt (wenn bspw. die Ressourcen nicht vorhanden sind) – was allerdings wiederum nicht bedeutet, dass die Nicht-Aufnahme einer Behandlung nicht ebenfalls in bestimmten Fällen eine Instrumentalisierung darstellen kann (wenn bei der ex-ante-Triage bspw. nach „Sozialnützlichkeit“ priorisiert würde). – Sie bemühen, um die angeblich „absurden“ Folgen einer Nicht-Zulassung der ex-post-Triage aufzuzeigen, jene in der Diskussion häufig benutzten Beispiele von Patientinnen mit „sehr geringer Überlebenschance“ – wo allerdings fraglich sein kann, ob ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt noch eine individuelle Indikation vorliegt oder die Weiterführung der Behandlung dem (mutmaßlichen) Patientinnenwillen weiterhin entspricht. Die Formulierung, Patientinnen mit geringer Erfolgsaussicht würden Ärztinnen und Pflegekräfte „an das Bett fesseln“, halte ich für ziemlich suggestiv. – Nun aber zum entscheidenden Punkt: Sie schreiben, dass eine Weiterführung der Behandlung nicht ausnahmslos geboten sein kann, „wenn die Behandlung anderer wesentlich sinnvoller wäre“. Was heißt hier „sinnvoller“? Hier liegt m.E. die fundamentale Ambivalenz, die zur Intransparenz der Diskussion führt. Und zwar entsteht die Suggestion, hier könne „sinnvoll“ in einem dem normativen Diskurs vorausliegenden, etwa medizinischen Sinn gemeint sein. Das ist aber nicht überzeugend. In welchem Sinn sollte die Weiterführung einer (dem Willen der Patientin entsprechenden und) medizinisch indizierten Behandlung (und nur um solche Fälle geht es!) medizinisch nicht mehr sinnvoll sein? Wenn, dann hat „sinnvoll“ hier einen normativen Sinn. Damit wird aber die normative Prämisse bzw. Beurteilung bereits vorausgesetzt, die gerade strittig ist: dass in bestimmten Fällen der Abbruch einer Behandlung zugunsten einer Dritten zulässig bzw. normativ „sinnvoll“ ist. Der gleiche Zirkelschluss unterliegt auch Ihrem Einwand dagegen, hier von „Diskriminierung“ zu sprechen. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass nicht jede Ungleichbehandlung eine Diskriminierung darstellt. Wie Sie schreiben, lässt sich von Diskriminierung nicht sprechen, wenn es einen „angemessenen sachlichen Grund“ für die Ungleichbehandlung gibt. Ist der Behandlungsabbruch zugunsten Dritter aufgrund höherer Erfolgsaussichten bei anderen Patientinnen ein „angemessener sachlicher Grund“? Was heißt hier „sachlicher Grund“? Es kann – siehe oben – kein sachlicher (etwas ‚medizinischer‘) Grund in dem Sinn sein, dass eine normative Beurteilung nicht bereits einfließt. Die Diskussion, ob es sich um Diskriminierung handelt, verschiebt sich dann einfach auf die Frage, ob es sich um einen angemessenen Grund handelt. Genau diese Frage kann aber nicht als geklärt vorausgesetzt werden.
Um das Problem noch etwas allgemeiner zu formulieren: Bei einer lebenserhaltenden Versorgungsleistung, die sich nicht in einem punktuellen Akt erschöpft, sondern über einen ausgedehnten Zeitraum erbracht werden muss, ist nicht offensichtlich, dass aus ethischen oder (verfassungs)rechtlichen Gründen eine einmal erfolgte Zuteilungsentscheidung grundsätzlich als unbefristet und, solange ein Nutzen bleibt, unwiderruflich angesehen werden müsste.
Diskriminierung kann natürlich auch bei der klassischen Triage relevant sein.
In Anlehnung an die Trias der Verhältnismäßigkeit würde ich die normative Gesamtwertung eher im Attribut “angemessen” verorten. Sachlich und wichtig beziehen sich dann auf einen spezielleren Zweck, der mit einer Unterscheidung verfolgt wird. Das Prinzip, lieber viele Menschenleben zu retten als wenige, dürfte etwa eine breite Zustimmung erfahren; die Frage, welche Maßnahmen dafür angemessen, also zulässig sein können, ist damit noch nicht beantwortet. Die Festlegung der zahlreichen Zwecke, die staatliche und private Stellen im einzelnen verfolgen, bleibt jedenfalls nicht allein Juristen und Ethikern überlassen.
Ungeachtet gesetzlicher Einschränkungen und der Bedeutung allgemeiner Interessen für die Ausgestaltung des öffentlichen Gesundheitssystems können auch die grundlegenden Ziele der Medizin (als prinzipieller “Sinn” medizinischen Handelns) nicht ohne Beteiligung der darin Tätigen bestimmt werden. Ohnehin lassen sich in der Praxis, anders als in manchem theoretischen Szenario, die einer Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen (und besonders Prognosen) nicht unbedingt einfach und zuverlässig ermitteln, was dann eine davon abgetrennte normative Beurteilung ermöglichen würde. Praktikabel und wirksam können Regelungen nur dann sein, wenn sie den ausführenden Personen – in diesem Fall dem medizinischen Personal – zumindest verständlich sind, bestenfalls sogar “sinnvoll” erscheinen.
Die Frage, bei welcher Überlebenswahrscheinlichkeit (und zu erwartendem Gesundheitszustand?) eine weitere Behandlung überhaupt noch indiziert ist (und dem mutmaßlichen Patientenwillen entspricht), habe ich mir auch gestellt. Es ist durchaus plausibel, dass sich die Beurteilungsmaßstäbe bei einer nicht unerheblichen und nicht ganz kurzfristigen Überlastung von Krankenhäusern unabhängig von einer ausdrücklicher Triage und deren rechtlicher Zulässigkeit etwas verschieben würden. Positiv könnte man sagen, dass in einer entspannteren Situation der Einsatz des Krankenhauspersonals für die Lebensrettung über das gebotene Handeln hinausgeht, was in einer Überlastungssituation nicht mehr im selben Maße möglich wäre.