Parität in Deutschland und Europa
(see here for a previous, albeit not completely identical English version)
Am vergangen Mittwoch, den 15. Juli 2020, erklärte der Thüringer Verfassungsgerichtshof das thüringische Paritätsgesetz für verfassungswidrig. Das Gesetz verpflichtete die Parteien, ihre Kandidatenliste für die Landtagswahlen abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen. Das Brandenburger Verfassungsgericht verhandelt im August über ein ähnliches Gesetz. Manches spricht dafür, dass die Sache früher oder später auch das Bundesverfassungsgericht erreichen wird.
Weder Brandenburg noch Thüringen sind Ausnahmen. Nicht in Deutschland, wo Paritätsgesetze sowohl auf Bundesebene wie in verschiedenen Ländern aktuell diskutiert werden, nachdem die Zahl weiblicher Abgeordneten in Parlamenten in den vergangen Jahren zurückging oder auf niedrigem Niveau stagnierte (für den Bundestag siehe hier, für die Länderparlamente hier). Auch ausserhalb von Deutschland ist ein zunehmender Trend zu Paritätsgesetzen zu verzeichnen: Laut der Interparlamentarischen Union finden in mindestens 81 anderen Staaten Wahlen mit gesetzlichen Geschlechterquoten statt. Allein diese Tatsache sollte uns zu denken geben. Wie auch immer wir zu Paritätsgesetzen stehen, in einem wesentlichen Teil der Welt werden diese als vereinbar mit und teilweise sogar als notwendiger Bestandteil von Demokratie angesehen.
In diesem Beitrag nehmen wir die deutschen Entwicklungen und Debatten vor dem Hintergrund der europäischen in den Blick – dabei muss freilich vieles kursorisch bleiben und einer umfassenderen Analyse zu einem späteren Zeitpunkt vorbehalten. Obwohl wir etwa Argumenten aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 für Paritätsgesetze grundsätzlich offen gegenüber stehen, geht es hier nicht primär um die Frage, welche Pflichten der Gesetzgeber zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen im politischen Bereich hat. Stattdessen geht es primär um eine Frage gesetzgeberischer Ermessenspielräume. Es geht mit anderen Worten darum, ob Bundes- oder Landesgesetzgeber Paritätsgesetze erlassen dürfen oder ihnen dies verfassungsrechtlich verboten ist. Gesetzgeberische Spielräume sind insbesondere dort weit, wo, wie hier, der Wortlaut der jeweiligen Verfassungen selbst keine klaren Aussagen enthält, wissenschaftlicher Dissens besteht und internationale und europäische Entwicklungen Quotenregelungen im politischen Bereichen ganz überwiegend für vertretbar und teilweise sogar zur Steigerung demokratischer Legitimität für angezeigt halten.
Europäische Entwicklung
In verschiedenen europäischen Staaten waren gesetzlich vorgeschriebene Quotenregelungen bereits Gegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren. In einigen dieser Verfahren, vor allem jener aus den 1990ger Jahren, stellten Gerichte die Verfassungswidrigkeit solcher Gesetze fest, brachten damit jedoch Verfassungsänderungen in Gang, die dann letztlich zur Verabschiedung der entsprechenden Gesetze führten. So war etwa die Situation in Frankreich, in der der Conseil Constitutionnel 1982 Quotengesetzgebung aufgrund eines formalen Verständnisses von Gleichheit und zugleich der Unteilbarkeit des Parlaments aufhob (siehe dazu Rodríguez-Ruiz and Rubio-Marín: 290-293). Dieselbe Situation trat in Italien auf, als das italienische Verfassungsgericht, das damals ausschließlich männlich besetzt war, 1993 und 1995 verpflichtende Quotenregelungen aufhob und die absolute Geltung eines formalen Gleichheitsverständnisses im Bereich der Politik betonte.
Im Unterschied dazu wurde in Spanien eine zwingende Quotenregelung angefochten, aber vom spanischen Verfassungsgericht 2008 aus Gründen materieller Gleichheit in einer Entscheidung aufrechterhalten, die auch grundsätzliche demokratische anstellte. Das Gesetz, das für Kandidatenlisten maximal ein Verhältnis von 40%-60% der Geschlechter festlegte, stellte nach der Ansicht des Gerichts keine Ungleichbehandlung von Männern dar, weil die Regelungen gleichermaßen für Männer und Frauen galt und damit geschlechtsneutral war (ähnlich insoweit der Argumentation der Verteidiger der Paritätsgesetze in Deutschland). Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass die Quoten sinnvoll und verhältnismäßig seien, um das angestrebte Ziel zu erreichen: die Verwirklichung politischer Gleichstellung von Mann und Frau. In klarem Widerspruch zur Entscheidung des französischen Conseil Constitutionnel argumentierte das spanische Gericht damit, dass Quoten nicht gegen das Prinzip der Unteilbarkeit des Parlaments verstießen, da alle Kandidaten, sofern sie gewählt würden, unabhängig von ihrem Geschlecht die gesamte Wählerschaft während ihrer Amtszeit verträten. Mit Blick auf Argumente demokratischer Legitimität verwies das Gericht darauf, dass Frauen die Hälfte der Bevölkerung darstellten und die Erhöhung des Frauenanteils in öffentlichen Ämtern dazu beitragen könne, die Identität von gewählten Repräsentanten und Repräsentierten herzustellen. Das Gesetz begrenze zulässigerweise die Freiheit politischer Parteien – deren interne Autonomie, nicht anders als in Deutschland (Art. 21 GG), durch die spanische Verfassung gewährleistet wird (Art, 6.2), deren Funktionsweise allerdings demokratischen Erfordernissen genügen müsse – nicht nur, da es einem legitimen Ziel diene und verhältnismäßig sei, sondern auch weil nur Bürgerinnen und Bürger, aber nicht Parteien sowohl aktive wie passive Wahlrechte hätten.
Die spanische Entscheidung erging Jahre nach den französischen und italienischen Entscheidungen und bot damit eine auf materieller Gleichheit beruhende verfassungsrechtliche Interpretation an, die eine Verfassungsänderung überflüssig machte. Sie erging auch zu einer Zeit, in der mehrere europäische Staaten, einschließlich Deutschlands, Verfassungsänderungen vornahmen, in der sie sich dem Ziel der Herstellung materieller Geschlechtergerechtigkeit verpflichteten und damit einen neuen Trend einleiteten. In der Tat beobachten wir seit dem 1990er Jahren eine Welle von Verfassungsänderungen mit dem Ziel, die tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau durchzusetzen. Zahlreiche europäische Verfassungen nach 1945 beinhalteten bereits Verpflichtungen zur formaler Gleichheit, aber Frauen blieben lange Zeit in traditionell männlichen Bereichen unterrepräsentiert – ein Erbe der Tradition der Trennung öffentlicher und privater Sphären. In den 1990ger Jahren bestand in Europa zunehmend Übereinstimmung, dass hier Veränderungen nötig seien.
Einige europäische Staaten ergänzten ihre Verfassungen durch Verpflichtungen zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und zur Beseitigung von Diskriminierungen, die gerade Frauen betrafen, ohne dabei festzulegen, in welchen Bereichen Frauen besonders unterrepräsentiert waren (z. B. Deutschland (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG), Griechenland (Art. 116.2) oder Portugal (Art. 9º )). Andere Reformen führten Regelungen ein, die dem Staat oder Gesetzgeber entweder erlaubten oder ihn sogar verpflichteten, die Gleichberechtigung bzw. Chancengleichheit von Frauen und Männern bei der Kandidatur um politische Ämter (z.B. in Slowenien und Portugal) oder um den gleichen Zugang von Männern und Frauen zu öffentlichen Ämtern (Frankreich und Italien) zu unterstützen. Eines ist jedoch klar: Keine dieser Verfassungsreformen schaffte subjektive Rechte auf eine paritätische Vertretung. Sie legitimierten oder unterstützen lediglich gesetzliche Interventionen.
Dieser sich abzeichnende europäische Konsens über materielle Gleichstellung und „Paritätsdemokratie“ (die eine gleichberechtigte oder ausgewogene Zusammensetzung der Geschlechter in Vertretungs- und Entscheidungsgremien erfordert) kommt in der staatlichen Praxis derjenigen europäischen Staaten zum Ausdruck, die Bestimmungen zur materiellen Gleichberechtigung und zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in ihren Verfassungen oder anderen Gesetzen, etwa zur Einführung von Quoten im öffentlichen und privaten Sektor, verabschiedeten. Dieser sich abzeichnende Trend wurde zusätzlich durch Massnahmen europäischer Institutionen in der EU und im Europarat unterfüttert. Charakteristisch für die europäische Verbreitung von Geschlechterquoten war, dass die Erhöhung demokratischer Legitimität im Vordergrund stand. Tatsächlich wurde das Konzept der Parität erstmals 1989 in Europa im Rahmen eines Seminars über das demokratische Prinzip der gleichberechtigten Vertretung erörtert. Inspiriert vom aufkommenden Diskurs über „Paritätsdemokratie“ unterzeichneten vierzehn hochrangige gewählte Beamte, die am ersten Europäischen Gipfel von „Frauen an der Macht“ im November 1992 teilnahmen, die Athener Erklärung, die sich dem Ziel der Parität u.a. in gesetzgebenden Vertretungen verpflichtete. Dies bildete den Rahmen für die Annahme der Empfehlung des Rates zur ausgewogenen Beteiligung von Frauen und Männern an Entscheidungsprozessen in der EU 1996 sowie der Erklärung zur Gleichstellung von Frauen und Männern als grundlegendes Kriterium der Demokratie im Rat. Diese Instrumente wurden zu einem Bezugsrahmen für all jene, die sich in den europäischen Mitgliedstaaten um eine stärkere Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungsprozessen bemühten, ein Ziel, das im neuen Jahrhundert weiterhin ganz oben auf der europäischen Agenda stand. Erwähnenswert ist auch die Empfehlung Rec (2003) 3 des Ministerkomitees zur ausgewogenen Beteiligung von Frauen und Männern an politischen und öffentlichen Entscheidungen.
Auch der EGMR betonte in seiner Rechtsprechung die Verbindung zwischen der politischen Einbeziehung von Frauen und demokratischen Standards einzelner Staaten. 2011 verteidigte er das spanische Paritätsgesetz gegen Individualbeschwerden, die eine Verletzung der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlung und Vereinigung (Art. 10 und 11 EMRK), die staatliche Verpflichtung zur Abhaltung freier Wahlen (Art. 3 Abs. 1 Prot. Nr. 1 des Übereinkommens) und formeller Grundsätze der Gleichstellung der Geschlechter (gemäß Art. 14 des Übereinkommens und Art. 1 des Protokolls Nr. 12) bemängelten. Und erst im vergangenen Dezember hielt der EGMR zuletzt mit Verweis auf die ausdrücklichen Empfehlung zur Annahme von Geschlechterquoten zur Bekämpfung der Unterrepräsentation von Frauen durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates erneut verbindliche Quotengesetze aufrecht.
Die Liste der europäischen Staaten, die derartige Paritätsgesetze verabschiedet haben, ist lang und nicht leicht zu ignorieren: Sie umfasst Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Albanien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Irland, Moldawien, Montenegro, Nordmakedonien, Serbien und San Marino. Die Abwesenheit Deutschlands in dieser Reihe ist in gewisser Weise überraschend, insbesondere wenn man bedenkt, dass Deutschland von einer Kanzlerin geleitet wird, die zweifellos als eine der denkwürdigsten Politikerinnen und Regierungschefs ihrer Zeit in Erinnerung bleiben wird. Deutschland belegt dennoch nur Platz 47 im weltweiten Ranking der IPU zu Frauen im Parlament. Gleichwohl hat Deutschland hat sowohl in der Vergangenheit wie Gegenwart Erfahrungen mit positiven Maßnahmen zur Förderung der Gleichberechtigung einschließlich von Quoten. Erst kürzlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das Frauenquoten im unternehmerischen Bereich festlegt. Deutschland gehörte auch zu den ersten Ländern in Europa, in denen in den 1980er Jahren freiwillige Frauenquoten von politischen Parteien eingeführt wurden, die eine wichtige Rolle dabei spielten, den EuGH und das europäische Recht dazu zu bewegen, positive Maßnahmen für Frauen in der öffentlichen Beschäftigung zu akzeptieren Sektor (vgl. etwa den Fall Kalanke).
Deutschland
Der Schutz von Frauenrechten hat auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz gelegentlicher Ausnahmen Tradition. Noch bevor Art. 3 Abs. 2 S.2 ins Grundgesetz aufgenommen wurde, hatte das Gericht selbst eine entsprechende gesetzgeberische Verpflichtung zur Durchsetzung der Gleichberechtigung in der Nachtarbeitsentscheidung aus Art. 3 Abs. 2 GG abgeleitet: „Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, daß er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Der Satz “Männer und Frauen sind gleichberechtigt” will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen (…). Er zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse. (…) Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für Frauen führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden (…). Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden“. Das Grundgesetz beinhaltet deshalb kein rein formales Gleichheitsverständnis. Weder die französische noch die italienische Verfassung enthielten einen Art. 3 Abs. 2 S. 2 entsprechenden Passus, als die dortigen Paritätsgesetze in den 1990ger Jahren aufgehoben wurden und Verfassungsänderungen einleiteten.
Es stellt sich natürlich die Frage, wie weit die gesetzgeberische Verpflichtung in Art. 3 Abs. 2 S.2 GG reicht – und was sie für den Bereich der Politik bedeutet. In Deutschland wie anderswo ist sind Demokratie und Repräsentation Konzepte, über deren Inhalt gestritten wird. Das ist kaum überraschend. Die Paritätsgesetze werden politisch dabei vor allem von Parteien am äußeren rechten Rand, der AfD und der NPD, sowie der männlich dominierten Piratenpartei auf der Basis eines weiten Verständnisses der Autonomie politischer Parteien und traditioneller Vorstellungen von Repräsentation bestritten, die die Zementierung der Politik als Männerdomäne sicherstellen. Der Angriff auf die Parität fügt sich dabei jedenfalls für die AfD und NPD in ein umfassenderes Weltbild ein, in dem die Berufung auf überkommene Traditionen wie etwa die traditionelle Familie der Erhaltung überkommener Rollenbilder dient und die öffentliche Sphäre als männliche Bastion von Autorität und Macht verstanden wird. Der Kampf gegen die Parität stellt insofern Teil eines umfassenderen internationalen Backlashs gegen Frauenrechte dar, der in Deutschland wie anderswo mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus in Verbindung steht.
Die Verfassungsmäßigkeit von Paritätsgesetzen ist jedoch letztlich nicht so sehr davon abhängig, was der gesetzgeberische Auftrag zur Durchsetzung der Gleichberechtigung im Einzelnen beinhaltet noch von spezifischen Vorstellungen von Demokratie und Repräsentation. Es geht vielmehr um den Umfang gesetzgeberischer Gestaltungsmacht und die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Gesetzgeber. Mit anderen Worten: Zur Debatte steht nicht, ob der Gesetzgeber zur Herstellung von Parität in Parlamenten verpflichtet ist, sondern ob der Gesetzgeber politischen Parteien auferlegen darf, auf parteilichen Kandidatenlisten zwischen Männern und Frauen zu alternieren, um die Unterrepräsentation von Frauen in der Politik zu überwinden.
Der frühere Verfassungsrichter und Verfassungstheoretiker Ernst-Wolfgang Böckenförde beschrieb die Verfassung einst als Rahmenordnung. Ein Rahmen gibt jedoch nur die Ausmaße eines Bildes an, nicht seinen Inhalt, noch ob es sich um ein impressionistisches oder ein abstraktes Gemälde handeln soll. Konservative deutsche Juristen und manchmal sogar Juristinnen zitieren gern Ernst Forsthoffs Kritik an einem umfassenden Verständnis der Verfassung als „Weltenei“, aus dem sich alles weitere ergebe. Solche Argumente – und andere Stimmen wie jene von Konrad Hesse, der die funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit immer betonte – unterstützen die These einer grundsätzlich beschränkten Rolle der Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit. Nehmen wir diese These ernst, dann stellt die Debatte um Paritätsgesetze eine gute Gelegenheit dar, institutionelle Prinzipien über persönliche politische Präferenzen zu den Paritätsgesetzen (welcher Art auch immer diese sein mögen) zu stellen.
All dies bedeutet freilich nicht, dass Verfassungsgerichte keine Rolle zu spielen haben. Die Funktionsfähigkeit der Demokratie sicherzustellen gehört gerade zum verfassungsrechtlichen Schutz der Rahmenordnung. Das bedeutet aber nicht – und das ist zentral – dass Gerichte dazu berufen sind, ein umfassendes Demokratieverständnis einschließlich aller Details des Wahlrechts vorzugeben und gegen die Vorstellungen der gewählten Abgeordneten gerichtlich durchzusetzen (dazu mehr u.a. bei Christoph Möllers hier). Das Grundgesetz überlässt die Ausgestaltung des Wahlrechts gerade mit Blick auf die Details dem Gesetzgeber, wie das Bundesverfassungsgericht immer wieder betont hat. Dabei hat der Gesetzgeber grundsätzlich einen eigenen Gestaltungsspielraum, der u.a. auch die Wahl zwischen einem Mehrheits- und Verhältniswahlrecht miteinschließt, um nur ein wichtiges Beispiel aus der Rechtsprechung zu nennen. Wo Verfassungsgerichte deshalb Entscheidungen des demokratisch gewählten Gesetzgebers für verfassungswidrig erklären, sollten sie auf festem verfassungsrechtlichen Boden stehen und mit guten Argumenten ausgestattet sein. Das war in Thüringen nicht der Fall, wie bereits zahlreiche Autoren/innen, u.a. in diesem Symposium (hier und hier), betont haben.
Hier deshalb nur in Kürze: Paritätsgesetze schränken die Freiheit der Parteien bei der Personalwahl ein, so viel steht fest. Ob sie daneben auch das aktive und passive Wahlrecht beschränken, ist umstrittener und hängt von unserem Verständnis von Demokratie ab. Selbst wenn wir dies jedenfalls für das passive Wahlrecht annehmen, sind solche Einschränkungen aber gerechtfertigt zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau entsprechend Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG. (In der Thüringer Landesverfassung war dieses verfassungsrechtliche Gebot darüber hinaus spezifisch auf die Gleichberechtigung im öffentlichen Leben bezogen, Art. 2 Abs. 2 S. 2 Thür.Verf.). Gegenwärtig sind Männer in deutschen Parlamenten überrepräsentiert und Frauen unterrepräsentiert im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Deutsche Kritiker von Parität weisen dies gelegentlich auf mit Blick darauf zurück, dass der Frauenanteil in den politischen Parteien deutlich niedriger liege als der Männeranteil. Sozialwissenschaftliche Studien machen jedoch deutlich, dass die allgemeine Unterrepräsentation von Frauen im politischen Leben strukturelle Gründe hat (siehe etwa hier und später in diesem Symposium). Im Lichte dieser strukturellen Probleme erscheint die Behauptung der Prozessvertreter der AfD und anderer (z.B. Morlok&Hobusch), dass Frauen in Wirklichkeit in Parlamenten nicht unter-, sondern mit Blick auf ihren Anteil an Parteimitgliedern überrepräsentiert seien, verfehlt. Politische Parteien sind Teil jener Strukturen, die der politischen Gleichberechtigung von Frauen in vielen Fällen im Wege stehen. Die genannte Auffassung verrät darüber hinaus auch ein merkwürdiges Verständnis der Rolle von Abgeordneten, die nicht Vertreter ihrer Parteimitglieder, sondern des ganzen Volkes sind.
Wie solche strukturellen Hindernisse einer stärkeren politischen Partizipation von Frauen zu überwinden sind, muss primär der Gesetzgeber entscheiden. Obwohl Kritiker argumentieren, hier stünden andere, weniger einschränkende Mittel bereit als Paritätsregelungen, sind diese nach sozialwissenschaftlichen Studien durchaus ein geeignetes Mittel, um Frauen in politische Parteien zu bringen und damit zur Überwindung der Unterrepräsentierung von Frauen im Bereich der Politik beizutragen. Ähnlich wirksame und weniger einschneidende Mittel sind jedenfalls nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Autonomie politischer Parteien und die Wahlrechtsgrundsätze werden auch durch andere Regelungen eingeschränkt. Warum mit Blick auf die Paritätsgesetze auf einem absoluten formalen Gleichheitsverständnis im Wahlrecht beharrt wird, das keine Einschränkungen zur Durchsetzung der Gleichberechtigung erlauben soll, ist letztlich nicht ganz klar. Man vermutet, dass der Hintergrund hierfür – und für die Unterstützung für diese Position in Teilen der Literatur – darin liegt, dass Veränderungen im Wahlrecht grundsätzlich Nervosität auslösen. Man fürchtet, dass Einschränkungen wie die genannten auch zu anderen problematischeren Änderungen führen könnten. Diese Sorge spricht für den/die Autor/in, ist aber letztlich unberechtigt. Art. 3 Abs. 2. S. 2 GG hat zum einen eine verfassungsrechtliche Sonderstellung, die Eingriffe zur Erreichung anderer Zwecke nicht ohne weiteres erlaubt. Noch wichtiger erscheint aber hier der oben diskutierte europäische Kontext, der deutlich macht, dass es sich hier gerade nicht um eine grundsätzlich bedenkliche Abweichung von internationalen und europäischen Standards von Demokratie handelt, sondern eher um eine Änderung in unserem Verständnis von Demokratie selbst.
Angesichts all dessen ist es kaum überzeugend zu argumentieren, das Grundgesetz oder entsprechende Länderverfassungen verböten dem Gesetzgeber, Paritätsgesetze zu erlassen. Der Text des Grundgesetzes ebenso wie der jeweiligen Landesverfassungen legt sich weder auf ein spezifisches Verständnis von Demokratie fest noch enthält er letztlich eine Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis Parteiautonomie und Wahlrechtsgrundsätze auf der einen und das Gebot zur Förderung der Gleichberechtigung auf der anderen Seite stehen. Auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur ist diese Frage umstritten. Gerade deshalb ist aber der Gesetzgeber gefragt und gerichtliche Zurückhaltung geboten. Dies gilt umso mehr, als eine Reihe von europäischen Demokratien und Institutionen Paritätsgesetze für unbedenklich und teilweise sogar im Lichte neuer Vorstellungen von Demokratie in Europa für geboten halten. Die Parteien, die die Paritätsgesetze angreifen, sind freilich nicht für ihre Offenheit für europäische Ideen und Diskurse bekannt. Ob deutsche Juristinnen und Juristen ihnen darin folgen werden, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen.