Parität und historische Auslegung
Warum der Thüringer Verfassungsgerichtshof die Entstehungsgeschichte unrichtig gedeutet hat
1.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat die geschlechterparitätische Quotierung der Landeslisten der Parteien für die Wahlen zum Thüringer Landtag nach dem Reißverschlussprinzip für nichtig erklärt (vgl. dazu etwa Janisch, Rath und, vehement ablehnend: Christine Hohmann-Dennhardt).
In seinem Urteil stützt er sich maßgeblich auf die Entstehungsgeschichte des Gleichstellungsgebotes aus Art. 2 II 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993: Weil im Entstehungsprozess konkretere Vorschläge zur Zulässigkeit von Paritätsregelungen erfolglos geblieben seien, „zwing[e]“ die Entstehungsgeschichte zu der Folgerung, dass die verfassungsgebende Gewalt mit dem Gleichstellungsgebot „nicht die Möglichkeit“ habe eröffnen wollen, „paritätische Quotierungen einzuführen“ (vgl. Urteilsumdruck, S. 42-44; Zitat: S. 44).
Diese Art der entstehungsgeschichtlichen Argumentation leidet jedoch an einem grundlegenden Mangel: Sie verkennt den zentralen Unterschied zwischen allgemeineren und konkreteren Anwendungsvorstellungen eines Gesetzgebers (vgl. dazu eingehend hier, S. 6-9, 103 ff.).
2.
Art. 2 II 2 ThürVerf lautet:
„Das Land, seine Gebietskörperschaften und andere Träger der öffentlichen Verwaltung sind verpflichtet, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern.“
Der Verfassungsgerichtshof führt völlig zutreffend aus, dass der „Umfang“ dieses Gleichstellungsgebotes „über den Gehalt der verwandten bundesverfassungsrechtlichen Bestimmung“ des Art. 3 II 2 GG „hinaus[reicht]“:
Nach Art. 3 Abs.2 Satz 2 GG „fördert“der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“. Demgegenüber verlangt die Thüringer Verfassung „die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“ und sie verpflichtet nicht nur dazu, diese „zu fördern“, sondern auch „zu sichern“.
(vgl. Urteilsumdruck, S. 37).
Wenn eine verfassungsgebende oder gesetzgebende Gewalt für die von ihr gesetzten Normen gleichzeitig allgemeinere und konkretere Anwendungserwartungen hat, muss es darauf ankommen, auf welcher Stufe der Allgemeinheit sie ihre Festsetzungen treffen will: Will sie auch ihre konkreteren Anwendungsvorstellungen („original expected applications“) für verbindlich erklären – oder nur ihre generelleren Anwendungsvorstellungen normieren, die konkrete Anwendung aber gerade entwicklungsoffen halten?
3.
Eine allgemeine und weite Wortlautfassung spricht zunächst einmal dafür, dass der Wortlaut auch so weit gemeint ist, wie er gefasst ist, der gesetzgeberische Festsetzungswille sich also auf allgemeinere Anwendungsvorstellungen richtet: Die Thüringer Verfassung soll es gebieten, „die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“ nicht nur zu fördern, sondern sogar „zu sichern“.
Für einen Willen, entgegen diesem weit gefassten Wortlaut bestimmte Deutungen definitiv ausschließen zu wollen, müsste es schon besonders starke entstehungsgeschichtliche Indizien geben. Der Verfassungsgerichtshof teilt aber über solche Indizien nichts mit, sondern schließt schon aus der Ablehnung bestimmter konkretisierender Regelungen, dass die Entstehungsgeschichte zu dem Ergebnis „zwing[e]“, dass deren Inhalt mit der allgemeiner gefassten Bestimmung jedenfalls nicht verbunden gewesen sein könne.
Das kann jedoch nicht richtig sein. Die verfassungsgebende Gewalt hätte ja auch umgekehrt ohne weiteres klarstellen können, dass Paritätsregelungen keinesfalls eine gebotene „Sicherung“ im Sinne des Gleichstellungsgebotes darstellen können. Sie hätte das etwa in einem weiteren Satz normieren können: „Quotierende Paritätsregelungen bleiben jedoch unzulässig.“
Dass sich (auch) für eine solche Änderung aber offenbar keine Mehrheit gefunden hat, schließt für den Verfassungsgerichtshof (zu Recht) seine eigene Deutung keineswegs zwingend aus. Die im Wortlaut selbst gerade nicht eindeutig geklärte Frage kann dann aber ebensowenig schon dadurch zwingend im Sinne einer solchen generellen Unzulässigkeit paritätischer Regelungen entschieden worden sein, dass das Gegenteil, also deren Zulässigkeit, nicht ausdrücklich klargestellt wurde.
Denn es gibt, um es mit Justice Neil Gorsuch vom U.S. Supreme Court zu sagen, keinen Auslegungskanon „der Donut-Löcher“, wonach immer dann eine stillschweigende Ausnahme gilt, wenn das Gesetz einen konkreten Fall nicht ausdrücklich erwähnt. Stattdessen gilt: Wenn der Gesetzgeber „sich entscheidet, von einer weit gefasste Regel keine Ausnahmen vorzusehen, wenden Gerichte die weit gefasste Regel an“ (vgl. hier, Slip Op., S. 19, sowie hier, unter 6.). Oder, mit Christian Rath formuliert: „Wenn es nach dem Thüringer Verfassungsgericht ginge, müssten Verfassungen jedes umstrittene Projekt ausdrücklich erwähnen und sähen dann aus wie ein Koalitionsvertrag.“
Das Sondervotum der Richterin Elke Heßelmann weist beispielsweise zutreffend darauf hin, dass eine Regelung auch einen „Formelkompromiss“ bedeuten kann (vgl. S. 48, zu Art. 3 II 2 GG), mit dem konkretere Interpretationsfragen nicht abschließend entschieden, sondern, wohlwissend um mögliche Auslegungsdifferenzen, gerade der späteren Klärung überlassen werden sollen.
Jedenfalls die vom Verfassungsgerichtshof mitgeteilten entstehungsgeschichtlichen Indizien zeigen deshalb nicht (und erst Recht nicht zwingend), dass „quotierende Paritätsregelungen“ vom Verfassungsgeber Thüringens generell, also unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, nicht als eine durch Art. 2 II 2 ThürVerf gerechtfertigte Sicherung der tatsächlichen Gleichstellung angesehen worden wären.
4.
Aber selbst wenn dies den konkreteren Anwendungsvorstellungen im Jahr 1993 entsprochen haben sollte, hieße das noch nicht, dass es nicht dem in der weit gefassten Bestimmung zum Ausdruck gekommenen allgemeineren Willen der verfassungsgebenden Gewalt gleichwohl entsprechen könnte, wenn im Jahr 2020 zumindest einige solcher Regelungen als eine durch Art. 2 II 2 ThürVerf gerechtfertigte Sicherung der tatsächlichen Gleichstellung erkannt werden.
Denn, nochmals: Wenn ein Gesetzgeber weite Formulierungen beschließt, so spricht das zunächst einmal dafür, dass er allgemeinere Grundsätze, und nicht seine historischen konkreteren Anwendungsvorstellungen verbindlich machen will.
5.
Die verfassungsgebende Gewalt des Grundgesetzes etwa wollte gerade eine dynamische Weiterentwicklung der von ihr in allgemeinen Formulierungen niedergelegten Grundrechte. Für das Grundgesetz war eine Kombination gewollt: Die Grundrechte sollten im Sinne eines „Nie wieder“ zwar ein konkretes historisches Minimum als unhintergehbar absichern, abgesehen davon aber eine dynamische Weiterentwicklung der allgemeinere Grundsätze ermöglichen.
In einem solchen Fall schließen Dynamik und historische Auslegung einander richtigerweise nicht aus (vgl. dazu etwa auch Reimer, Rn. 303: „wenn der Gesetzgeber eine mitwachsende Norm schaffen wollte“, wovon „regelmäßig auszugehen“ sei; Sauer, hier, § 9 Rn. 31: Gesetzgeber kann „eine spezifische Wandelbarkeit des Rechtssatzes gerade gewollt“ haben).
Die subjektiv-historische Auslegung führt deshalb jedenfalls unter dem Grundgesetz zu einem „Living Originalism“ (vgl. für diesen Begriff mit Blick auf die U.S.-Verfassung: Balkin; für das Grundgesetz: hier, S. 6-9, 99 ff.). Dieser dynamische Diskriminierungsschutz der Verfassung schließt richtigerweise etwa auch eine gleiche Anerkennung der „Ehe für alle“ mit ein (vgl. dazu hier und hier).
6.
Dass eine allgemein gefasste Norm auch bei einer an der entstehungszeitlichen Textbedeutung orientierten Auslegung unerwartete Anwendungsfälle („unexpected applications“) miterfassen kann, hat auch der U.S. Supreme Court erst vor kurzem zu Recht bekräftigt.
Von einem Originalismus der konkreten Anwendungserwartungen („original expected applications“) hatte sich bereits Justice Antonin Scalia zu Recht verabschiedet, und sein Nachfolger am Supreme Court, der bereits erwähnte Justice Neil Gorsuch, ist ihm darin gefolgt – wenn auch beide dies nicht in allen Bereichen konsequent umsetzen.
Gorsuch hat dies gerade erst in seinem Bostock-Urteil zur LGBTQ-Gleichheit am Arbeitsplatz vom 15. Juni 2020 bekräftigt (vgl. dazu näher hier). Nach diesem Urteil umfasst das Verbot der Geschlechterdiskriminierung aus Title VII des Civil Rights Act von 1964 schon seiner ursprünglichen Bedeutung nach auch das Verbot einer Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität. Das Urteil wurde oben schon einmal erwähnt, weil Gorsuch darin zu Recht einen Auslegungskanon der „Donut-Löcher“ zurückweist. Gorsuch hat es für eine breite, die üblichen ideologischen Gräben überbrückende Mehrheit von sechs Richterinnen und Richtern verfasst; nur drei Richter, die Justices Thomas, Alito und Kavanaugh, haben dagegen gestimmt.
Was das Bostock-Urteil zur öffentlichen Wortlautbedeutung der Entstehungszeit („original public meaning“) sagt, muss entsprechend auch für die subjektiv-historische Auslegung des ursprünglichen Gesetzgeberwillens („original intent“) gelten, wenn man wie geboten zwischen den Allgemeinheitsstufen unterscheidet, auf die sich der Festsetzungswille der normsetzenden Gewalt beziehen kann.
7.
Das Paritäts-Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs wird in seiner entstehungsgeschichtlichen Argumentation diesem Zusammenspiel von allgemeineren und konkreteren Anwendungsvorstellungen nicht gerecht.
Wenn dies hier kritisiert wird, dann soll damit weder zur Vereinbarkeit der konkreten Paritätsregelung mit der Thüringer Verfassung abschließend Stellung bezogen werden (vgl. zur allgemeineren Debatte über derartige Paritätsregelungen etwa Frauke Brosius-Gersdorf, Antje von Ungern-Sternberg, Friederike Wapler), noch zu ihrem Verhältnis zum Bundesrecht (vgl. dazu in diesem Symposium Hohmann-Dennhardt, die betont , dass es „nicht sein“ kann, dass „dem Thüringer Gesetzgeber landesverfassungsrechtlich verboten ist, was ihm das Grundgesetz“ – durch Art. 3 II GG als Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes – erlaubt).
Was den Grundsatz demokratischer Repräsentation angeht, sei aber immerhin festgehalten, dass er jedenfalls nicht nur auf Grundlage einer „Spiegelungstheorie“ (zu dieser vgl. Urteilsumdruck, S. 34 f.) zugunsten einer Paritätsregelung angeführt werden kann. So hat etwa Cara Röhner darauf hingewiesen, dass es im Sinne einer „materialen Perspektive“ nicht darum geht, „ein Spiegelbild der Gesellschaft oder eine vormoderne ständische Repräsentation in den Parlamenten zu erreichen, sondern darum, historisch exklusive Strukturen in inklusive zu transformieren“, wobei die „Gruppe der Frauen“ dabei „nicht als eine homogene“ verstanden werden muss, sondern „über ein potentiell geteiltes Erfahrungswissen und einen historisch umkämpften Ausschluss definiert“ werden kann.
8.
Auch Wapler hat in ihrem wertvollen Debattenüberblick darauf hingewiesen, dass die häufig anzutreffende Entgegensetzung von monistischen und spiegelbildlichen Repräsentationskonzepten unvollständig bleibt. Denn neben monistischen und spiegelbildlichen Repräsentationskonzepten gibt es auch noch pluralistische. Für sie sind die Parlamente „weniger Spiegel eines außerhalb ihrer selbst liegenden Volkes oder Gemeinwohls“ als vielmehr „ein Raum, in dem die wesentlichen gesellschaftlichen Konflikte zur Sprache gebracht und in fairen Verfahren ausgehandelt werden können“. Eine plurale Parlamentszusammensetzung ist dann „nicht aus Gründen der Proportionalität“ als solcher anzustreben, sondern weil sie die Wahrscheinlichkeit steigern kann, dass alle vorhandenen Interessen berücksichtigt werden:
„Bleibt die Arbeit in den politischen Vertretungs-körperschaften einem exklusiven Kreis von Menschen mit ähnlichen Eigenschaften und biographischen Erfahrungen vorbehalten, droht der Blickwinkel sich auf deren Belange zu verengen.“
(vgl., auch für die vorangehenden Zitate, hier, S. 10).
Wenn man solche Zusammenhänge berücksichtigt, spricht jedenfalls einiges dafür, die Gleichstellungsgebote auch als verfassungsrechtliche Ermächtigungen dafür zu verstehen, solche pluralistischen Wirkungen größerer tatsächlicher Gleichstellung in den Parlamenten zum Tragen zu bringen. Das Argument, dass „Grundrechtsschutz und Staatsorganisation eben […] zwei Paar Schuhe“ seien (so von Ungern-Sternberg mit Blick auf Art. 3 II 2 GG), greift aus dieser Perspektive zu kurz, um eine Rechtfertigung von Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze und der Parteienfreiheit durch die Gleichstellungsgebote von vornherein auszuschließen. Ihr enger Zusammenhang zum Demokratieprinzip legt dann vielmehr eine solche Rechtfertigungsmöglichkeit nahe, wie das der Thüringer Verfassungsgerichtshof für die dortige Regelung ja im Ergebnis ebenfalls festgehalten hat. Wapler hat im Übrigen auch gezeigt, dass auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eher dafür spricht, dass der Gleichstellungsauftrag aus Art. 3 II 2 GG auch Beschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze und der Parteienfreiheit rechtfertigen kann (vgl. mit Nw. hier, S. 14-16).
9.
Wenn man aus solchen Gründen davon ausgeht, dass die Gleichstellungsgebote bei der Rechtfertigung von Paritätsmodellen mit zu berücksichtigen sind, wird es, weil Wortlaut und Entstehungsgeschichte die Frage nicht allein schon abschließend klären, letztlich vor allem auf eine systematische Auslegung der insoweit miteinander kollidierenden Grundsatznormen ankommen.
Diese systematische Auslegung wiederum kann als eine Abwägung der widerstreitenden Auslegungsargumente konzipiert werden (vgl. dazu hier, S. 74, sowie allgemeiner hier; s. insoweit auch das Sondervotum der Richterin Heßelmann, dass Art. 3 II 2 GG im Rahmen als systematische Auslegung berücksichtigt). Der weit gefasste Wortlaut der Gleichstellungsgebote muss im Rahmen dieser Abwägung mit einigem Gewicht zugunsten einer Zulässigkeit jedenfalls mancher Formen paritätsorientierter Regelungen ins Gewicht fallen.
10.
Aber zurück zur Entstehungsgeschichte: Sie ist und bleibt zu Recht eine unentbehrliche Auslegungsmethode. Das zeigt nicht zuletzt die Auslegungspraxis des Bundesverfassungsgerichts schon seit jeher, und auch seine eher spärlichen auslegungstheoretischen Äußerungen erkennen das gerade in den letzten Jahren verstärkt an (vgl. dazu näher und mit detaillierten Nw. hier, S. 117-130).
Das Auslegungsziel sollte es sein, den im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck gebrachten Willen der ge