29 January 2025

Keine Kontrolle ohne Kenntnis

Zur Rechtsstellung parlamentarischer Beobachtung auf Versammlungen

Im Zusammenhang mit dem Protest gegen den Bundesparteitag der Alternative für Deutschland am 11. Januar 2025 in Riesa steht der Vorwurf im Raum, dass ein Polizist den sächsischen Landtagsabgeordneten Nam Duy Nguyen bewusstlos geschlagen hat. Neben der versammlungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit dieser polizeilichen Maßnahme wirft der konkrete Vorfall auch die Frage auf, welche Rechtsstellung speziell Abgeordneten als „parlamentarischen Beobachter:innen“ auf Versammlungen zukommt. Obwohl dieses Phänomen seit Jahren zur gelebten Protestkultur gehört, findet sich der Begriff bis heute in keinem Versammlungsgesetz.

Aber auch ohne Erwähnung in Gesetzestexten ist die parlamentarische Beobachtung auf Versammlungen durch verfassungsrechtliche Grundsätze und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Neben der freien Mandatsausübung nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgt der Schutz parlamentarischer Beobachtung wegen seiner dienenden Funktion für die demokratische Kontrolle von Staatsgewalt auch unmittelbar aus Art. 20 Abs. 2 GG, denn sie setzt voraus, dass die Abgeordneten das zu kontrollierende Geschehen kennen. Die parlamentarische Beobachtung sollte daher wegen ihrer Bedeutung expliziter Regelungsgegenstand der Versammlungsgesetze werden.

Kein allgemeines Hinderungsverbot der Mandatsausübung aus Art. 48 GG

Nach seinem Wortlaut verbietet Art. 48 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG für Bundestagsabgeordnete – und über Art. 28 Abs. 1 GG (BVerfG, Beschluss vom 05. Juni 1998 – 2 BvL 2/97, Rn. 64) auch für Landtagsabgeordnete – die Behinderung der Mandatsausübung. Auch im einfachen Recht wie für den Bund in § 2 Abs. 1 Var. 4 AbgG und Landesgesetzen wie für Sachsen in Art. 42 Abs. 2 S. 1 Var. 1 SächsVerf finden sich entsprechende Regelungen. Seinem historischen Ursprung nach soll das Hinderungsverbot des Art. 48 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG zuvorderst vor mandatsbedingten Nachteilen aus der beruflichen Sphäre schützen. Auch in systematischer Hinsicht verdeutlicht der speziellere Schutz vor Kündigung oder Entlassung in § 48 Abs. 2 S. 2 GG, dass Arbeitgeber (ehemalige) Mitarbeiter:innen nicht deshalb benachteiligen sollen, weil sie ein Abgeordnetenmandat übernommen haben (Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 48 Rn. 8 f.).

Danach sind aber nicht alle negativen Folgen der Mandatsausübung unzulässig und auszugleichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. September 1976 – 2 BvR 350/75, BVerfGE 42, 312, 327). Sozialadäquate, sich aus der Mandatsübernahme ergebende Nachteile sind erlaubt. Dazu gehören u.a. der notwendige Verzicht auf Hobbys, menschliche Beziehungen oder Engagement in anderen Organisationen. Nur die absichtliche, also zielgerichtete und auf die Mandatsausübung angelegte Beeinträchtigung durch Staat oder Private verletzt das verfassungsrechtliche Hinderungsverbot (sogenannte Absichtsformel, Rn. 329). Durch den Wandel der Mandatstätigkeit zu einer Vollbeschäftigung („Berufspolitiker:in“) hat der traditionelle Gehalt dieser Vorschrift, eine beruflich bedingte Beeinflussung des Kreises potenzieller Abgeordneten auszuschließen, indes an praktischer Bedeutung verloren. Wer als Abgeordnete eine Vollalimentation durch den Staat genießt, ist unabhängig(er) vom Umgang seines Arbeitgebers mit der Mandatstätigkeit (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 1975 – 2 BvR 193/74, BVerfGE 40, 296, 312 ff.).

Zu der Frage, inwieweit die Vorschrift über den Bereich des Arbeits- und Dienstrechts hinaus Wirkung entfaltet, fehlt es bislang an Rechtsprechung und Literatur (Deutscher Bundestag, WD 3 – 269/07, S. 8). Wegen der primären Stoßrichtung der Vorschrift, die finanzielle Absicherung der Abgeordneten zu gewährleisten, liegt es aber eher fern, aus Art. 48 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG ein allgemeines Hinderungsverbot oder sogar ein Recht auf parlamentarische Beobachtung abzuleiten.

Informationsrecht der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG

Nichtsdestotrotz gehört es unstreitig zur grundgesetzlich geschützten Tätigkeit einer:s Abgeordneten, sich zu informieren, um sich eine Entscheidungsgrundlage für seine/ihre Arbeit zu schaffen – sei es durch eigene Beobachtung, wissenschaftliche Dienste, sonstige Informationsgewinnung oder das gesetzlich verankerte Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG oder Art. 51 Abs. 1 SächsVerf (dazu bereits hier). Dieses Recht beschränkt sich nicht darauf, die Bundesregierung zu befragen, sondern schließt auch die Beschaffung von Informationen etwa durch Gespräche mit Bürger:innen, Verbänden, Organisationen oder Unternehmen ein (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 17.09.2013 – 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08, Rn. 96).

Für die parlamentarische Beobachtung folgt daraus, dass Beschränkungen der Tätigkeit von Abgeordneten auf Versammlungen neben dem Maßstab des Versammlungsrechts (vgl. HessLT-Drs. 20/7837, S. 1 f.) auch an dem des Informationsrechts von Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zu messen sind. Dieses Recht erstreckt sich auch auf dessen Mitarbeiter:innen, soweit sie in ihrer dienstlichen Tätigkeit an der Versammlung teilnehmen. Denn auch die Beschränkung ihrer Tätigkeit wirkt sich mittelbar auf die Rechte des/r Abgeordneten aus (vgl. BVerfG, Urteil vom 30. 7. 2003 – 2 BvR 508/01 u.a., BVerfGE 108, 251, Rn. 63).

Der regelmäßig und auch von Nguyen ins Feld geführte Hinweis auf Abgeordnetenausweisen, wonach Behörden die Inhaber:innen bei der Mandatsausübung zu unterstützen haben, konstituiert hingegen keine eigene Rechtsgrundlage mit materiellrechtlicher Wirkung, sondern weist stattdessen allein deskriptiv auf die bestehende Rechtslage hin (vgl. HessLT-Drs. 20/7837, S. 1; Deutscher Bundestag, WD 3 – 269/07, S. 5 f.).

Hinter dem Informationsrecht der Abgeordneten steht der demokratietheoretische Zweck, dass nur ein Parlament, das in Person seiner Abgeordneten auch durch eigene Beobachtung Kenntnis von behördlichem und polizeilichem Handeln hat, die exekutive Staatsgewalt so kontrollieren kann, dass eine bis auf das Wahlvolk zurückzuführende demokratische Legitimationskette i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG besteht. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Zusammenhang von Kontrolle und Kenntnis erst kürzlich prägnant in seinem Urteil zum parlamentarischen Fragerecht zum Bundesamt für Verfassungsschutz beschrieben (BVerfG, Urteil vom 14. Dezember 2022 – 2 BvE 8/21, Rn. 76):

„Nur das vom Volk gewählte Parlament kann den Organ- und Funktionsträgern der Verwaltung auf allen ihren Ebenen demokratische Legitimation vermitteln. Dies setzt die Kenntnis des Parlaments über das Handeln der Regierung voraus.“

Aktive Informationsgewinnung oder nur passive Beobachtung?

Dass sich die zulässige Abgeordnetentätigkeit bei parlamentarischer Beobachtung – wie von der Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen vertreten (ab Minute 0:40) – auf eine passive Beobachtung beschränkt, ist aus diesem Grund ebenfalls eher fernliegend. Zum Zweck parlamentarischer Kontrolle ist es vielmehr geboten, den Hintergrund von polizeitaktischen Erwägungen direkt vor Ort zu hinterfragen, um das Geschehen später gesamtheitlich einordnen zu können. Denn bestimmte Sachverhalte werden sich in zeitlichen und örtlichen Abstand zum Versammlungsgeschehen im Parlament nicht mehr ohne Weiteres aufklären lassen.

Die Grenze parlamentarischer Beobachtung ist stattdessen durch Abwägung mit konkret zu schützenden Individual- oder Gemeinschaftsrechtsgütern zu ermitteln, die ihren Grund im Verfassungsrecht haben (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Dezember 2022 – 2 BvE 8/21, Rn. 58 ff.). Im Einzelfall kann es dabei durchaus geboten sein, das Informationsbegehren einer/s Abgeordneten zeitweise zu versagen, um polizeiliche Kapazitäten zu haben, eine Straftat abzuwenden oder den Erfolg einer Ermittlungsmaßnahme nicht zu gefährden (so auch die Gewerkschaft der Polizei Niedersachen).

Schließlich erlaubt das Recht auf parlamentarische Beobachtung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch nicht, sich über geltendes (Straf-)Recht hinwegzusetzen. So forderte die Partei DIE LINKE zwar im Anschluss an die strafrechtliche Verurteilung eines Bundestagsabgeordneten wegen Hausfriedensbruchs nach einer Protestaktion auf einem privaten Kraftwerksgelände im Jahr 2021, Rechte bei und Grenzen parlamentarischer Beobachtung gesetzlich zu konkretisieren. Als Rechtfertigung für die Begehung von Straftaten wäre die Rolle als parlamentarischer Beobachter im konkreten Fall indes nicht geeignet gewesen.

Parlamentarische Beobachtung schützt schließlich auch nicht davor, selbst Störer und damit Adressat gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen zu werden. Da Art. 46 Abs. 3 GG die Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit von Abgeordneten i.S.d. Art. 104 Abs. 2 GG als faktische Bedingung der Mandatsausübung unter Parlamentsvorbehalt stellt, darf die Polizei Abgeordnete auf Versammlungen jedoch als Störer erst in Gewahrsam nehmen oder auch nur einkesseln, wenn das Parlament die Maßnahme genehmigt, was verfahrenspraktisch aus zeitlichen Gründen regelmäßig unmöglich sein wird.

Ein allgemeiner Grundsatz, dass die parlamentarische Beobachtung polizeiliche Abläufe nicht stören darf oder das Informationsrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG prinzipiell hinter den Interessen der Einsatzkräfte zurückzustehen hat, folgt hingegen weder aus dem Prinzip der Gewaltenteilung noch anderen grundgesetzlichen Wertungen. Vielmehr setzt eine effektive Kontrolle der Staatsgewalt i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG die Auseinandersetzung mit den für den Staat handelnden Personen vor Ort im unmittelbaren Kontakt mit den Polizist:innen und nicht erst im Nachhinein im Rahmen von parlamentarischen Anhörungen voraus.

Dieses Recht erschwert das polizeiliche Handeln auch nicht unverhältnismäßig. Die Polizei ist im Gegenteil aufgefordert, durch klare Ansprechpersonen und frühzeitige Informationen an die Abgeordneten eine parlamentarische Kontrolle der Versammlung zu ermöglichen, wie es für Pressevertreter:innen bereits etablierte Praxis ist. Neben einem besseren Verständnis für die Interessen der Parlamentarier:innen könnte die Polizei auf diese Weise auch Expert:innen im Umgang mit deren parlamentarischen Informationsrecht auf Versammlungen aufbauen.

Auch wenn es für diese Zusammenarbeit sinnvoll sein kann, sich als Abgeordnete:r erkennbar zu zeigen – wie bereits durch entsprechende Westen für Abgeordnete und deren Mitarbeiter:innen praktiziert –, steht das Recht auf Informationsbeschaffung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auch nicht unter einem behördlichen Anmelde- oder Genehmigungsvorbehalt. Unter Umständen kann es sogar sinnvoll und jedenfalls erlaubt sein, seine Beobachtungsfunktion ohne vorherige Ankündigung wahrzunehmen.

Funktion und Notwendigkeit parlamentarischer Beobachtung

Der Versammlungsfreiheit kommt für das repräsentative System der Bundesrepublik eine stabilisierende Funktion zu (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233, 341/81, Rn. 67). Da Versammlungen oft unübersichtlich sind und ihr tatsächlicher Ablauf für Parlamente im Nachhinein oft schwierig zu rekonstruieren sein wird, empfiehlt es sich, das Phänomen der parlamentarischen Beobachtung auch gesetzlich zu verankern.

Statt den Umgang mit den parlamentarischen Beobachter:innen allein der vor Ort unter verständlichem Handlungsdruck stehenden Polizei zu überlassen, könnte die Legislative als unmittelbar demokratisch legitimierte Staatsgewalt das „Spannungsverhältnis zwischen Rechten und Pflichten bei der parlamentarischen Beobachtung“ (ab Minute 0:21) präventiv auflösen und gesetzliche Rahmenbedingungen für die Tätigkeit von Abgeordneten und Polizei schaffen. Die gesetzliche Verankerung der parlamentarischen Beobachtung würde ein seit langem bestehendes Phänomen anerkennen, bestehende Unklarheiten beseitigen und die demokratische Kontrollfunktion des Parlaments stärken. Denn gerade Fälle wie der von Nguyen zeigen, dass die von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 20 Abs. 2 GG geschützte Anwesenheit von Abgeordneten auf Versammlungen rechtswidriges Handeln wie Körperverletzungen im Amt zwar nicht zu verhindern vermögen, jedoch ein wichtiges Mittel sein können, um Aufmerksamkeit auf die notwendige demokratische Kontrolle staatlicher Gewalt zu lenken.


SUGGESTED CITATION  Schramm, Jonathan: Keine Kontrolle ohne Kenntnis: Zur Rechtsstellung parlamentarischer Beobachtung auf Versammlungen, VerfBlog, 2025/1/29, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-beobachtung-versammlungen/, DOI: 10.59704/8ed9883831d5f820.

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