10 September 2020

Pop Up oder Pop Down

Ein Kommentar zum Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zur Rechtswidrigkeit der Pop-Up-Radwege

Rund 25 Kilometer Pop-Up-Radwege hat der Berliner Senat seit der Corona-Krise auf besonders befahrenen Straßenabschnitten eingerichtet. Die Radwege sind teils noch provisorisch mit gelben Markierungen oder Baustellenbaken von der Fahrbahn abgetrennt, bescheren aber schon jetzt den vom Verkehr geplagten Berliner Fahrradfahrer*innen ein sichereres und rundum schöneres Fahrraderlebnis.

Doch so schnell, wie die Pop-Up-Radwege „aufgepoppt“ sind, könnten sie nun wieder verschwinden. Mit Beschluss vom 4. September 2020 (VG Berlin – VG 11 L 205/20) gab das Verwaltungsgericht in Berlin dem Berliner AfD-Abgeordneten Frank Scholtysek Recht, der sich im Juni mit einem Eilantrag gegen acht der bestehenden Pop-Up-Radwege (darunter auch einige unbefristete Radwege) wandte. Seine Antragsbefugnis konnte er übrigens schon daraus ableiten, dass er als in Berlin wohnhafter Autofahrer regelmäßig mit der Anordnung der Radfahrstreifen konfrontiert ist.

In dem Beschluss äußert das Verwaltungsgericht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der entsprechenden Verkehrszeichen, ordnet deshalb im Eilverfahren die aufschiebende Wirkung der ebenfalls eingelegten Anfechtungsklage an und verpflichtet den Berliner Senat, die Kennzeichnung der Pop-Up-Radwege auf den in Rede stehenden Straßenabschnitten zu entfernen. Nicht betroffen sind allein die neun weiteren Radwege, die erst nach Beginn des Verfahrens angeordnet wurden.

Der Beschluss, der das Ende für das Prestigeobjekt der Berliner Verkehrspolitik bedeuten könnte, wurde bereits als waschechtes Desaster für den Berliner Senat gewertet. Entsprechend groß ist die Schadenfreude auf der Gegenseite. Doch so einfach ist es nicht. Was der Berliner Senat aus dem Beschluss für die Zukunft lernen sollte, wo die rechtlichen Hürden beim Einrichten eines Fahrradwegs liegen und wie die bestehenden Pop-Up-Radwege vielleicht doch noch gerettet werden können, zeigt ein Blick in die Begründung.

Pop-Up-Radwege grundsätzlich zulässig

Der Berliner Senat kann auf Grundlage des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO als Straßenverkehrsbehörde Pop-Up-Radwege anordnen. Entgegen der Ansicht des Antragstellers bedarf es dafür keiner straßenrechtlichen Teileinziehung. Mit seinem Vorbringen, Radfahrstreifen dürften nur außerhalb von Fahrbahnen errichtet werden, konnte der Antragsteller – wenig überraschend – nicht verfangen. Auch der temporäre Charakter der Radfahrstreifen ist nicht zu beanstanden (S. 7 (alle Seitenzahlen ohne Fundstelle aus VG Berlin, Beschluss v. 4.9.2020 – VG 11 L 205/20)). Damit hat das Verwaltungsgericht dem Berliner Senat bescheinigt, das richtige Rechtsinstrument zur Einrichtung der Pop-Up-Radwege in die Hand genommen zu haben (für eine ausführliche Darstellung der rechtlichen Umsetzung von Pop-Up-Radwegen vgl. bereits hier).

Voraussetzung der verkehrsbezogenen Gefahr

Pop-Up-Radwege müssen nach der StVO zwei Voraussetzungen genügen, deren Vorliegen die Behörde jeweils nachweisen muss: Es bedarf einer konkreten Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs (§ 45 Abs. 1 Satz 1 StVO) und es müssen besondere Umstände vorliegen, die entsprechende Verkehrszeichen zwingend erforderlich machen (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO). Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts hat der Berliner Senat mit seinen Erwägungen weder das eine noch das andere dargelegt (S. 9). Offenbar waren die Begründungen der immerhin mindestens acht Bescheide sich inhaltlich so ähnlich oder gar identisch, dass die Kammer sogar davon abgesehen hat, in ihrer rechtlichen Prüfung zwischen den einzelnen Bescheiden zu trennen.

Das Gericht stellt zunächst klar, dass diese strengen Voraussetzungen auch für die Einrichtung von Radfahrstreifen gelten, obwohl die StVO sie gemäß § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 3 StVO von dem Erfordernis einer qualifizierten Gefahrenlage befreit hat. Der Berliner Senat sei „unzutreffend davon ausgegangen, dass die Darlegung einer Gefahrenlage wegen des Eingreifens der Privilegierung nicht erforderlich sei“ (S. 9). Es muss also auch für die Einrichtung von Radwegen immer eine konkrete verkehrsbezogene Gefahr vorliegen, die deren Anordnung zwingend erforderlich macht.

Corona rechtfertigt keine Radwege

Wenig überraschend stellt die Kammer fest, dass die Covid-19-Pandemie nicht als Begründung für die Pop-Up-Radwege herhalten kann. Der Berliner Senat hatte – zumindest auch – vorgebracht, mit den Radwegen die systemrelevante Mobilität während der Pandemie schützen zu wollen. Die erheblichen Herausforderungen, die Mindestabstände und Kontaktbeschränkungen an den ÖPNV stellen würden, rechtfertigten eine beschleunigte Umsetzung sicherer Radverkehrsanlagen. Der Kammer zufolge sind das schon keine „verkehrsbezogene[n] Erwägungen“ (S. 10). Eine verkehrliche Gefahr im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO liegt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dann vor, wenn irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle eintreten können. Dies beurteilt sich danach, ob die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder Strecke einer Straße die Befürchtung nahelegt, dass – möglicherweise durch Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände – die zu bekämpfende Gefahrenlage eintritt (BVerwG, Urt. v. 13.12.1979 – 7 C 46.78).

Bei den „Schadensfällen“ hatte sowohl der Verordnungsgeber als auch das Bundesverwaltungsgericht wahrscheinlich vor allem gewöhnliche Verkehrsunfälle vor Augen. Vor diesem Hintergrund war es zu erwarten, dass das Verwaltungsgericht die Covid-19-Pandemie nicht als verkehrliche Gefahr einstufen würde. Zwingend ist das aber nicht. Berücksichtigt man, dass z.B. pandemiebedingte Abstandsgebote durchaus geeignet sind, den Straßenverkehr unmittelbar zu beeinflussen, hätte das Verwaltungsgericht § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO auch zukunftsorientierter und weniger am konservativen Verkehrssicherheitsbegriff haftend auslegen können. Nachhaltig wäre dies freilich nicht, schließlich würde die verkehrliche Gefahr mit Änderung der Pandemieeindämmungsmaßnahmen womöglich wegfallen.

Radwegefeindliche StVO

Zwingend erforderlich im Sinne des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO ist ein Verkehrszeichen, wenn die allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der StVO nicht ausreichen, um die mit der Anordnung bezweckten Wirkungen zu erreichen (BVerwG, Beschl. v. 01.09.2017 – 3 B 50.16). Auch das habe der Berliner Senat nach Auffassung des Gerichts „nicht ansatzweise konkret dargelegt“ (S. 10). Er habe sich auf „allgemeine Behauptungen beschränkt, ohne bezogen auf diese Straßenabschnitte das konkrete Verkehrsaufkommen zu benennen und/oder entsprechende Unfallstatistiken heranzuziehen“ (S. 10). Genau das hätte er aber machen müssen, um die straßenverkehrsrechtlichen Anordnungen, die als gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen immer einer Abwägung im konkreten Einzelfall bedürfen, zu begründen. Radwege kommen insbesondere in Betracht, wo Verkehrssicherheit, Verkehrsbelastung und Verkehrsablauf ganz konkret auf eine Gefahr hindeuten (S. 8). Legt man diesen Maßstab zugrunde, sollte der Nachweis einer verkehrsbezogenen Gefahr auf den Berliner Straßen eigentlich leicht gelingen – so würden es jedenfalls wahrscheinlich die meisten Fahrradfahrer*innen sehen.

Trotzdem – aus juristischer Perspektive sollten die Verwaltungsgerichte die Anforderungen an die behördliche Darlegungslast nicht überspannen. Das Verwaltungsgericht Berlin erkennt selbst den desolaten Zustand vieler Radverkehrsanlagen in Berlin an, wenn es darauf hinweist, dass das Fehlen von richtlinienkonformen Radverkehrsanlagen „lediglich allgemein die Situation auf einer Vielzahl von Straßenzügen“ beschreibt und so pauschal deshalb nicht geeignet ist, eine konkrete Gefahr zu etablieren (S. 10). Natürlich können „entsprechende Umstände und Beobachtungen […] etwa durch Verkehrszählungen, Ordnungswidrigkeiten- und Unfallstatistiken aufgezeigt werden“ (S. 10). Ein zu strenger Begründungsmaßstab kann aber den Spielraum der Verwaltung über Gebühr einschränken und so die Verwaltung mit ihrem grundsätzlich begrüßenswerten Gestaltungswillen ausbremsen.

Man kann also vom Berliner Senat eine ordentliche Begründung seiner Maßnahmen einfordern und sich vom Verwaltungsgericht eine fortschrittlichere Auslegung der StVO erhoffen – für eine tatsächlich nachhaltige und durchgreifende Verbesserung der Rechtslage für Fahrradwege sind sie aber beide nicht verantwortlich. Die rechtlichen Vorgaben der StVO kann nur der Verordnungsgeber, namentlich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, ändern. Der Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts hat einmal mehr gezeigt, dass und warum eine Reform des § 45 StVO dringend notwendig ist.

Übrigens: Das Berliner Mobilitätsgesetz hat das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss mit keinem Wort auch nur erwähnt. Zu Recht – denn mit der Anordnung nach § 45 StVO dürfen nach herrschender Meinung keine außerhalb der straßenverkehrsrechtlichen Gefahrenabwehr liegenden Ziele verfolgt werden (siehe hier für Berlin). Politische Entscheidungen, die im Mobilitätsgesetz ihren Niederschlag gefunden haben, können insofern straßenverkehrsrechtliche Erwägungen nicht ersetzen. Auch kompetenzrechtlich wäre das Land Berlin dazu im Übrigen nicht befugt. Das Mobilitätsgesetz ist insofern als politische Zielvorgabe und als Argument in der politischen Auseinandersetzung nutzbar, rechtlich spielt es bei der Ermessensentscheidung im Rahmen des §45 StVO keine Rolle.

Wie geht es weiter mit den Pop-Up-Radwegen?

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist noch nicht rechtskräftig. Der Berliner Senat hat bereits am Montag angekündigt, Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg einzulegen, für deren Begründung ihm nun ein Monat zur Verfügung steht. Grundsätzlich hat eine Beschwerde gegen einen Beschluss im Eilverfahren keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 149 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es liegt im Ermessen des Beschwerdegerichts, ob es die Vollziehung des Beschlusses ausnahmsweise aussetzt. Bis dahin gilt der Tenor des Beschlusses: Die Verkehrszeichen und Fahrbahnmarkierungen sind zu entfernen.

Die Kammer hat jedoch mit dem Beschluss nur im Eilrechtsverfahren entschieden, also eine vorläufige Entscheidung gefällt. Das Hauptverfahren, in dessen Rahmen die Kammer über die Anfechtungsklage des AfD-Abgeordneten gegen die Pop-Up-Radwege entscheiden wird, ist noch anhängig. Hier hat der Berliner Senat jetzt die Chance, seine mangelhaften Begründungen nachzubessern. Er kann dabei alle Gründe „nachschieben“, die schon zur Zeit des Erlasses des Verwaltungsaktes vorgelegen haben und den Verwaltungsakt nicht in seinem Wesen oder Regelungsgehalt ändern.

Dabei kann sich der Berliner Senat am Beschluss des Verwaltungsgerichts quasi als Handlungsanleitung orientieren, schließlich hat das Gericht sehr genau verlauten lassen, was es von einer Begründung einer straßenverkehrsrechtlichen Anordnung erwartet. Das kann man zwar kritisieren – will der Berliner Senat die Pop-Up-Radwege retten, sollte er aber wissen, wer „am längeren Hebel sitzt“ und sich die Vorgaben des Verwaltungsgerichts zu Herzen nehmen.

Dann ist das letzte Wort in Sachen Pop-Up-Radwege in Berlin noch nicht gesprochen.


SUGGESTED CITATION  Heppner, Charlotte: Pop Up oder Pop Down: Ein Kommentar zum Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin zur Rechtswidrigkeit der Pop-Up-Radwege, VerfBlog, 2020/9/10, https://verfassungsblog.de/pop-up-oder-pop-down/, DOI: 10.17176/20200910-125121-0.

4 Comments

  1. Christoph Herrmann Fri 11 Sep 2020 at 08:19 - Reply

    Erstaunlicher Beitrag im Verfassungsblog, geht es doch hier eindeutig um billiges Verwaltungsrecht. Ich fürchte wie offenbar die Autorin auch entsprechend der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts: Pop-up-Radwege sind nur gerechtfertigt, wo “… auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.” (§ 45 Abs. 9 Satz 3 StVO). Bemerkenswert daran: Diese Regelung kam mit der so genannten “Radfahrnovelle” 1997 in die Straßenverkehrsordnung. Sie sollte verhindern, dass die Behörden Radfahrer weiterhin willkürlich auf Radwege zwingen. Gestützt auf diese Vorschrift haben Radfahrer wie der bekannte Rechtsanwalt Andreas Volkmann gerade auch in Berlin Dutzende von Radwegbenutzungspflichten weggeklagt. Das OVG B-BB hat inzwischen recht hohe Anforderungen an die Rechtfertigung von Verkehrsbeschränkungen bestätigt (http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/portal/t/8am/bs/10/page/sammlung.psml;jsessionid=8BD34CF7C3091671867C79C56B31FA9D.jp27?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=MWRE180000925&doc.part=L&doc.price=0.0#focuspoint).

    Gleichwohl haben der angekündigte Antrag auf einen Hängebeschluss zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung und die Beschwerde der Senatsverwaltung gute Aussicht auf Erfolg. Das OVG in Berlin hat bisher jeden Versuch, selbst ziemlich offensichtlich rechtswidrige Verkehrsbeschränkungen vorläufig gerichtlich auß