03 October 2023

“Powered by the Supply Chain”

Der Streik in Gräfenhausen und die Rechtskämpfe um das neue Lieferkettengesetz

Der zehnwöchige Streik von LKW-Fahrern auf der Raststätte in Gräfenhausen hat in den letzten Wochen für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Die Arbeiter kommen größtenteils aus Tadschikistan, Georgien und Usbekistan und arbeiten alle für die polnische Spedition Mazur. Nachdem am 29. September 2023 der bislang längste Streik von Trucker:innen in Europa beendet wurde, kommentierte Edwin Atema vom niederländischen Gewerkschaftsbund FNV (Federatie Nederlandse Vakbeweging) und Verhandlungsführer während des Streiks: »Lkw-Fahrer sind in der Lieferkette unsichtbar. Mit dem Streik haben sie sich sichtbar gemacht«. Am Vortag hatte er sich im Gespräch mit unserem Forschungsteam bereits optimistisch gezeigt: die politischen Auswirkungen des Protests seien riesig. Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ließ verlauten, Gräfenhausen zeige, »[g]emeinsam können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwas bewegen. Und das Lieferkettengesetz wirkt«.

Seit vielen Jahren wird eine internationale Debatte über Umwelt- und Menschenrechtsfolgen transnationaler Lieferketten geführt. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz1) (LkSG oder kurz: Lieferkettengesetz), das zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten ist, lenkt eine deutlich verstärkte Aufmerksamkeit auf diese Problematik. Dabei liegt der Fokus bisher überwiegend auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in Produktionsstätten im Globalen Süden. Europäische Gewerkschaften wiesen allerdings schon lange darauf hin, dass ausbeuterische Arbeitsbedingungen und Verstöße gegen europäisches Recht bzw. nationales Arbeitsrecht auch mitten in Europa stattfinden. Der Streik der LKW-Fahrer im März/April und August/September 2023 führt uns diese Realität nun deutlich vor Augen. Der Arbeitskampf ist auch deshalb so relevant, weil er sich nicht nur gegen die Spedition Mazur richtet, sondern auch Unternehmen adressiert, die unter das deutsche LkSG fallen. Der Streik in Gräfenhausen ist damit Teil umfassender Rechtskämpfe entlang transnationaler Lieferketten.

Das LkSG ist selbst auch ein Ergebnis jahrelanger Kämpfe um menschenrechtliche Sorgfaltspflichten. Mit dem Abschluss des Gesetzgebungsprozesses sind diese keinesfalls zu Ende. Denn jetzt beginnen vielmehr die Auseinandersetzungen um die Auslegung der Rechtsnormen. »Der Rechtstext ist ein Spielball von Kämpfen«, hatte Bourdieu treffend festgestellt.2) Die Anwendung auf den besonderen Fall sei »in Wahrheit eine Konfrontation antagonistischer Rechte«.3) Bei einem so neuen, umstrittenen Gesetz wie dem LkSG, findet diese Konfrontation nicht nur in Gerichtsverfahren statt, sondern bereits früher. Dies verdeutlicht die stattliche Anzahl von ca. 13 deutschsprachigen juristischen Kommentaren, in denen jede Seite versucht, ihre Position festzuzurren. Aber nicht nur die Kämpfe im Inneren des juridischen Felds von den dazu Berufenen, den juridischen Intellektuellen,4) tragen zur Herausbildung von Rechtsnormen bei. Sondern ebenfalls, wenn auch vermittelt, gesellschaftliche Kämpfe, wenn es ihnen gelingt, die Buchstaben des Gesetzes noch vor den gerichtlichen Verfahren oder mit Bezug auf diese mit Leben zu füllen. »Rechtskämpfe«, wie wir sie im Rahmen unseres Forschungsprojekts konzipieren, finden auf drei Ebenen statt: 1. der gesellschaftlichen und politischen Ebene, die zwar auch immer schon rechtlich konstituiert ist, aber in der Auseinandersetzung noch vor dem juridischen Feld liegt; 2. im rechtlichen Fachdiskurs und in rechtlichen Verfahren sowie 3. in der Rückübersetzung in den gesellschaftlichen Raum.5)

Der Streik von Gräfenhausen zeigt exemplarisch, dass die gesellschaftlichen Kämpfe ‒ in diesem Fall: Arbeitskämpfe – die Grundlage juridischer Kämpfe sind, die in Bezug auf das LkSG bereits in vollem Gange sind. Ab einer bestimmten Zuspitzung können sie das Terrain wechseln und ins juridische Feld überspringen. Das muss aber nicht immer der Fall sein.

LkSG becomes real: Politische Ökonomie der Transportlogistik

Seit Jahren weisen Gewerkschaften und deren Initiativen wie das DGB-Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« und die Kampagne der Europäischen Transportarbeiter:innenföderation (ETF) »Fair Transport« auf die Deregulierung des Gütertransports auf europäischen Straßen hin. In den letzten vierzig Jahren hat sich die Arbeit in Logistik und Lagerhaltung stark verändert. Technologische Innovationen und die globale Ausbreitung und Integration verschiedener Paketzusteller und Einzelhändler in die weltweiten Produktions- und Vertriebsketten haben nicht nur die Produktion und den Vertrieb, sondern auch die Arbeit in diesen Sektoren verändert. GPS, Satellitentechnologie sowie eCommerce haben das Management globaler Lieferketten und deren reibungslose Taktung enorm verbessert. Einige Aspekte wie prekäre Verträge, niedrige Löhne, Gesundheits- und Sicherheitsbedenken und eine gewerkschaftsfeindliche Politik sind jedoch gleich geblieben, auch wenn sich die Möglichkeiten für erfolgreiche Kämpfe durch die Internationalisierung der Vertriebsaktivitäten möglicherweise, wie das Beispiel des internationalen Streiks in Gräfenhausen zeigt, etwas verbessert haben.

Schon im März gab es einen Streik von etwa 200 LKW-Fahrern, ebenfalls aus Georgien, Usbekistan und Kasachstan, die sich auf Raststätten in der Schweiz, Italien, in Niedersachsen und zum ersten Mal auch in Gräfenhausen versammelten, um gegen das Unternehmen Mazur zu streiken. Auch der erste Streik in Gräfenhausen endete mit einem Erfolg: Über 300.0000 Euro ausstehende Gehälter wurden damals ausgezahlt. Erst im zweiten Streik in Gräfenhausen wurden aber nun auch die Bezüge zum LkSG deutlich.

Wie unser Forschungsteam vor Ort beobachten konnte, klebte an jeder LKW-Tür ein Din-A4 Plakat, auf dem jeweils prominent die Namen der Endkunden ihrer geladenen Waren standen. Außerdem waren auf den Zetteln die jeweiligen Summen der ausstehenden Löhne vermerkt. Zwar wurde in erster Linie Lukasz Mazur auf verschiedenen Illustrationen und Slogans als »Schuldner« angeprangert, doch die Streikenden hatten zusätzlich die Codes of Conduct und ethische Grundsätze von Unternehmen wie DHL und Dachser ausgedruckt und an der Rückwand eines LKWs befestigt, der als Streikzelt und Infopoint diente. Damit machten sie auf die Verantwortung der Endkunden in den Lieferketten aufmerksam und auf den Kontrast zwischen Anspruch und Realität ihrer ethischen Grundsätze. Stickers mit dem Slogan »Powered by the supply chain« zierten einige der blauen LKW-Planen.

Am 19. August hatten die Fahrer beschlossen, die Endkunden ihrer Frachtpapiere öffentlich zu machen. Denn Mazur selbst ist mit seinen drei Sub-Unternehmen LUKMAZ, AGMAZ und Imperia, von denen letzteres kürzlich verkauft wurde, nur eines von vielen Gliedern in den Lieferketten von DHL, Kühne und Nagel, Porsche, Audi, VW, DB Schenker und anderen Unternehmen. Diese sahen sich teilweise durch die Veröffentlichung ihrer Firmennamen in Verbindung mit dem Streik und dem LkSG zum ersten Mal gezwungen, transparent zu machen, in welcher Verbindung sie zu einem Unternehmen stehen, das mitten in Europa Hungerlöhne zahlt  – oder selbst diese verwehrt, wie die Streikenden gezeigt haben.

Welche menschenrechtlichen Aspekte des LkSG adressiert der Streik?

Der Streik erhielt eine derartige Dynamik, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil am 15. September 2023 auf eine Sonderprüfung bei Auftraggebern Mazurs bezüglich des Verstoßes gegen das LkSG hinwirkte. Kurz darauf besuchte Torsten Safarik, Präsident des zuständigen Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), die Raststätte, um sich ein Bild zu machen. Frachtscheine und andere Dokumente wurden geprüft. Neben der Bestätigung durch Safarik, dass hier tatsächlich Menschenrechte verletzt worden seien, kündigte das BAFA einen Krisengipfel mit Arbeitgeber:innen und Gewerkschaften der Branche am 16. Oktober diesen Jahres an.

Im Hinblick auf das LkSG geht es um die Prüfung verschiedener Verstöße der in Paragraf 2 des LkSG »geschützten Rechtspositionen«. Ein »menschenrechtliches Risiko«, wie es § 2 Abs. 2 LkSG beschreibt, kann hier in Bezug auf fehlende Maßnahmen gegen körperliche und geistige Ermüdung (§ 2 Abs. 2 Nr. 5c LkSG), etwa durch lange Arbeitszeiten und mangelnde Ruhepausen in Betracht kommen. Zu berücksichtigen ist auch das Vorenthalten eines angemessenen Lohnes (§ 2 Abs. 2 Nr. 8 LkSG), das nach Art. 7 lit. a des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Menschenrecht konkretisiert ist, worauf das LkSG Bezug nimmt. Der Lohn muss dabei mindestens so hoch liegen wie der anwendbare Mindestlohn und richtet sich nach dem Beschäftigungsort. Die niedrigen Löhne sind allerdings nur ein Aspekt der Ausbeutung. Zusätzlich berichteten Fahrer immer wieder, dass sie zum Teil seit einem Jahr nicht mehr zu Hause gewesen seien, dass das Geld für eine Heimreise jedoch nicht ausreiche und sie unter Druck stünden, weiterzuarbeiten und oft bis zu 15 Stunden am Tag unterwegs seien.

Konfliktstrategien entlang der Lieferketten

Am 29. September gelang es Arbeiter:innenvertretern wie Edwin Atma und anderen nun schon zum zweiten Mal an der Raststätte in Gräfenhausen, einen LKW-Streik erfolgreich zu Ende zu führen. Während der polnische Spediteur Mazur bisher eine Einigung abstreitet, konnten die Streikenden dennoch die Zahlung in Höhe von fünfhunderttausend Euro durch auftraggebende Unternehmen entlang der Lieferkette erwirken. Auf der Grundlage unserer bisherigen Erkenntnisse wollen wir drei Thesen für diesen zumindest teilweisen Erfolg formulieren. Erstens herrscht momentan ein großer Arbeitskräftemangel, der durch die Überausbeutung von LKW-Fahrer:innen während der Pandemie und durch den Ukrainekrieg – viele Fahrer:innen stammen aus dem osteuropäischen und west-asiatischen Raum – verstärkt wurde. Laut Erhebungen der International Road Transport Union (IRU) fehlten im Jahr 2022 allein 425.000 Fahrer:innen in Europa. Dadurch und durch weitere damit verschränkte Entwicklungen, lässt sich eine latente Transportkrise konstatieren, die die Arbeitenden zu ihrem Vorteil nutzen konnten und die ihre Handlungsmacht verstärkte. Zweitens gelang es den Arbeitenden internationale Solidaritätsnetzwerke aufzubauen und zu nutzen, bzw. ein Rescaling6) ihres lokalen Kampfes mit einem polnischen Spediteur auf eine internationale Ebene. Beide Male organisierten LKW-Fahrer:innen in Süd-Korea Solidaritätsstreiks und Proteste mit den Streikenden in Gräfenhausen. Die schwedische Gewerkschaft Solidariska Byggare setzte zuletzt einen Streikfond auf. Auch vor Ort wurden die Streikenden durch Lebensmittelspenden, Shuttlefahrten nach Darmstadt zum Duschen und einem Streikfond der FAU unterstützt. Drittens stützten sich die Streikenden und ihre Vertreter:innen auf die Skandalisierung der Rechtsverstöße, wodurch sie sowohl medial als auch bei den deutschen Behörden Druck aufbauen konnten, diesen Fall zu untersuchen.

Fazit

Durch die kollektive Mobilisierung ist es den Streikenden gelungen, die in der Lieferkette verborgenen Formen der Ausbeutung sichtbar und damit rechtlich angreifbar zu machen. Denn die Stabilität der globalen Produktions- und Lebensweise, die weltweit Natur und Arbeitskraft ausbeutet, beruht gerade darauf, dass die Ausbeutung unsichtbar bleibt.7)

Dieser Kampf einer globalisierten Arbeiter:innenklasse findet in dem LkSG einen rechtlichen Anknüpfungspunkt im Sinne einer institutionellen Machtressource. Der qualitative Sprung dieses zurecht als “Baustein eines transnationalen Arbeitsrechts”8) beschriebenen Gesetzes besteht darin, dass es eine rechtliche Bindung der Unternehmen an die ILO-Übereinkommen herbeiführt, sodass alleine die Drohung damit Wirkung zeigen kann. Das LkSG entspricht allerdings zugleich dem Interesse vor allem transnational agierender Unternehmen. Denn der Kern des Gesetzes, die »Sorgfaltspflicht«, verpflichtet die Unternehmen nicht unmittelbar dazu, Rechtsverletzungen in der Lieferkette zu verhindern, sondern zunächst lediglich zur Etablierung bestimmter Managementprozesse im Rahmen der zu erwartenden Sorgfalt. Dies versetzt sie prinzipi