Prämie auf die Macht
Warum die Berliner CDU die Finger vom Instrument der Volksbefragung lassen sollte
Die CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus möchte, dass die Berliner Regierung eine Volksbefragung zur (Teil-)Bebauung des Tempelhofer Feldes initiiert. Sie soll dazu dienen, entgegen dem Volksentscheid von 2014, in dem sich die BerlinerInnen mehrheitlich für ein Bauverbot ausgesprochen hatten, nunmehr doch eine Bebauung durchzuführen. Dadurch soll die im Koalitionsvertrag (S. 53) von CDU und SPD für dieses Bauverbot geforderte „Neubewertung durch die Berlinerinnen und Berliner“ konkretisiert werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass die CDU eine von der Regierung bzw. dem Parlament beschlossene, nicht bindende Volksbefragung anstrebt. Bereits 2015 hatte der damalige, von SPD und CDU getragene Senat ein Volksbefragungsgesetz ins Abgeordnetenhaus eingebracht, um die Bürger zu befragen, ob sich Berlin für die Olympischen Spiele bewerben solle. Die Initiative wurde nicht weiterverfolgt, nachdem sich der Deutsche Olympische Sportbund für Hamburg als Bewerbungsstadt entschieden hatte.
Für Regierungen ist die Versuchung, nach solchen Volksbefragungen zu greifen, offenbar sehr groß. Sie versuchen es immer wieder. Dennoch: Solche Volksbefragungen sind aus verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen. Dass rechtliche Gründe der Volksbefragung entgegenstehen könnten, sieht selbst der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Stettner.
Plebiszite sind keine direkte Demokratie
Die beabsichtigte Volksbefragung ist kein Instrument der direkten Demokratie, wie die von Art. 62 der Berliner Verfassung vorgesehenen Volksbegehren und Volksentscheide. Denn direkte Demokratie ermöglicht Selbstregierung der BürgerInnen „von unten“: Sie bestimmen den Abstimmungsinhalt und entscheiden selbst.
Von der Regierung und/oder dem Parlament „von oben“ ausgelöste Volksbefragungen (oder Volksentscheide) sind hingegen Plebiszite. Sie sind eine Prämie auf die Macht. Sie sind keine Form der direkten Demokratie, denn nicht die BürgerInnen entscheiden, wann und über was sie abstimmen. Damit bekommt die Regierung bzw. die Parlamentsmehrheit entscheidende Trümpfe in die Hand: Sie entscheidet einseitig über Inhalt, Formulierung und Zeitpunkt der Abstimmung. In ihren Händen liegen die Rahmendaten der „Choreografie“. Die parlamentarische Opposition ist geschwächt. Denn es findet ein Arenenwechsel der politischen Auseinandersetzung statt: „Heraus aus den Parlamenten, hinaus auf die Marktplätze.“ Die parlamentarischen Rechte der Opposition schrumpfen zu „second order-Rechten“, sobald die Entscheidung nicht mehr im Parlament, sondern an der Urne fällt. Dort haben die Regierung bzw. die Regierungsmehrheit jedoch das Antragsmonopol.
Missbrauchsgefahr durch populistische und extremistische Parteien
Die Gefahren des Plebiszits sind besonders groß, wenn es rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften zur Verfügung steht. Denn es ermöglicht, geeignete Zeitpunkte abzupassen, um u.a. der Opposition, gesellschaftlichen Gegenkräften und Gerichten den „wahren Volkswillen“ vorzuführen und unter diesem Druckaufbau vor sich herzutreiben. Es ist deshalb kein Wunder, dass Diktatoren und Autoritäre das Plebiszit mit Vorliebe nutzen, um „ihr Volk“ zu befragen, so z.B. Napoleon I., Napoleon III., Hitler, Orbán und Putin.
„Der Meister des Einsatzes dieses Werkzeugs ist Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident.“ Darauf wiesen Hermann Heußner, Arne Pautsch und Max Steinbeis kürzlich hin: „Die Ungarinnen und Ungarn werden alle paar Monate mit einer neuen »nationalen Konsultation« behelligt, mit hochgradig suggestiven Fragen der Regierung. Ein Beispiel: »Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, dass es statt Einwanderung notwendig ist, ungarische Familien und ungeborene Kinder zu unterstützen?« Mit diesem Instrument kann die Regierung jeden rechtsstaatlichen oder demokratischen Widerstand, auf den sie mit ihrer Politik stößt, delegitimieren. Wer anderer Meinung ist – ob die EU oder das Verfassungsgericht oder der politische Gegner – stellt sich dem »Willen des Volkes« entgegen – einem Volkswillen, den die Regierung selbst herstellen und nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Autoritärer Populismus in Reinkultur.“
Auch auf Bundesländerebene ist das Populismuspotenzial enorm. Denn die Länder haben wichtige Kompetenzen, u.a. im Hinblick auf Medien, Polizei, Hochschule, Kultur. So wäre etwa der Korruptionsskandal beim RBB der ideale Zeitpunkt gewesen, eine Volksbefragung zum Ausstieg aus bestimmten Länderstaatsverträgen im Rundfunkwesen, z.B. dem Medienstaatsvertrag, anzusetzen. Die Frage hätte lauten können:
„Soll das Land Thüringen den Medienstaatsvertrag der Länder kündigen?“
Wegen dieser Missbrauchsgefahren sehen die direktdemokratischen Schwergewichte Schweiz und Kalifornien in der Bundesverfassung bzw. der Gliedstaatenverfassung das Plebiszit auch nicht vor.1) Direktdemokratische Instrumente, also Volksbegehren und Volksentscheid, bergen diese Gefahren nicht. Denn sie sind zeitlich langestreckte Verfahren, die Emotionalisierungen aufgrund bestimmter Ereignisse wieder abkühlen können. Eine präventive gerichtliche Kontrolle verhindert von vornherein, dass rechtswidrige Inhalte zur Abstimmung kommen. Und im Verfahren sind Verhandlungsmöglichkeiten eingebaut, die zu Kompromissen zwischen Initiatoren und dem Parlament führen und zum Entfallen des Volksentscheids führen können. Schließlich ist es auch möglich, dass im Volksentscheid potenziell zwischen mehreren Vorlagen gewählt werden kann. Denn das Parlament darf zum Gegenstand des Volksbegehrens einen Konkurrenzentwurf mit zur Abstimmung stellen.
Vorrang der Verfassung
Eine solche Regierungs- bzw. Parlamentsvolksbefragung hatte erstmals die CSU-Regierungsmehrheit in Bayern 2015 in die Tat umgesetzt (dazu ausführlich Heußner/Pautsch, NVwZ-Extra 10/2014, S. 1-8). Die dafür mit einfacher Mehrheit beschlossene Änderung des Landeswahlgesetzes (BayGVBl. 2015, 18) hat der BayVerfGH 2016 jedoch für verfassungswidrig erklärt (BayVerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, NVwZ 2017, S. 319 ff.). Nach richtiger Ansicht erfordert eine Volksbefragung eine Verfassungsänderung.2) So hat der BayVerfGH 2016 im Anschluss an Entscheidungen des BVerfG von 1958 zu konsultativen Volksbefragungen auf Länderebene entschieden, dass ein nach gesetzlichen Vorgaben organisierter Urnengang, bei dem alle wahlberechtigten BürgerInnen zur Abstimmung aufgerufen sind, einen Akt der Staatswillensbildung darstellt. Der konsultative Charakter der Abstimmung, der eine rechtliche Bindung des Parlaments und der Regierung ausschließt, ändert daran nichts (Leitsatz 1 und Rn. 94 ff.). Es ist weiter davon auszugehen, dass die Formen der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung in der Verfassung abschließend aufgeführt sind (Leitsatz 2 und Rn. 99 ff.). Auch eine lediglich konsultative Volksabstimmung ist aufgrund ihrer faktischen Wirkung geeignet, das von der Verfassung vorgegebene Kräfteverhältnis der Organe und ihre Gestaltungsspielräume zu beeinflussen. Deshalb muss auch eine konsultative Volksbefragung in der Verfassung selbst verankert werden (Leitsatz 3 und Rn. 100 ff.).
In Berlin kann nichts anderes gelten. Denn auch dort ist davon auszugehen, dass konsultative Volksabstimmungen, die von der Regierung bzw. dem Parlament selbst eingeleitet wurden, in der Regel faktische Bindungswirkung haben. Folgerichtig hat 2015 im Zusammenhang mit dem geplanten Olympia-Plebiszit auch der damalige Berliner CDU-Innensenator Henkel dessen faktische Verbindlichkeit betont (Vgl. Heußner/Pautsch, NJW 2015, S. 1226). Diese Bindungswirkung würde auch in Berlin das von der Verfassung fein austarierte Verhältnis der verschiedenen Staatsorgane maßgeblich verändern.
In der Literatur gibt es freilich auch die gegenteilige Ansicht, wonach die faktische Bindungswirkung irrelevant sei. Es komme allein darauf an, dass die Abstimmung rechtlich keine Wirkung habe. Die konsultative Volksbefragung überlasse es den staatlichen Organen, sich auch anders entscheiden zu können.3) Rechtlich unverbindliche Volksbefragungen können danach mit einfacher Mehrheit beschlossen werden.4)
Diese Literaturmeinung könnte die CDU/SPD-Koalition in Berlin dazu verführen, das Plebiszit zu etablieren, in der Hoffnung, dass es ja nicht völlig ausgeschlossen ist, dass sich der Berliner VerfGH dieser Auffassung anschließen könnte. Diesen Weg würde erst recht die AfD gehen, falls sie in Zukunft in die Nähe einer Regierungsbeteiligung kommen sollte., wie es sich in Thüringen und anderen Bundesländern bereits andeutet. Um den rechtspopulistischen und rechtsextremen Griff nach dem Plebiszit zu verhindern, ist es deshalb ist dringend angeraten, im Wortlaut der Landesverfassungen zur Sicherheit schnellstmöglich klarzustellen, dass auch die Einführung rechtlich unverbindliche Volksabstimmungen einer Verfassungsänderung bedürfen.
Alternativen
Abgeordnete und die von ihnen getragenen Regierungen werden gewählt, um zu regieren, d.h. zu entscheiden. Sie sollen nicht vor dieser Verantwortung fliehen. Auch angesichts geltender Volksgesetze müssen sie dies nicht, wenn sie von Volksgesetzen abweichen wollen. Denn die in Art. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Berliner Verfassung angelegte Gleichrangigkeit von Volks- und Parlamentsgesetzgebung erlaubt es dem Parlament nach der lex posterior-Regel, Volksgesetze abzuändern. Wenn die CDU vom Tempelhofer Feld-Gesetz (BlnGVBl. 2014, 190) abweichen will, kann die CDU/SPD-Koalition dies durch ein parlamentarisches Abänderungsgesetz bewerkstelligen.
Freilich birgt ein solches Verfahren das Risiko, dass die Gegner einer Änderung erneut ein Volksbegehren lancieren, um die Änderung zu verhindern bzw. rückgängig zu machen. Will die Koalition das Risiko, ggf. gegen den Mehrheitswillen der Bürger das Tempelhofgesetz abzuändern, nicht eingehen, ist das gegebene Instrument, dass CDU, SPD und weitere Bündnispartner selbst ein Volksbegehren mit dem Ziel der Abänderung des Tempelhofgesetzes lancieren. Allerdings müssen sie sich dann den beträchtlichen Mühen unterziehen, die ein Volksgesetzgebungsverfahren den Initiatoren abverlangt.
Die Einführung eines Plebiszits in die Verfassung ist hingegen abzulehnen, da es die oben aufgeführten Nachteile und Missbrauchspotentiale birgt. Verfassungspolitisch ist allenfalls ein Parlamentsplebiszit hinnehmbar, das diese Nachteile bannt, wie etwa nach dem „Hamburger Modell“. So ist gem. Art. 50 Abs. 4b der Hamburgischen Verfassung ein Parlamentsplebiszit – in Hamburg heißt es „Bürgerschaftsreferendum“ – zulässig, wenn dies auf Antrag bzw. durch Beschluss von 2/3 der Mitglieder der Bürgerschaft geschieht. Der Senat muss das Plebiszit ebenfalls unterstützen. Die notwendige 2/3-Mehrheit in der Bürgerschaft stellt in der Regel sicher, dass die Volksabstimmung kein einseitiges Instrument in den Händen der Regierungsmehrheit darstellt. Demselben Zweck dient, dass der Abstimmungstermin nur mit 2/3-Mehrheit festgesetzt werden kann. Die Abstimmung ist außerdem bindend. Ein zum Zeitpunkt des Bürgerschaftsbeschlusses qualifiziertes Volksbegehren bzw. eine noch zu qualifizierende Volksinitiative zum selben Gegenstand werden mit der Vorlage der Bürgerschaft zusammen abgestimmt.
Um sicherzustellen, dass auf jeden Fall eine Vorlage „von unten“ aus der Bürgerschaft erarbeitet wird, empfiehlt es sich, der Abstimmung einen losbasierten Bürgerrat vorzuschalten. Dessen ggf. erarbeitete Vorlage kann dann ebenfalls mit zur Abstimmung gebracht werden.5)
Fazit
Die einfachgesetzliche Etablierung des Plebiszits ist verfassungswidrig. Plebiszite sind in den Händen von Populisten und Extremisten ein ideales Instrument der Demagogie. Der Wortlaut der Länderverfassungen sollte schleunigst klarstellen, dass die Einführung rechtlich unverbindlicher Volksbefragungen einer Verfassungsänderung bedarf.
References
↑1 | Heußner, Das rechtspopulistische Verhältnis der AfD zur direkten Demokratie – Kein Argument gegen Volksgesetzgebung, in: Heußner/Pautsch/Rehmet/Kiepe (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 4. Aufl. 2024, i.E., S. 335. |
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↑2 | Vgl. Nachweise bei Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie), Rn. 107. |
↑3 | Grzeszick, in: Dürig/Scholz/Herzog, Grundgesetzkommentar, Mai 2023, Art. 20 Rn. 116. |
↑4 | So u.a. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie), Rn. 107 m.w.N.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 20 Rn. 6; Grzeszick, in: Dürig/Scholz/Herzog, Grundgesetzkommentar, Mai 2023, Art. 20 Rn. 116. |
↑5 | Zu losbasierten Bürgerräten vgl. Huber/Nierth, Dialogkunst und Gestaltungsmacht – Warum Bürgerräte und direkte Demokratie zusammenpassen, in: Heußner/Pautsch/Rehmet/Kiepe (Hrsg.), Mehr direkte Demokratie wagen, 4. Aufl. 2024, i.E., S. 309 ff. |
Ich finde Ihre Einwände abstrakt sehr überzeugend. Im Konkreten finde ich den CDU-Vorschlag als politisches Manöver aber umso einleuchtender, fast zwingend.
Denn der Geist des „wahren Volkswillens“ ist ja längst aus der Flasche. Das Tempelhofer Feld ist politisch quasi unantastbar, weil „das Volk“ über seine (Nicht-) Verwendung entschieden hat. Wer politisch für die Bebauung des Tempelhofer Feldes streitet, sieht sich eben nicht nur inhaltlichen Argumenten gegen seinen Vorschlag, sondern auch (wenn nicht vor allem) dem Vorwurf ausgesetzt, er missachte den „Willen des Volkes“. Aus politischer Sicht erscheint mir eine Volksbefragung deshalb prima facie als brillantes Manöver,
um den Senat aus einer Zwickmühle zu befreien und die erforderliche Abänderbarkeit einer umstrittenen demokratischen Entscheidung wiederherzustellen. Ich stimme Ihnen zu, dass es verfassungsrechtlich und -theoretisch keinen Vorrang der Volks- vor der Parlamentsgesetzgebung gibt,. Trotzdem muss die CDU diese weitverbreitete Fehlvorstellung als politische Realität akzeptieren. Eine Änderung des Tempelhofer Feld-Gesetzes OHNE Volksbefragung würde an politischen Selbstmord grenzen.