17 November 2023

Wenn Björn Höcke sein Volk befragt

Am 1. September 2024, möglicherweise schon früher, wird in Thüringen ein neuer Landtag gewählt. In den Umfragen steht die von dem Rechtsextremisten Björn Höcke angeführte AfD seit Monaten stabil auf Platz 1. Rund ein Drittel der Thüringerinnen und Thüringer würden derzeit ihre Stimme der AfD geben.

Eine AfD, die über ein Drittel oder mehr der Sitze im Landtag verfügt, könnte alle Entscheidungen blockieren, die mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen. Dazu gehören insbesondere Verfassungsänderungen. Wenn die bevorstehenden Wahlen einlösen, was die Umfragen versprechen, dann hieße das, dass die Thüringer Landesverfassung ohne Zustimmung der AfD nicht mehr geändert werden kann.

Noch ist es zumindest rechnerisch möglich, die Landesverfassung für die kommenden stürmischen Zeiten einigermaßen wetterfest zu machen. Noch können sich die demokratischen Parteien im Thüringer Landtag entschließen, wenigstens einige der klaffendsten Lücken zu schließen – darunter die Regelung zur Ministerpräsidentenwahl, die weiterhin auf fatale Weise offen lässt, ob und wie sich ein Kandidat ohne Mehrheit im Landtag an die Spitze einer Minderheitsregierung wählen lassen kann.

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Die Verfassung sieht in diesem Fall vor, dass im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt ist, wer »die meisten Stimmen« bekommt. Wenn Amtsinhaber Bodo Ramelow (Die Linke) im dritten Wahlgang ohne Gegenkandidaten antritt, wird er vermutlich mehr Nein-Stimmen und Enthaltungen bekommen als Ja-Stimmen. Hat er dann »die meisten Stimmen« bekommen? Die Antwort auf diese Frage wird die frisch gewählte Landtagspräsidentin oder der Landtagspräsident zu geben haben, die oder der das Ergebnis der Wahl feststellt. Das Vorschlagsrecht für diese Schlüsselposition liegt nach der Geschäftsordnung des Landtags bei der stärksten Fraktion. Das ist nach aktuellem Stand die AfD.

Die Landesverfassung ist zweideutig. Bisher ist es den Koalitionsfraktionen und der CDU nicht gelungen, sich auf eine Formulierung zu verständigen, die die Verfassung in dieser für die Demokratie in Thüringen essenzielle Frage vereindeutigt. Wichtiger als die Frage, worauf man sich einigt, wäre, dass man sich einigt. Sonst dürfte es zu einem langwierigen, riskanten und kontroversen Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht kommen. Die Verfassungskrise, die in der Zwischenzeit eintritt, wird das Narrativ der AfD nähren, dass die Demokratie in Thüringen nicht funktioniert und die »Altparteien« nichts zustande bringen, nicht einmal eine Regierung.

Beide mögliche Lesarten der Landesverfassung haben ihr Für und Wider, aber beide sind besser als der aktuelle Schwebezustand. Darauf hat auch der Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, Klaus von der Weiden, kürzlich mit deutlichen Worten hingewiesen. In der aktuellen Situation kommt es nicht in erster Linie darauf an, für die jeweiligen Policy-Präferenzen verfassungsrechtliches Terrain zu gewinnen, sondern Schaden von der Demokratie abzuwenden. Darauf müssen sich alle Parteien, die für sich das Attribut »demokratisch« in Anspruch nehmen, verständigen können.

Ermittlung des »Volkswillens«

Eine verfassungsändernde Mehrheit ist auch für die Schließung einer anderen Lücke notwendig, über die bisher kaum gesprochen wurde: die Möglichkeit, sogenannte konsultative Volksbefragungen ein- und durchzuführen.

Die Thüringer Verfassung sieht vor, dass das Volk seinen Willen durch die Wahl des Landtags sowie durch Gesetzgebung im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid verwirklicht. Volksbegehren und Volksentscheid sind Verfahren der direkten Demokratie: Sie sind Mittel des Volkes, sich gegenüber der Regierung Gehör und Einfluss zu verschaffen.

Volksbefragungen dagegen haben mit direkter Demokratie nichts zu tun. Sie sind Mittel der Regierung, nicht des Volkes. Sie sind ein Werkzeug in der Hand der Regierung, an den demokratischen Institutionen und Verfahren vorbei den Anschein einer höheren Legitimation für ihre Absichten und Handlungen zu erwecken. Gerade weil sie rechtlich nicht bindend sind und damit zu nichts konkret verpflichten, kann die Regierung das Ergebnis so deuten, wie sie es gerade braucht. Sie sind extrem missbrauchs- und manipulationsanfällig. Und gerade deshalb sind sie der Traum jeder autoritär-populistischen Regierung.

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Der Meister des Einsatzes dieses Werkzeugs ist Viktor Orbán, der ungarische Ministerpräsident. Die Ungarinnen und Ungarn werden alle paar Monate mit einer neuen »nationalen Konsultation« behelligt, mit hochgradig suggestiven Fragen der Regierung. Ein Beispiel: »Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, dass es statt Einwanderung notwendig ist, ungarische Familien und ungeborene Kinder zu unterstützen?« Mit diesem Instrument kann die Regierung jeden rechtsstaatlichen oder demokratischen Widerstand, auf den sie mit ihrer Politik stößt, delegitimieren. Wer anderer Meinung ist – ob die EU oder das Verfassungsgericht oder der politische Gegner – stellt sich dem »Willen des Volkes« entgegen – einem Volkswillen, den die Regierung selbst herstellen und nach ihren Vorstellungen gestalten kann. Autoritärer Populismus in Reinkultur.

Die AfD hat längst erkannt, wie attraktiv ein solches Instrument für ihre Politik wäre, sollte sie eines Tages an die Macht gelangen. Im März 2023 hat die AfD-Bundestagsfraktion eine Grundgesetzänderung gefordert. In der Verfassung, so ihr Antrag, solle ein Artikel 62a aufgenommen werden, der die Bundesregierung ermächtigt, »dem Volk Sachfragen zur Ermittlung des Volkswillens vor(zu)legen«.

Auf Landesebene, in Thüringen, könnte sie sich auf den Standpunkt stellen, dass eine Verfassungsänderung nicht einmal nötig ist – Volksbefragungen also mit einfacher Mehrheit eingeführt werden könnten. Denn zum einen sieht die Landesverfassung ja, anders als das Grundgesetz, unmittelbare Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zwischen den Wahlen ausdrücklich vor. Volksbefragungen nennt die Verfassung zwar nicht explizit, schließt sie aber auch nicht aus. Und zum anderen: Wer wollte dem Ministerpräsidenten Björn Höcke das Recht versagen, sein Volk zu befragen? Es geht ja »nur« um einfache Befragungen, nicht um rechtlich verbindliche Volksentscheide.

Auf diese Flasche muss der Landtag einen Korken setzen, solange das noch möglich ist. Die zu erwartende Debatte, dass die »Altparteien« damit nur wieder das Volk knebeln wollen, sollten diese Parteien mitsamt der demokratischen Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft offensiv führen und gewinnen: Dass es nicht das Volk ist, das durch ein solches Instrument ermächtigt wird, sondern die Regierung, ist nicht schwer zu verstehen und zu erklären. Eine Klarstellung in der Verfassung, dass die dort vorgesehenen direktdemokratischen Elemente abschließend sind, ist nicht schwer zu formulieren und wäre mit keinem politischen Preis verbunden: Es würde ja nichts abgeschafft und irgendwem weggenommen, sondern nur verhindert, dass etwas eingeführt wird.

Darauf sollte eine Verständigung möglich sein, sofern und solange der politische Wille und damit die nötigen Mehrheiten im Landtag vorhanden sind. Die Demokratie in Thüringen wäre damit – ohne nennenswerte Kosten – ein erhebliches Stück widerstandsfähiger. Das ist in diesen Zeiten allemal ein lohnenswertes Ziel.

Dieser Text wurde zuerst auf SPIEGEL Online veröffentlicht.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von MAXIMILIAN STEINBEIS:

Das Bundesverfassungsgericht hat der Ampelkoalition 60 Milliarden Euro aus dem Haushalt gestrichen, die diese dort unter Umgehung der Schuldenbremse zur Finanzierung von Klimaschutzvorhaben hineingeschrieben hatte. TILL VALENTIN MEICKMANN sieht das “das Ende der Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Staatsschuldenrecht” gekommen. DAVID SCHWARZ begrüßt die Klarstellung, “dass sich tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte nicht mit Kassentricks kitten lassen — es führt kein Weg daran vorbei, sie auszutragen.”

Der Wind dreht sich gerade massiv nach rechts und füllt die Segel nicht zuletzt der AfD in nie gekanntem Maße. Aus unserem Thüringen-Projekt ist der Artikel von JULIA LESER entstanden, der Erkenntnisse der politischen Anthropologie zur “Mikropolitik des Rechtsrucks” in die Debatte einspeist. Rechtspopulistische Parteien werden nicht trotz, sondern wegen ihrer menschenfeindlichen, rassistischen Inhalte gewählt, und ethnografische Forschung zu den “Komfortzonen der Rechten” kann verstehen helfen, wie das kommt und wie das sein kann.

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Stellenausschreibung
Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter (m/w/d)
am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht
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Gesucht werden zum 1. Januar 2024 bzw. 1. April 2024, befristet auf zunächst 2 Jahre,
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Der Stellenumfang beträgt jeweils 20 Wochenstunden. Die Erste, ggf. auch Zweite Staatsprüfung sollte mind. mit „vollbefriedigend“ bestanden und gute Englischkenntnisse sollten vorhanden sein.

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Apropos Rechtsruck: In Italien deckt Regierungschefin Meloni, nachdem ihre geduldige außen- und europapolitische Kreidefresserei den erwarteten Erfolg gezeitigt und ihr zu einem behaglichen Platz inmitten des europäischen Staatenlenkergemeinschaft verholfen hat, ihre postfaschistischen Karten auf: Die Regierung strebt an, die Verfassung zu ändern und das Regierungssystem in eine entschieden plebiszitär-populistische Richtung zu schubsen, mit einer Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk und einer Verankerung eines Wahlsiegerbonus von 55% der Sitze im Parlament für die Regierungskoalition direkt in der Verfassung. CARLO FUSARO und  STEFANO CIVITARESE MATTEUCCI liefern detaillierte und kritische Analysen, was die geplanten Änderungen im Detail implizieren und welch problematische Folgen sie nach sich ziehen würden. ANDREA DE PETRIS erklärt, warum der Vergleich mit dem deutschen konstruktiven Misstrauensvotum völlig daneben liegt, anders als der mit dem amerikanischen Sturm auf das Kapitol.

Einen weiteren Plan hat die italienische Ministerpräsidentin angekündigt: Italien hat mit Albanien ein Abkommen zur Unterbringung von Geflüchteten abgeschlossen, die von italienischen Schiffen im Mittelmeer gerettet wurden. LORENZO PICCOLI hält den Plan für weder legal noch praktikabel.

Den britischen Plan, Geflüchtete nach Ruanda auszufliegen, hat der Oberste Gerichtshof einstimmig für rechtswidrig erklärt. ALICE DONALD und JOELLE GROGAN erklären, was es mit dem Urteil auf sich hat und wie die britische Regierung darauf reagieren könnte.

In Frankreich will Präsident Macron das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankern. Keine gute Idee, warnt BAPTISTE CHARVIN: Die Verfassung droht zu einem Inventar von Dingen zu werden, die auch per gewöhnlicher Gesetzgebung garantiert werden können, in der Absicht, sie derselben zu entziehen. “Ultimately, the Constitution is stripped of its privilege: in attempting to revitalize it, the constituent power may inadvertently extinguish it.”

Im Vereinigten Königreich ist der Online Safety Act in Kraft getreten. BEATRIZ KIRA und LAURA SCHERTEL MENDES untersuchen, wie es jetzt mit der Plattformregulierung in Großbritannien weitergeht.

In der Türkei weigert sich das Kassationsgericht, den Oppositionspolitiker Can Atalay freizulassen, obwohl das Verfassungsgericht dessen Inhaftierung für verfassungswidrig erklärt hatte – und beschuldigt das Gericht, das über die Einhaltung der Verfassung wacht, dieselbe zu verletzen und ultra vires zu handeln. Eine intrajustizielle Verfassungskrise also, und wohl ein weiteres Zeichen, dass die AKP-Regierung sich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bzw. dessen, was von ihr übrig ist, nunmehr endgültig entledigen will, sagen GÜLCIN BALAMIR COSKUN und ERTUG TOMBUS. DORUK ERHAN widerspricht der Diagnose einer Verfassungskrise, denn darin sei eine Verfassung vorausgesetzt, die überhaupt noch Bindungskraft entfalte. Und das sei schon länger nicht mehr der Fall in der Türkei.

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