Das Problem um § 216 StGB
Die Umdeutung einer aktiven Tötung in eine straflose Suizidhilfe
Eine Frau spritzt ihrem schwer erkrankten Ehemann eine tödlich wirkende Insulindosis und macht sich deswegen nicht strafbar. Der BGH ist der Auffassung, dass es sich um eine straflose Beihilfe zum Suizid handelt, weil der Verstorbene bis zuletzt das Geschehen beherrscht habe (BGH, Beschl. v. 28.06.2022, 6 StR 68/21). Im Fokus des Urteils steht damit die Strafvorschrift der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), deren Verfassungsmäßigkeit vom Senat vorsichtig angezweifelt wird. Die aktuelle parlamentarische Debatte beschäftigt sich währenddessen mit anderen Themen. Wenn der BGH eine aktive Tötungshandlung in eine straflose Suizidhilfe umdeutet, um eine gerechte Entscheidung herbeiführen zu können, sollte der Gesetzgeber das zum Anlass nehmen, § 216 StGB verfassungskonform auszugestalten.
Tödliche Insulinspritze auf Wunsch ihres Mannes
Die Angeklagte, seit 1970 mit ihrem Ehemann verheiratet, war bis zu ihrer Berentung als Krankenschwester tätig. Der Verstorbene litt bereits seit vielen Jahren unter starken chronischen Schmerzen, begleitet von weiteren Erkrankungen wie Diabetes und Arthrose, weshalb er eine Vielzahl von Tabletten einnahm – unter anderem Diazepam und Hydromorphon – und Insulininjektionen durch die Angeklagte verabreicht bekam. Er war daher arbeitsunfähig, befand sich in häuslicher Pflege der Angeklagten und äußerte seit dem Jahr 2019 vermehrt den Wunsch, nicht mehr leben zu wollen. Aufgrund der damals noch geltenden Rechtslage sah er sich daran gehindert, die Hilfe eines Sterbehilfevereins in Anspruch zu nehmen. Nachdem er nahezu wöchentlich seinen Wunsch, sterben zu wollen, wiederholte, war er sich schließlich am 7. August 2019 seiner Sache sicher und sagte zur Angeklagten „Heute machen wir´s“. Er schrieb einen Abschiedsbrief, in dem stand, dass er unter großen Schmerzen nicht mehr weiterleben wolle, er seiner Frau verboten habe, einen Arzt einzuschalten und dass er hoffe, dass die vorhandenen Tabletten ausreichen. Er forderte die Angeklagte auf, alle im Haus vorrätigen Tabletten zu holen, die er anschließend selbst einnahm. Sie verabreichte ihm auf seinen Wunsch hin die noch vorhandenen sechs Insulinspritzen, wissend, dass er dadurch versterben könne. Danach versicherte sich der Verstorbene, dass keine weiteren Tabletten oder Spritzen mehr da waren. Circa vier Stunden später stellte die Angeklagte seinen Tod fest. Einen Arzt informierte sie aufgrund der vorherigen Absprache nicht. Später konnte festgestellt werden, dass die Insulinspritzen seinen Tod verursacht haben.
Straflose Beihilfe trotz aktiver Tötungshandlung
Obwohl das LG Stendal zuvor eine Strafbarkeit der Angeklagten gemäß § 216 Abs. 1 StGB angenommen und sie zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt hat, entschied der BGH anders. Hinsichtlich einer Strafbarkeit wegen § 216 Abs. 1 StGB stellte der Senat zunächst richtig fest, dass es entscheidend darauf ankomme, wer den zum Tode führenden Akt eigenhändig ausführe. Die Begründung, die darauf folgt, ist allerdings zweifelhaft: Obwohl die Angeklagte das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreichte, solle der Verstorbene das Geschehen beherrscht haben und nicht seine Frau. Das resultiere daraus, dass sich die Tabletteneinnahme und die Injektionen als ein Gesamtplan darstellten, der allein durch den Verstorbenen bestimmt wurde und über den er bis zum späteren Eintritt der Bewusstlosigkeit selbst die Herrschaft hatte. Dabei übersieht der Senat, dass es letztlich entscheidend darauf ankommt, dass das Insulin todesursächlich war und die Frau den Tod ihres Mannes zumindest billigend in Kauf genommen hat, weil er es so wollte. Dann handelt es sich aber um einen klassischen Fall des § 216 Abs. 1 StGB und nicht um eine straflose Suizidhilfe.
Dass die Angeklagte nach dem Eintritt der Bewusstlosigkeit keine Rettungsmaßnahmen veranlasste, sah der BGH ebenfalls als strafloses Verhalten an, weil sich weder aus der bestehenden Ehe noch aus Ingerenz eine Garantenstellung ergab. Dies ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Gleichwohl weicht der 6. Strafsenat hier von einer Entscheidung des 3. Strafsenats ab („Peterle-Fall“, BGH, Urt. v. 04.07.1984, 3 StR 96/84), ohne eine Divergenzvorlage gemäß § 132 GVG beim Großen Strafsenat zu stellen (so auch Walter).
Tötung auf Verlangen verfassungswidrig?
Im Februar 2020 entschied das BVerfG (BVerfG, Urt. v. 26.02.2020, 2 BvR 2347/15 u.a.) über die Verfassungswidrigkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.). In dieser Grundsatzentscheidung hob es hervor, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse, wonach der Suizid eines jeden Menschen als Akt autonomer Selbstbestimmung zu respektieren sei. Davon umfasst sei also auch das Recht, sich das Leben zu nehmen und die Hilfe Dritter, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Maßgeblich sei danach, dass es sich um einen freiverantwortlichen Lebensbeendigungswunsch handelt, der nicht etwa durch psychische Erkrankungen wie Depressionen beeinflusst ist.
Der BGH nimmt darauf Bezug und hinterfragt – zumindest vorsichtig („Der Senat neigt zu der Auffassung […]“, Rn. 23) – die Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB. Neu sind diese Überlegungen nicht, denn auch in der Literatur gibt es Stimmen, die die aktuelle Fassung der Tötung auf Verlangen nicht im Einklang mit dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben sehen1) – und das aus guten Gründen.
Im vorliegenden Fall hätte sich der verstorbene Ehemann mit letzten Kräften und unter großen Schmerzen womöglich selbst noch die Insulinspritze verabreichen können. Allerdings gibt es Menschen, die beispielsweise aufgrund einer ALS-Erkrankung fast vollständig gelähmt sind und ihren Suizidwunsch nicht mehr eigenhändig in die Tat umsetzen können. Ihr Recht auf selbstbestimmtes Sterben können sie in dieser konkreten Ausprägung dann aber auch nicht mehr verwirklichen. Sie sind dabei auf die Hilfe Dritter angewiesen. Der § 216 StGB verbietet bisher aber solche aktiven Tötungshandlungen und könnte damit zur Verletzung des Grundrechts führen.
Das BVerfG stellte jedenfalls klar, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben auch davor schützt, dass unterstützungsbereite Dritte durch ein strafrechtliches Verbot in einer Hilfestellung beschränkt werden. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB a.F. stützte das BVerfG maßgeblich darauf, dass die autonome Entscheidung nicht mehr geschützt, sondern unmöglich gemacht wurde. Für die Tötung auf Verlangen ergibt sich in den geschilderten Ausnahmekonstellationen die gleiche Problematik, weshalb der Senat zu Recht dazu „neigt“, dass die Urteilsgrundsätze auf § 216 StGB übertragbar sind, die Vorschrift in vergleichbarer Weise in das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingreift und daher partiell verfassungswidrig ist.
Die Strafbarkeit solcher aktiven Tötungen könnte daher im Ansinnen des „Insulin-Beschlusses“ künftig einer neuen Bewertung unterzogen werden. Wie der Senat selbst andeutet, ist eine verfassungskonforme Auslegung des § 216 StGB zu erwägen. Danach könnten „diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt“ (Rn. 23).
Neben einer solchen verfassungskonformen Auslegung ist aber ebenso eine Änderung der Vorschrift denkbar, für die allerdings der Gesetzgeber selbst zuständig wäre.
§ 216 StGB in der aktuellen parlamentarischen Debatte
Die parlamentarische Debatte dreht sich derweilen um drei interfraktionelle Gesetzesentwürfe, die sich einer Neuregelung der Suizidhilfe auf unterschiedliche Weise widmen.
Darunter befindet sich einerseits der Entwurf um den Abgeordneten Dr. Lars Castellucci (BT-Drs. 20/904), der als strengster Entwurf zu betrachten ist und § 217 StGB neu regeln will. Danach wird der ursprüngliche Wortlaut des alten Tatbestandes übernommen und um eine Ausnahmeregelung ergänzt. Von der Rechtswidrigkeit wird abgesehen, wenn eine suizidwillige Person handelt, die volljährig und einsichtsfähig ist, deren freiverantwortliche Entscheidung durch ein Beratungsgespräch mit einem geeigneten Facharzt abgesichert wurde und unter anderem ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat.
Daneben sieht der Entwurf um die Abgeordnete Renate Künast (BT-Drs. 20/2293) ein eigenes Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben vor, wonach die Suizidhilfe unter verschiedenen Voraussetzungen zulässig ist, gleichzeitig aber auch eine Strafvorschrift und Ordnungswidrigkeiten beinhaltet. Während dieser Entwurf zwischen Menschen in einer medizinischen Notlage und solchen unterscheidet, die aus anderen Gründen einen Suizid erwägen, nimmt der dritte Entwurf von Katrin Helling-Plahr (BT-Drs. 20/2332) eine solche Differenzierung nicht vor. Der vom Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach unterstützte Entwurf beinhaltet aber ebenfalls ein eigenständiges Gesetz zur Regelung der Suizidhilfe und erlaubt diese zum Beispiel unter den Voraussetzungen, dass eine freiverantwortliche Entscheidung vorliegt, die durch eine Beratung abgesichert wurde.
Die beiden letztgenannten Entwürfe sind damit insgesamt liberaler. Allerdings greift keiner der Entwürfe die Regelung des § 216 StGB auf. Dabei würde es sich im Rahmen der parlamentarischen Debatte anbieten, die Thematik der Sterbehilfe insgesamt (neu) zu regeln. Berücksichtigt wird eine verfassungskonforme Änderung des § 216 StGB lediglich in einem Entwurf aus der Rechtswissenschaft (AMHE-SterbehilfeG). Dieser nimmt sich nicht nur der Regelung der Suizidhilfe, des Behandlungsabbruchs und der indirekten Sterbehilfe an, sondern auch der Tötung auf Verlangen. Danach ist die aktive Sterbehilfe nicht rechtswidrig, wenn sie aufgrund eines ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens einer schwerstkranken Person durch einen Arzt/ eine Ärztin vorgenommen wird. Der Leidenszustand der/ des Betroffenen darf dabei nicht anders abwendbar sein, was von einer unabhängigen ärztlichen Person bestätigt werden muss. Zudem sind eine Beratung und eine Begutachtung der Freiverantwortlichkeit sowie eine Dokumentation vorzunehmen. Der Gedanke des Senats, dass solche besonderen Situationen vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden sollen, findet sich daher bereits in diesem Entwurf und ist aufgrund einer damit verbundenen erhöhten Rechtssicherheit zu begrüßen. Gleichwohl sollte eine Änderung nicht hinter diesen Anforderungen – deren konkrete Ausgestaltung diskutabel ist – zurückbleiben.
Wie geht es weiter?
Der Beschluss des BGH im „Insulin-Fall“ ist menschlich nachvollziehbar, die juristische Begründung aber höchst fragwürdig. Eine aktive Tötung kann nicht in eine straflose Suizidhilfe umgedeutet werden. Der Fall zeigt aber das Problem um § 216 StGB auf und sollte Anlass dazu geben, die Norm zu überdenken, damit Fälle wie dieser einem gerechten Ergebnis zugeführt werden können – und zwar mit einer überzeugenden Begründung. Auch wenn der Beschluss sicher vielfach kritisiert wird, weil die Argumentation fragwürdig und die Aufweichung der Strafbarkeit von aktiven Tötungshandlungen ungewollt ist, setzt sie den richtigen Anreiz. Die grundsätzliche Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen muss dabei zwar bestehen bleiben. Im Sinne des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben wäre aber eine Änderung der Vorschrift wünschenswert. Es bleibt abzuwarten, ob sich das BVerfG jemals mit der Verfassungsmäßigkeit des § 216 StGB zu beschäftigen hat oder aber der Gesetzgeber selbst tätig wird.
References
↑1 | S. Lindner, NStZ 2020, 505; Leitmeier, NStZ 2020, 508. |
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