Problem erkannt, Problem gebannt?
Zur Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Der Gesetzgeber soll das Unregelbare regeln. Jedenfalls partiell. Mit seiner Triage-Entscheidung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts der Legislative aufgegeben, Vorkehrungen zum Schutz vor Benachteiligungen Behinderter im Rahmen überlastungsbedingter intensivmedizinischer Behandlungstriagierungen zu treffen. Der Senat sieht – bereits jetzt – eine echte und reale Gefahr einer ‚Aussortierung‘ behinderter Menschen aufgrund der einschlägigen Fachverbandsempfehlungen. Diese sehen Auswahlentscheidungen im Rahmen einer sog. ex-ante-Triage – und nur diese ist nach herrschender, aber zu Recht bestrittener Auffassung de lege lata rechtskonform möglich – auf Grundlage der Prognose der klinischen Erfolgsaussichten, also der fallspezifischen Überlebenschancen vor. Komorbiditätsbedingte Verringerungen der Überlebenswahrscheinlichkeit können daher eine Triage zulasten der Erkrankten prinzipiell rechtfertigen, vorausgesetzt freilich, dass eine echte ex-ante-Kapazitätskonkurrenz vorliegt, also zwei oder mehr rettungsbedürftige Personen um einen Behandlungsplatz real-physisch vor Ort konkurrieren. Da nun viele Komorbiditäten, die zu einer ungünstigen Behandlungsprognose bei einer COVID-19-Erkrankung führen können, Behinderungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darstellen, besteht hier eine reale Benachteiligungsgefahr, der entgegenzuwirken der Gesetzgeber über die Schutzpflichtdimension des Benachteiligungsverbots verpflichtet sein soll.
Der Senat verkennt nicht, dass komorbiditätsbedingte Behandlungsprognosen als solche verfassungsrechtlich möglich sein müssen, andernfalls dem Behandler bei Kapazitätserschöpfung nur der Münzwurf bliebe. Diesem Dilemma versucht der Senat zu entgehen, indem er verlangt, die Komorbidität und die mit ihr verbundene Lebenserwartung/Überlebensprognose dürfe nicht als solche herangezogen werden, sie müsse sich vielmehr konkret in der „aktuell“ erkrankungsspezifischen, also auf die COVID-19-Erkrankung bezogenen Behandlungsprognose niederschlagen. Es darf also keine ‚Komorbiditäts-Guillotine‘ geben, so wie auch das Alter, das folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG, nicht als schematischer Auswahlfaktor dienen darf. Das Alter ist allerdings, das zeigen zahlreiche Statistiken, der aussagekräftigste Indikator für Krankheitsschwere und Behandlungsaussicht bei COVID-19, dies eventuell auch aus immunologischen Gründen, also wegen des Nachlassens der Abwehrkräfte im Alter, in erster Linie wohl aber infolge altersbedingter Krankheiten. Da nach einhelliger Auffassung chronifizierte Erkrankungen Behinderungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darstellen, besteht die vom Senat attestierte Benachteiligungsgefahr auch hier. Da nach geradezu einhelliger Ansicht auch altersgemäße Erkrankungen in den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG fallen, wird es allerdings in der Praxis kaum Triage-Entscheidungen geben können, die von vornherein aus dem Anwendungsbereich der Norm herausfallen. An der Leistungsfähigkeit der vom Senat vorgeschlagenen Differenzierung zwischen gleichsam behinderungsinternen, also auf die Grunderkrankung als solche bezogenen, und behinderungsexternen, mithin streng auf die COVID-Behandlungsprognose zu beziehenden (Über-)Lebenschancenbemessungen darf indes gezweifelt werden. Auf den ersten Blick verschiebt sich das Problem elegant von der – durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in die verfassungsrechtliche Tabuzone gezogenen – Komorbidität weg und hin zu der eigentlichen, der aktuellen Morbidität. Deren prognostische Bewertung ist indes, und das wird den Gesetzgeber definitorisch enorm herausfordern, mit der Grunderkrankung eng verbunden. Selten wird sich das eine von dem anderen sauber trennen lassen.
Sicher, die inzwischen berühmt-berüchtigte ‚Gebrechlichkeits‘-Skala ist als solche für die klinische Prognose ungeeignet und öffnet Diskriminierungen und Stereotypisierungen Tür und Tor. Von solchen evidenten, weil krass behandlungsunspezifischen Fällen abgesehen, bleibt das Grundproblem aber ungelöst: Vor allem altersspezifische, also dem fortgeschrittenen Lebensalter eines Patienten gemäße Grunderkrankungen sind in der Praxis triagerelevant. Die an sich wichtige Frage nach dem Umgang hiermit geht aber am Kern des Problems, welches sich mit Blick auf Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ergibt, vorbei. Dem spezifischen Schutzanliegen dieser Norm wird die Senatsentscheidung nicht vollends gerecht.
Ich habe kürzlich (DÖV 2021, S. 252 ff.) vorgeschlagen, die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in Triage-Fällen auf den Kernbereich der Norm zu beschränken. Bei nicht altersspezifischen Behinderungen könnte dann ein stärkerer Triage-Schutz gelten, der auch dann greift, wenn die COVID-Behandlungsaussichten (etwas) schlechter sind als bei einem – in diesem reduzierten Sinne – nicht behinderten Behandlungsplatzkonkurrenten. Begrenzend können hier Erwägungen zum Minimalnutzen wirken, also die Frage, ob eine Behandlung überhaupt noch einen signifikanten Nutzen bringen kann. Ist dies nicht der Fall, kann allerdings auch eine Behinderung im engeren Sinne, sofern sie sich in einer derart negativen Prognose niederschlägt, einen Behandlungsausschluss rechtfertigen. Ansonsten aber genießt die Behinderung im engeren Sinne einen besonderen, privilegierten Schutz. Die mit diesem Ansatz, der anlässlich der Senatsentscheidung zu bekräftigen ist, verbundene Hierarchisierung von Behinderungen, die im Normalfall des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, der auf Benachteiligungsabbau durch Partizipationsermöglichung gerichtet ist, nicht angängig wäre, erscheint im real-physischen Überlebenskontext sachgerecht, weil in ihr das historisch begründete telos der Norm liegt. Letztlich will Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG jene, die aufgrund von Merkmalen und Eigenschaften, welche von der Allgemeinheit nicht geteilt werden, besonders schützen vor Ausgrenzungen, Schlechterstellung oder, im schlimmsten Fall, real-physischer Gefährdung. Das Alter ist (potenziell) ubiquitärer Natur, so sind es dann auch altersbedingte Erkrankungen. Die Behinderung ist hingegen nicht ubiquitärer Natur, der besondere Schutz der Verfassung wirkt allein aus diesem Grund asymmetrisch. Diese Asymmetrie bildet den Kern des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, was im Partizipationskontext durch die extensive Auslegung des Behinderungsbegriffs mit Blick auf Altersleiden relativiert werden kann und womöglich sogar muss. Bei der Triage geht es aber allein um das physische Überleben, dieser Umstand muss die Norm des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auf ihren Kerngehalt zurückwerfen.
Dies ist kein Plädoyer für Altersdiskriminierungen im Triage-Kontext. Weder eine ‚Altersguillotine‘ noch eine schematische Anknüpfung an das Alter wären verfassungsrechtlich haltbar. Dies ist ein Plädoyer für behandlungsprognostische Triage-Entscheidungen unter Ausschluss von Negativprognosen wegen der Behinderung im engeren Sinne. Für die Triage-Probleme außerhalb des – so begrenzten – Anwendungsbereichs des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG bietet die Senatsentscheidung brauchbare Kriterien. Zum Schutze Behinderter in Triage-Zeiten trägt sie nur wenig bei.
Das geforderte Gesetz ist m.E. lediglich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen/ Anwälte für Medizinrecht. Denn die Angehörigen von Behinderten, welche im Rahmen der Anwendung von Triage-Entscheidung nicht zuerst behandelt wurden, würden wahrscheinlich den Klageweg bzw. Rechtsweg beschreiten. Nach meiner Kenntnis geht es bei Triage weniger um den Schutz von Behinderten. Auch das Alter eines Patienten spielt dabei keine Rolle. Es geht vielmehr darum, Patienten mit größtmöglichen Überlebenschancen zuerst zu behandeln. Nicht mehr und nicht weniger. Hier kann nur der Arzt vor Ort entscheiden. Man sollte hier nicht verkomplizieren. Ein neues Gesetz ist nicht erforderlich. Triage ist hinlänglich geregelt. Es wäre schlimm, wenn zukünftig ein Patient mit den größten Chancen zu überleben nicht mehr zuerst behandelt werden darf, weil der Schutz eines behinderten Menschen höher eingestuft werden muss. Hat das Gericht hier die Verfassung nicht fehlinterpretiert? Bei intensivmedizinischer Behandlung geht es doch ausschließlich um die Beurteilung des Gesundheitszustands eines jeden bzw. aller Patienten und der Überlebenschancen. Kann dies tatsächlich durch ein Gerichtsurteil bzw. ein Gesetz geregelt werden? Geht es da nicht um Überregulierung? Können Juristen in diesen Fällen urteilen? Sollte man diese Einschätzung nicht einem Mediziner überlassen?