Pushbacks? Egal, wir machen das jetzt so
Vorschlag der EU-Kommission zur Bekämpfung irregulärer Weiterwanderungen im Schengen-Raum
„Pushback“ ist zum Unwort des Jahres 2021 gekürt worden. Das Wort ist eher unschuldig, die Tat ist das Unding: ein menschenfeindlicher Prozess, so die Jury, der den Menschen auf der Flucht die Möglichkeit nimmt, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen. Ob das Unwort die Untat nun, wie die Jury meint, beschönigt oder nicht – es ist jedenfalls eine Untat, Menschen wegzuschieben, ohne auf Antrag, zu dem Gelegenheit zu geben ist, substantiell zu prüfen, ob Schutzbedarfe entgegenstehen, und ohne effektiven Rechtsschutz. Um den Rechtsschutz zu wahren, genügt es nicht, wenn Schutzbedarfe post factum vor Gericht gebracht werden können. Erforderlich ist ein Bleiberecht bis zu einer (eil-)gerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit des Transfers, beziehungsweise bis zum ungenutzten Ablauf einer angemessenen Antragsfrist. Wer das nicht einhält, garantiert das Non-Refoulement-Prinzip – Kern des Flüchtlingsschutzes, internationales ius cogens, absolut und effektiv einzuhaltender Bestandteil von Grund- und Menschenrechten auf nationaler, supranationaler und internationaler Ebene – nur auf dem Papier. Die EU-Kommission hat jetzt einen Änderungsvorschlag zum Schengener Grenzkodex vorgelegt, der das ignoriert: Sie schlägt Transfers ohne effektiven Rechtsschutz vor.
Seit der Krise 2015/16 besteht ein wachsendes politisches Interesse der EU und ihrer Mitgliedstaaten, an die genannten Garantien nicht mehr gebunden zu sein. Das betrifft vor allem die europäischen Außengrenzen, verstärkt dort, wo Nachbarstaaten (zuletzt Belarus) Europa unter Druck setzen, indem sie Schutzsuchende an die europäischen Grenzen leiten. Betroffen sind aber auch die Binnengrenzen: Viele Mitgliedstaaten führen seit Jahren entgegen Schengen-Recht Binnengrenzkontrollen durch, darunter Deutschland. Zweck der deutschen Kontrollen ist auch, aus bestimmten Ersteinreisestaaten ankommende Asylsuchende am Dublin-Recht vorbei umgehend zurückzuführen. Ein Präzedenzfall zu diesen „Seehofer-Pushbacks“ ist beim EGMR anhängig.
Die Rechtsprechung von EGMR und EuGH
EGMR und EuGH haben in zahlreichen Entscheidungen zu Rückführungs- und Grenzschutzpraktiken, Dublin-Überstellungen, Auslieferungen und Abschiebungen im Rahmen der Drittstaatenkonzepte der Asylverfahrensrichtlinieklargestellt, dass zwangsweise Verbringungen in einen anderen Staat ohne Verfahrensweisen, die das Refoulement-Verbot nebst Rechtsschutz sichern, unzulässig sind. Ob die betroffene Person sich bereits tief im Inland oder noch im Transit befindet, ist irrelevant; auch ein Einreiseverweigerungsbescheid macht keinen Unterschied. Es kommt auf den tatsächlichen Vorgang des Wegschiebens in einen anderen Staat an (N.D. and N.T. v. Spain, Rn. 184-188). Der lässt sich nicht wegdefinieren oder der Jurisdiktion entziehen, indem man einer de facto betroffenen und völkerrechtlich im Inland befindlichen Person mitteilt, sie befinde sich nicht im Inland.
Wer also Schutzanliegen nicht zur Kenntnis nimmt, nicht substantiell prüft oder die Behörden entscheiden lässt, wer erst den Rechtsschutz abwarten darf und wer sofort weggeschoben wird (M.K. and others v. Poland, Rn. 143), setzt sich ins Unrecht. Dabei muss das Schutzanliegen nicht mal ein Asylbegehren sein oder überhaupt mit den Verhältnissen im Zielstaat zu tun haben. Es genügt jeder hinreichend gravierende Abschiebeschutzbedarf. All das gilt ungeachtet der gerne relativierungshalber herangezogenen Entscheidung N.D. and N.T. des EGMR zu den spanischen Pushbacks in Melilla: Der EGMR hat eine voraussetzungsvolle Ausnahme in das Kollektivausweisungsverbot hineingelesen, die Pflicht zur Sicherung des Non-Refoulements blieb explizit unangetastet. Spanien hatte schlicht Glück, dass unter all den ungeprüft und eilrechtsschutzlos zurückgeschobenen Personen gerade die beiden Beschwerdeführer im Nachhinein keinen Abschiebeschutzbedarf plausibel machen konnten. Die Entscheidung ist kein Freibrief, mit Menschen Russisch Roulette zu spielen, in der Erwartung, dass diejenigen, bei denen eine Kugel in der Trommel war, es schon nicht vor Gericht schaffen werden.
In rechtsstaatlich stabileren Zeiten konnte man damit rechnen, dass die eindeutige und gerichtlich bestätigte Rechtswidrigkeit politisch erwünschter Verhaltensweisen die Verantwortlichen dazu veranlasst, das Verhalten einzustellen und sich nach anderen Wegen zur Verfolgung ihrer Ziele umzusehen. So hatten EGMR und EuGH 2011 klargestellt, dass auch innerhalb Europas Menschen nicht einfach so von Staat zu Staat geschoben werden dürfen: Man muss wirklich hinschauen, statt in „gegenseitigem Vertrauen“ zu fingieren, dass die Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC schon genügen werden. Die Praxis der Dublin-Transfers ohne effektiven Rechtsschutz wurde daraufhin aufgegeben, obwohl das System dadurch komplizierter und aufwendiger wurde.
In einem Klima des Verfalls innereuropäischer Reform- und Kompromissfähigkeiten sowie eines schwindenden Grundkonsenses in Fragen der Rechtsstaatlichkeit scheint das Pushback-Verbot Teilen Europas mittlerweile derart lästig zu sein, dass die genannten Rechtsgarantien verbreitet schlicht ignoriert und prekäre Praktiken nach Kräften verschleiert werden. Rufe danach, die „resoluten Maßnahmen“ europaweit zu legalisieren, werden lauter. Dabei erschließt sich nicht, wie das bei einer menschenrechtlich absoluten und notstandsfesten Garantie wie dem Refoulement-Verbot gehen soll.
Die „Legalisierung“ von Pushbacks
Die EU-Kommission steht unter Druck, Reformvorschläge vorzulegen: Zum einen sollten sie eine Realisierungschance haben, zum anderen dürfen sie nicht primärrechtswidrig sein. Auf ihrer Suche nach der Quadratur des Kreises hat die Kommission nach einem Sofortmaßnahmen-Vorschlag zur Belarus-Situation im Dezember 2021 zwei neue Legislativ-Vorschläge vorgelegt. In Bezug auf die Außengrenzen eine Instrumentalisierungsverordnung, die es erlaubt, Substandardverfahren im Grenzraum im Verhältnis zum Migrations- und Asylpaket noch weiter auszudehnen. Auch die Aufnahmestandards würden nochmals gesenkt. Die Rückführungen sollen im Instrumentalisierungsfall dem nationalen Recht unterliegen, was den Schutz der Betroffenen zusätzlich schwächen dürfte.
Für die Binnengrenzen schlägt die Kommission eine Anpassung des Schengener Grenzkodex vor. Explizit zum Zweck der Eindämmung von „unauthorized movements“ soll es eine neue, ganz einfache Transfermöglichkeit für Personen geben, die nach irregulärer Ankunft in Grenznähe aufgegriffen und von den Behörden als nicht bleibeberechtigt eingeschätzt werden: umgehendes Zurückschieben, spätestens innerhalb von 24 Stunden. Verfahrensgarantien zum effektiven Schutz von Personen, die den anderen Mitgliedstaat aus Not verlassen haben? Fehlanzeige. Rechtsschutz gegen die behördliche Einschätzung der Lage kann gesucht werden, ein Suspensiveffekt ist aber ausgeschlossen (Art. 23a II). Nach aktuellem Schengen-Recht gilt das zwar auch, wohlweislich aber nur für Einreiseverweigerungen, nicht für Rückschiebungsmaßnahmen. Die Betroffenen erhalten ein ausgefülltes Entscheidungsformular nebst schriftlichem Hinweis zu Kontaktstellen, die über Rechtsberater informieren. Dort kann man ex post nachfragen, was das denn jetzt war: ein „legalisierter“ Pushback?
Ist der Vorschlag so zu verstehen, dass wenigstens irregulär Ankommende, die einen Asylantrag stellen wollen, von den Schengen-Transfers auszunehmen sind? Dass die Grenzschützer die Bleiberechtsfrage beispielsweise anhand von Registrierungseinträgen eines anderen Mitgliedstaats in Eurodac einschätzen sollen (S. 8), spricht eher dafür, dass gerade auch Asylsuchende, die aus einem für sie zuständigen Mitgliedstaat weitergewandert sind, umstandslos zurückgeschoben werden sollen. Es wäre sonst auch nicht ersichtlich, was der Vorschlag in Sachen „unauthorized movements“ ausrichten könnte. Das hauptsächlich beklagte Phänomen sind nun mal die irregulären Weiterwanderungen im europäischen Asylsystem. Rhetorisch ist die bekanntlich keineswegs nur theoretische Möglichkeit, dass jemand mit der Weiterwanderung eine Flucht fortsetzt, die im andern Mitgliedstaat noch nicht an ein erträgliches Ziel gekommen war, schon lange aus dem Blick geraten: Die Weiterwanderer gelten durchweg als “irreguläre Migranten“. Soll jetzt vor dem Zugang zum anspruchsvolleren Asyl- und Rücküberstellungsverfahren eine Weiche eingebaut werden, über die Binnen-Grenzschützer GEAS-Weiterwanderer ins rechtsschutzlose Schengen-Transferverfahren abzweigen dürfen?
Alternative Law
In jedem Fall schlägt die Kommission hier erstmals ein Verfahren vor, das die Mindestrechtsgarantien für zwangsweise Transfers in andere Staaten vermissen lässt. Argumente zur Vereinbarkeit des Vorschlags mit der oben genannten Rechtsprechung finden sich in den Erläuterungen der Kommission nicht. Verständlich: Lässt man einen Versuchsballon zur Legalisierung von Pushbacks steigen, schweigt man dazu besser. In Anlehnung an die alternative facts im Streit um die Publikumszahlen bei Trumps Inauguration habe ich solche Ansätze am Beispiel der „Seehofer-Pushbacks“ als „alternative law“ bezeichnet. Alternative law entspringt der Haltung: Rechtswidrig? Egal, wir machen das jetzt so. Die EU-Kommission ist gerade in Zeiten gefährdeter Rechtsstaatlichkeit schlecht beraten, den Konsens auf solchen Wegen zu suchen.